Tagebuch des Diebes (Jean Genet)

genet tagebuch

Merlin Verlag, 2019 (2. Auflage)
Originaltitel: Journal du Voleur (1948)
Neuübersetzung von Gerhard Hock
Mit einem Nachwort von Arnold Stadler und einer editorischen Notiz von Friedrich Flemming
Leinen, 328 Seiten
€ 26,00 [D] | € 26,80 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-87536-213-8

Genre: Belletristik


Rezension

Jean Genet erzählt in Tagebuch des Diebes von seiner Zeit, in der er als Armer und Dieb dem Hunger und der Verachtung durch andere Menschen ausgesetzt ist. Anfangs lebt er in Erziehungsanstalten, dann beim Militär, wo er stiehlt und desertiert. Er kommt auf seinem Weg durch wenigstens ein halbes Dutzend europäische Länder. In Barcelona existiert er am Rande der Gesellschaft in Slums. Prostitution, Diebstahl, Mord sind Elemente seines Alltags. Er versucht sich im amoralischen Gestus als Verbrecher. Er hat wechselnde Liebhaber, seine große Liebe wird der Serbe Stilitano, dem eine Hand fehlt. Sie verlieren einander aus den Augen, treffen sich irgendwann in Antwerpen wieder.

Genet bezeichnet sein Werk als Tagebuch. Ein Tagebuch arbeitet mit Kopfdaten, zu denen zeitliche Angaben als die gebräuchlichsten gehören, und wird tageweise, also chronologisch geschrieben. Ihm ist etwas Fragmentarisches eigen. Genet springt zwischen Orten und Zeiten hin und her, macht Andeutungen und verweist auf später für weitere Ausführungen. Und wie verhält es sich mit dem autobiographischen Moment? Genet schreibt am Schluss seines Tagebuchs, dass ihn die Poesie zur Heroisierung der Inhalte gebracht habe. Einmal betrachtet er ein Foto von sich, imaginiert sich als eine Figur aus einem Roman von Dostojewski, ohne diesen namentlich zu nennen.

Das Tagebuch des Diebes ist ein Portal in eine uns fremde Welt, bildreiche, intensive Poesie, zugleich obszön. Der gesamte Text wirkt, als errichte er eine inverse Architektur katholischer Ikonografie. Dazu gehören drei Kardinaltugenden, für Genet Diebstahl und Verrat, die ihn bei der französischen Gestapo faszinieren, sowie Feigheit und Angst. Der Text hat etwas von einer Beichte, in welcher der Beichtende herauszufinden versucht, wer er ist. Für die Hauptfigur ist das Gegenüber Voraussetzung für die Selbstentdeckung

Kriminelle Handlungen werden zu einem Ritual mit religiösem Charakter, die Inversionen werden besonders deutlich, wenn das Gefängnis als ein Ort der Freiheit verstanden wird. Wie ein königlicher Palast symbolisiert das Gefängnis das soziale Gebilde, welches es hervorgebracht hat. Das Gefängnis scheint für ihn geschaffen, wie er für das Gefängnis, das Bagno, die Strafanstalt für zur Zwangsarbeit Verurteilte. Er nennt Guyana als einen – nicht geografischen - Sehnsuchtsort.

Genet schreibt über gelehrige Körper in einem System der Disziplin und Bestrafung. Der Körper ist Objekt und Ziel der Macht, des sexuellen Missbrauchs, der sexuellen Demütigung, der Eingliederung in die Strafkolonie des Lebens. In Kattowitz werden Genet und sein Freund Michaelis wegen Handels mit Falschgeld verhaftet. Die Polizisten betreiben sexuell motivierte Demütigung im Verbund mit menschlichen Ausscheidungen als Technik zur Unterwerfung des Körpers, der Kontrolle und Steuerung des Individuums.

Der Körper befindet sich in ständiger Bewegung, nicht nur im Äußeren, wie dem grenzüberschreitenden Vagabundieren des Erzählers. Kontinuierliche Bewegung scheint eine der Voraussetzungen für das Überleben, Prostitution und Verbrechen scheinen Instrumente für dieses Überleben zu sein. Die Frage, was Liebe ist, ob Liebe jemandem gehört, welche Bedeutung Verletzungen dabei haben, kreisen um die leidenschaftliche Verbindung aus Liebe und Verbrechen. Beides lässt sich messen als Entfernung von der Welt und den bürgerlichen Regeln.

Tagebuch des Diebes enthält Szenen, in denen die Selbstversicherung oder Bestätigung eigener Männlichkeit über physische oder psychische Gewalt vorgenommen wird. Gelegentlich misslingt dies, so in wenigstens zwei Fällen Stilitano. Dessen Auftreten funktioniert dann nicht und wird aufgelöst als Schauspiel. Genet scheint Männer zu mögen, denen dies widerfährt. Einmal sagt er, Stilitano würde den Stilitano spielen, dessen Bild dem des idealen Helden entspricht.

Genet ist inspiriert durch Jean-Paul Sartres existenzialistisches Schlüsselwerk Das Sein und das Nichts. Sartres Diktum, der Mensch sei zur Freiheit verurteilt, steht in enger Beziehung zur in multipler Weise invertierten katholischen Ikonografie in Tagebuch des Diebes. Genet hat das Buch Sartre gewidmet.


Fazit

Jean Genets Tagebuch des Diebes ist ein herausragendes Stück autobiografischer Fiktion, darin der Autor die Würde im Unwürdigen sucht. Dabei verliert er sich gelegentlich in seinem Text, reflektiert über seine Rolle als Autor, einmal des Textes, besonders aber des eigenen Lebens. Genet entwickelt in seinem Tagebuch eine reichhaltige Liturgie der Kinder des Unglücks, die Exerzitien und Gebote dieser Liturgie muten wie eine Adaption der katholischen Liturgie an.


Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5