Ich bin Gideon (Tamsyn Muir)

Heyne (April 2020)
Aus dem Amerikanischen von Kirsten Borchardt
Originaltitel: Gideon the Ninth (Book 1 Ninth House/The Locked Tomb)
Taschenbuch, 576 Seiten, 14,99 EUR
ISBN: 978-3-453-42373-2

Genre: Science Fantasy / Dark Fantasy / Nekropunk


Klappentext

Gideon Nav reicht es. Sie hat genug von dem düsteren Planeten voller verknöcherter Nonnen, starrer Regeln und schwarzer Klamotten, auf dem sie aufgewachsen ist. Genug von einem Leben als Dienerin des Neunten Hauses. Vor allem aber hat sie genug von Harrowhark Nonagesimus, der Erbin eben jenes Hauses, die Gideon mit ihrer herrischen Art das Leben schwer macht. Also beschließt Gideon, von diesem gottverlassenen Ort zu verschwinden – aber das ist leichter gesagt als getan ...


Rezension

Diverse Fluchtversuche sind bereits gescheitert. Doch dieses Mal hat Gideon Nav alles bis ins kleinste Detail geplant. Entsprechend selbstsicher hockt sie auf dem Landeplatz und wartet auf ihr Shuttle, das sie endlich von dem verdammten Planeten runterbringen wird. Das Leben als Dienerin des Neunten Hauses ist entbehrungsreich und von grausamen Ritualen und Lügen bestimmt. Zu allem Übel hasst sie die Ehrwürdige Tochter, Harrowhark Nonagesismus, aus tiefstem Herzen – was auf Gegenseitigkeit beruht. Ganz gleich, was Gideon alles versucht hat, Harrow hat ihr immer wieder die Tour vermasselt. So auch dieses Mal. Der Shuttleflug fällt aus. Stattdessen hat Gideon die zweifelhafte Ehre, als Kavalierin die Nekromantin zum verlassenen Planeten der Ersten zu begleiten. Es geht um nichts Geringeres als das Fortbestehen und die Erneuerung des Neunten Hauses …

“Ich bin Gideon“ ist der Debütroman vom Tamsyn Muir und hat prompt eine Nominierung für den Hugo Award erhalten. Völlig zu Recht, denn dieser Auftaktband hat es wirklich in sich und verlangt nach starken Nerven. Zunächst sieht alles nach Schema F aus, wo junge Anwärter Prüfungen bestehen müssen und gegeneinander antreten. Doch bei Nekromanten ist alles ein wenig anders. Die Adepten werden in eine Palastruine gesperrt, wo es nur eine Regel zu befolgen gilt: Türen, die verschlossen sind, dürfen nur mit Erlaubnis geöffnet werden. Es beginnt ein Wetteifern um Schlüssel und nekromantische Theoreme, die sich in vergessenen Räumen der uralten Ruine verbergen. In den Laboren unter dem Palast lauern zudem grauenhafte Kreaturen. Während jeder noch sein eigenes Spiel spielt, häufen sich die Toten und bald geht es auch für Gideon und Harrow ums nackte Überleben.

Gideon Nav ist eine herrlich derbe, sarkastische und leidenschaftliche Protagonistin, die meisterhaft das Schwert schwingt und mit ihrem Gefluche bestens unterhält. Ihr Schandmaul wird ihr so manches Mal zum Verhängnis, doch es bricht auch in den richtigen Momenten das Eis. Ihr Wunsch, das Neunte Haus hinter sich zu lassen, resultiert nicht nur aus Angst und ihren schlechten Erfahrungen dort. Gideon sehnt sich schlicht danach, endlich richtig zu leben und vor allem zu kämpfen, weshalb sie sich auch als Kavalierin einspannen lässt. Spannung zieht der Roman insbesondere aus der Beziehung zwischen Gideon und Harrow, die tiefer geht als ihr zur Schau gestellter Hass. Beide teilen ein schreckliches Geheimnis, das sie jeweils anders interpretieren, was zu Missverständnissen führt. Bei der Ergründung dieses Geheimnisses erwartet die Leserschaft so manche (böse) Überraschung. Harrow wirkt als Knochenmagierin kalt und unnahbar und wird von Gideon als boshaft und durchtrieben beschrieben. Doch die Kavalierin bewundert auch das Talent und die Intelligenz ihrer Nekromantin und wo Gideon mit dem Kopf durch die Wand will, findet Harrow meist eine elegantere Lösung.

Wer eine klassische Liebesgeschichte erwartet, wird enttäuscht sein, wobei das Verhältnis von Gideon und Harrow sehr viel komplexer ist. Trotzdem gibt es so etwas wie Romantik, wenn auch eine recht bizarre Variante davon. Doch gerade weil alles so anders ist, als man erwartet, treffen die leisen Momente mitten ins Herz. Auch wenn Gideon in innigen Momenten Worte wie „Miststück“ raushaut, wirkt nichts daran lächerlich. Da sie dazu erpresst wurde, Harrows Kavalierin zu werden, ist ihr Wissen über ihre Aufgabe und über die Nekromanten natürlich gering. Wie sie müssen auch die Leser nach und nach herausfinden, wem man trauen kann und wem nicht. Die anderen sieben Nekromant-Kavalier-Gespanne sind allesamt höchst unterschiedliche, extreme Charaktere. Keiner von ihnen ist wirklich vertrauenswürdig, jeder kämpft um seinen eigenen Vorteil, doch es werden auch unerwartete Bündnisse geschmiedet.

Tamsyn Muir gelingt es, ihre Leserschaft immer wieder aufs Glatteis zu führen und zu überraschen. Auch wenn sprichwörtlich die Fetzen fliegen und Blut in Strömen fließt, kann man sich nicht abwenden. Jeder Nekromant verfügt dabei über seine eigenen Techniken. Während Harrow aus Knochen Dinge und Monster erschaffen kann, zaubern andere mit Leichen, Blut oder der Lebensenergie ihres Kavaliers. Nichts an dieser Magie ist spielerisch und leicht, sie verlangt den Nekromanten alles ab und so manches Mal will sich einem der Magen umdrehen bei den Bildern, die die Autorin heraufbeschwört. Das Science-Fiction-Setting harmoniert mit der düsteren Fantasy wunderbar, auch wenn man leider nur einen kleinen Teil dieses finsteren Universums sieht. Auch hätte Tamsyn Muir die SF-Elemente detailreicher ausarbeiten können, doch diese Kritik hat man im Angesicht des nervenaufreibenden, spektakulären Finales längst wieder vergessen.

Warum Heyne den Originaltitel „Gideon the Ninth“ mit „Ich bin Gideon“ übersetzt, erscheint einem schleierhaft. „Gideon die Neunte“ wäre doch der perfekte, viel passendere Titel gewesen. Auch das tolle Originalcover wurde abgeändert und die Skelette darauf gestrichen. Schade, aber immerhin sieht man Gideon in ihrer ganzen Pracht – und ja, sie ist wirklich gut getroffen.


Fazit

”Ich bin Gideon” ist absolut finstere, brutal atmosphärische, mitreißende und originelle Science Fantasy mit einer großartigen Protagonistin, die streitet, flucht, siegt und scheitert. Schwertkämpferin Gideon wird durch die kalte, distanzierte Nekromantin Harrow perfekt ergänzt. Derber Humor, allgegenwärtiges Misstrauen, gruselige Geheimnisse und spektakuläre Kämpfe mit tonnenweise Knochenmasse machen diesen Roman zu einem einzigartigen, bizarren Lesegenuss.


Pro und Contra

+ Gideon ist derb, leidenschaftlich und wahnsinnig sympathisch
+ Harrow ist ihr eiskalter, sehr intelligenter und bedrohlicher Gegenpart
+ diverse, atmosphärische und herrlich dunkle Science Fantasy
+ sehr unterschiedliche Nebencharaktere, denen man allesamt nicht trauen kann
+ jede Menge finsterer Geheimnisse und grausiger Kreaturen
+ verschiedenste Formen der Nekromantie
+ sehr unterhaltsam und originell geschrieben (die Dialoge!)
+ spektakuläres, nervenaufreibendes Finale
+ hat schlicht und einfach das sagenumwobene „gewisse Etwas“

Wertungsterne5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Ich bin Harrow"

Tags: Space Opera, Nekropunk, Tamsyn Muir, Space Fantasy, SF-Autorinnen, Science Fantasy, queere Figuren, Nekromantie, Enemies to Lovers