10 Minutes 38 Seconds in this Strange World (Elif Shafak)

Penguin Viking (2019)
Taschenbuch
312 Seiten, 9,99 EUR
978-0-241-29387-4

Genre: Belletristik


Klappentext

What if, in the moment of death, the human mind continues to work for a few more precious minutes? Ten more minutes, thirty-eight seconds exactly …

For Leila, each minute after her death brings a sensuous memory: the tasted of spiced goat stew, the goat sacrificed by her father to celebrate the long-awaited birth of a son; the sight of bubbling vats of lemon and sugar which the women use o wax their legs while the men attend mosque; the scent of cardamom coffee that Leila shares with a handsome student in the brothel where she works. Each memory, too, recalls the friends she made at each key moment in her life – friends who are now desperately trying to find her ….


Rezension

Leila ist tot – ermordet –, doch ihr Gehirn ist noch nicht zur Ruhe gekommen. In den etwa zehneinhalb Minuten, bevor ihr Bewusstsein endgültig erlischt, steigen Erinnerungen an die Oberfläche. Erinnerungen an ihre Kindheit in einem kleinen Dorf, an die Lügen und Tragik, die sie von Geburt an begleitet haben, aber auch an einen besten Freund, der ihr ein Leben lang erhalten geblieben ist. Sie erinnert sich auch an andere Schlüsselmomente in ihrem Leben – ihre Flucht nach Istanbul, als sie nicht länger bei ihrer Familie bleiben kann, ihre Begegnungen mit Menschen, die ihr ans Herz wachsen sollen, ihre erste und eine große Liebe. Inspiriert von Sinneseindrücken wandert ihr Geist zurück zu Erfahrungen von Gewalt und Verlust, aber auch von Liebe und Freundschaft. Einige zentrale Informationen erhalten Leser*innen sehr früh, immerhin werden vielleicht zwei Drittel des Buches ausschließlich in der Rückschau erzählt, aber es kommt trotzdem viel Spannung auf.

Leila steht im Mittelpunkt der Geschichte, aber immer wieder wechselt die Erzählung in die Perspektive anderer Figuren, erzählt von ihrer Mutter, aber vor allem von ihren fünf engsten FreundInnen – wir erfahren von ihren Vorgeschichten, bevor sich ihr Pfad mit dem Leilas gekreuzt hat, und schließlich werden sie zu den zentralen Akteuren des Buches. Die mitfühlende, rebellische Leila hat sehr im Verlauf ihres Lebens sehr verschiedene Menschen angezogen – die willensstarke trans Frau Nalan, die zurückhaltende Jameela, den schwer an den Erwartungen anderer Menschen tragenden Sinan, die religiöse Zeynab, den politisch aktiven Künstler D/Ali und die melancholische Sängerin Humeyra. Alle diese Menschen sind auf ihre Weise Ausgestoßene, leben ein prekäres Leben in einer Gesellschaft, die sie verachtet. Selbst Sinans respektable Existenz hängt davon ab, dass er einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit verleugnet. Leilas Freunde geraten so oft aneinander, wie man es bei so verschiedenen Persönlichkeiten und Ansichten erwarten würde, aber das ändert nichts daran, wie verbunden sie einander sind.

„10 Minutes 38 Seconds“ beleuchtet Momente aus mehr aus 40 Jahren und zeigt mit wenigen Worten die großen Entwicklungen, welche die Figuren in dieser Zeit durchlaufen haben und die zentralen Erinnerungen, die sie ein Leben lang begleiten. Shafak erweckt nicht nur Figuren (außer vielleicht Jameela, die gegenüber den einprägsameren anderen Figuren etwas in den Hintergrund tritt), sondern auch Orte zum Leben, insbesondere Istanbul mit seinen vielen Gesichtern, und geht auf die Beziehung zwischen ihnen und ihren Bewohnern ein. Das Buch war wahrscheinlich von Anfang an für ein internationales Publikum gedacht, denn es sind Erklärungen für lokale Traditionen und politische Kontexte eingeflochten.

Der Fokus des Romans liegt gezielt auf denjenigen, die gerne übersehen werden: Sexarbeiter*innen, Menschen mit Behinderungen, Opfer sexualisierter Gewalt und politischer Unterdrückung, Menschen mit Medikamentenabhängigkeit oder psychischen Problemen, und transportiert in der Abbildung von deren Erfahrungen viel Gesellschaftskritik. Sie werden hier nicht von außen betrachtet, sondern es wird aus ihrer Perspektive erzählt, und auch wenn Leser*innen eher schlaglichtartig Einblick in ihre Leben erhalten, reichen diese Eindrücke, um das Bild mehrschichtiger, dynamischer Figuren zu gewinnen.

Obwohl sich das Buch vieler schwieriger Themen annimmt und alle handelnden Figuren schmerzhafte Erfahrungen machen und einer ungewissen Zukunft entgegensehen, sofern sie denn überhaupt eine haben, ist „10 Minutes 38 Seconds in This Strange World“ kein verbittertes, deprimierendes Buch. Es transportiert bei aller Wut über bestehende Ungerechtigkeiten auch viel Zuneigung für die Figuren, zeigt die Freundschaft zwischen ihnen und auch Momente der Selbstbehauptung.


Fazit

In dieser in eine ungewöhnliche Rahmenerzählung eingebetteten Geschichte zeichnet Elif Shafak mit viel Präzision und Mitgefühl Figuren, Orte und Bilder, die sich Leser*innen ins Gedächtnis schreiben.


Pro und Contra

+ sympathische, lebendige Figuren
+ diverser Cast
+ originelle Erzählweise
+ einprägsame Bilder
+ schöne Sprache
+ Gesellschaftskritik

Wertung: 

Handlung: 5/5
Figuren: 5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis-Leistung: 4/5