Das Tor (Basma Abdel Aziz)

Heyne (April 2020)
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
Originaltitel: (The Queue)
Originalverlag: Dar Altanweer
Paperback, 288 Seiten, 14,99 EUR

ISBN: 978-3-453-32046-8

Genre: Dystopie


Klappentext

Ein nicht näher benanntes Land im Nahen Osten: Seit der Niederschlagung der Revolution brauchen die Bürger für jede noch so kleine Kleinigkeit in ihrem Leben – sei es die Überweisung zum Arzt oder die Erlaubnis, Brot zu kaufen – die Genehmigung des Staates. Um die zu erhalten, müssen sie sich vor einem riesigen Tor anstellen, das angeblich jeden Tag nur einer gewissen Anzahl an Anträgen stattgibt. In Wirklichkeit aber öffnet sich das Tor niemals, und die Schlange der Menschen, die in der glühenden Hitze warten, wird länger und länger, ihre Verzweiflung immer größer. Und doch will keiner von ihnen die Hoffnung aufgeben, dass das Tor eines Tages aufgehen wird …


Rezension

In einem fiktiven arabischen Land wurde eine Revolution niedergeschlagen. Es gab Tote und Verletzte, auch solche, die von den Sicherheitskräften getötet oder verletzt wurden. Doch der Staat setzt alles daran, diese „schändlichen Ereignisse“ unter den Teppich zu kehren und die Wahrheit zu verdrehen. Eine Konsequenz ist das Auftauchen eines Tores, das die Bürger nun aufsuchen müssen, um sich beispielsweise ihre wahre Staatbürgerschaft bestätigen zu lassen, damit sie ihren Beruf weiter ausüben dürfen. Oder auch um eine Genehmigung für das Entfernen einer Kugel einzuholen, so wie Yahya Gad al-Rabb Said, der bei den schändlichen Ereignissen zwischen die Fronten geriet und nun eine Kugel im Bauch stecken hat. Da im Militärkrankenhaus seltsame Dinge vor sich gehen und die Verletzungen vertuscht werden, wendet sich Yahya an einen anderen Arzt, der ihn jedoch erst operiert, wenn er eine Genehmigung vom Tor erhält. Also stellt sich Yahya in die täglich wachsende Schlange vor dem Tor, das sich nicht mehr öffnet. Trotzdem hoffen die Wartenden darauf, täglich machen neue Gerüchte die Runde, dass das Tor aufgehen wird …

„Die Wartenden waren schließlich keine Dummköpfe gewesen, als sie mit ihren Anträgen hierhergekommen waren, unter ihnen gab es Handwerker und Arbeiter, Junge und Alte, Frauen und Männer; keine einzige gesellschaftliche Schicht fehlte, und sogar die Ärmsten der Armen waren hier, ohne durch eine Mauer oder eine Barriere von den Wohlhabenden getrennt zu sein. Sie ähnelten sich alle: die gleichen Blicke und der gleiche langsame Gang, der allen gemein war. Die natürlichen Unterschiede im Verhalten hatten sich verflüchtigt, als hätten sie begonnen, in der gleichen Art und Weise zu denken.“ (Seite 121)

Dass sich „Das Tor“ auf den arabischen Frühling und die Ereignisse in Ägypten bezieht, ist nach wenigen Seiten offensichtlich. Basma Abdel Aziz erzählt vom Scheitern der Revolution in einer Dystopie, die gnadenlos aufzeigt, mit welchen Methoden ein Staat seine Bürger unter seine Kontrolle zwingt. Dazu braucht es keine weitere Waffengewalt, denn diese würde nur einen neuen Aufstand zur Folge haben. Stattdessen wurde eine irrsinnige Bürokratie erschaffen, in der man sich selbst für das Brotkaufen eine Erlaubnis holen muss. Zumindest wenn man es sich mit dem Bäcker verscherzt hat, weil man zugegeben hat, die „Falschen“ gewählt zu haben. Doch es geht nicht nur um solche Ärgernisse, selbst wenn die Kinder schwer erkrankt sind, muss man sich eine Genehmigung für die Behandlung holen. Und wenn eine Lehrerin es wagt, den rebellischen Aufsatz einer Schülerin laut vorzulesen, muss sie sich eine Bestätigung vom Tor holen, dass sie eine wahre Staatsbürgerin ist und bedenkenlos weiter unterrichten darf.

Die Warteschlange vor dem Tor wächst mit jedem Tag. Die Leute gehen zwischendurch arbeiten, ins Café oder ruhen sich zu Hause aus, um am nächsten Tag an ihren Platz zurückzukehren. Zwischen den Wartenden entstehen Freundschaften und manchmal Feindschaften und eine Frau baut sich sogar ein kleines Geschäft auf und schenkt Getränke aus. Es gibt eigene Buslinien, die zum Anfang und Ende der Schlange fahren und während sich die einen nach vorne arbeiten und Plätze tauschen, geben andere auf und verschwinden. Yahya, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war, hofft auf eine legale Lösung seines Problems. So steht er tapfer mit einer Schussverletzung in der Schlange, auch wenn es ihm stetig schlechter geht. Eine andere Wahl hat er ohnehin nicht, denn kein Arzt würde für ihn seine Zukunft opfern. Denn der Staat hört und sieht alles.

Wie umfassend die Kontrolle ist, wird durch das Vorgehen der Violet Mobile Company deutlich. Diese verlost unter den Bürgern Mobiltelefone und kostenlose Verträge. Auch eine Frau in der Schlange erhält ein solches Telefon und leiht es fleißig aus. Als herauskommt, dass die Gespräche abgehört werden, wird eine Boykottkampagne gestartet, die jedoch nach und nach im Sande verläuft. Denn bald wollen die anderen Mobilfunkanbieter keine neuen Kunden mehr annehmen. In den Geschäften gibt es nur noch Telefone mit Simkarten der Violet Mobile Company. Und man muss ja schließlich mit seiner Familie und seinen Freunden telefonieren können. Wenn man ein rechtschaffener Bürger ist, hat man doch nichts zu befürchten. Man hat ja schließlich nichts zu verbergen? Überhaupt kann doch einem gottesfürchtigen Menschen nichts passieren! Und wenn doch, so hat er den Zorn Gottes auf sich gezogen und es nicht anders verdient.

„Aber die Behauptung, dass eine große Anzahl von Menschen verletzt worden sei, sei nichts als reine Lüge, eine Verleumdung durch ein paar Leute, die der Religion feindlich gesinnt sind und nicht durch diese gefestigt seien und deshalb oft verletzt würden. Die meisten Menschen aber im Land seien – Gott sei’s gedankt – gläubig. Um sie müsse man sich keine Sorgen machen, nicht einmal im Angesicht von Kugelhagel.“ (Seite 240)

Da hier viele Menschen durchaus sehr religiös sind, trifft sie der Vorwurf, nicht gottesfürchtig zu sein, hart. Viele beginnen an sich zweifeln und werden zusätzlich durch die vielen Gerüchte und Lügen verunsichert. So betreibt eine Zeitung mit dem Namen „Die Wahrheit“ Propaganda für den Staat und bombardiert die Bürger regelrecht mit Falschmeldungen. So lange, bis die Wahrheit unter den ganzen Lügen nicht mehr zu erkennen ist. Menschen, die sich nur nach Freiheit sehnen, erstarren in Angst oder werden vom Warten in der Schlange zermürbt. Frauen, die anfangs noch ihre Meinung lautstark vertreten haben, verstummen nach und nach und manche heiratet sogar einen tiefreligiösen Mann, in der verzweifelten Hoffnung auf Sicherheit und Vergebung, weil sie inzwischen überzeugt ist, Gottes Zorn auf sich gezogen zu haben. Die Unzufriedenheit mit dem Staat erstickt unter der Vielzahl seiner Kontrollmechanismen und die Gedanken an eine Revolution verkümmern, wenn sich Freunde und Familie von einem abwenden.

„Das Tor“ ist in einem nüchternen, teils bürokratischen Stil geschrieben, der nicht immer angenehm zu lesen ist, jedoch perfekt zu dieser Erzählung passt. Basma Abdel Aziz‘ Dystopie ist kein Unterhaltungsroman, sondern eine Warnung und gleichzeitig eine Erklärung, warum Menschen sich gegen ein so ungerechtes System nicht auflehnen. Als Psychiaterin hat die Autorin einen besonderen Blick auf Menschen und ihre Beweggründe, die in diesem Roman jederzeit nachvollziehbar sind. Vor allem ihre Frauenfiguren fallen mit ihrer Komplexität auf. Trotzdem würde man manchmal gerne aufschreien, denn es sind meist menschliche Schwächen wie Egoismus und Feigheit, aber vor allem auch patriarchale Strukturen, die die Macht dieses ungerechten Staates erhalten.


Fazit

Basma Abdel Aziz hat mit „Das Tor“ eine beklemmende Dystopie geschrieben, die eindrucksvoll zeigt, wie ein autoritärer Staat seine Macht mit Hilfe von irrsinnigen Gesetzen, Falschmeldungen und Überwachung durchsetzt. Die willkürliche Bürokratie des Tores schreit geradezu nach einem neuen Aufstand, doch individuelle Schwächen, ein Klima der Angst und des Misstrauens sowie religiöse und patriarchale Strukturen verhindern einen gemeinschaftlichen Wandel.


Pro und Contra

+ beklemmende Dystopie mit aktuellem Thema
+ zeigt eindrucksvoll, wie eine Revolution scheitert
+ viele Charaktere handeln falsch, aber stets nachvollziehbar
+ veranschaulicht vielfältige Kontrollmechanismen
+ komplexe Frauenfiguren

o sachlicher, teils bürokratischer Stil

Wertungsterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5

Tags: Dystopie, Basma Abdel Aziz