Der Fall Alice im Wunderland (Guillermo Martínez)

martinez alice

Eichborn, 2020
Originaltitel: Los crímenes de Alicia (2019)
Übersetzung von Angelica Ammar
Klappbroschur, 316 Seiten
€ 16,00 [D] | € 15,50 [A] | CHF 23,90
ISBN 978-3-8479-0046-7

Genre: Kriminalroman


Rezension

An einem Sommertag im Jahr 1862 fuhr Reverend Charles Lutwidge Dodgson, Mathematiker an der Universität Oxford, mit einem Ruderboot auf der Themse. Mit an Bord waren drei kleine Freundinnen, die Schwestern Lorina, Edith und Alice Liddell. Während gemeinsamer Unternehmungen erzählte Dodgson den Mädchen gerne Geschichten, die besonders Alice gefielen. Sie schlug ihm vor, diese doch aufzuschreiben. Im Jahr 1865 veröffentlichte er sie als Alice’s Adventures in Wonderland unter dem Pseudonym Lewis Carroll. 

Dodgson interessierte sich für die noch junge Kunstform der Fotografie und konzentrierte sich auf Landschaften und Gebäude, Tierskelette (eine universitäre Auftragsarbeit) und auf Prominente als Eintrittskarte in die höhere Gesellschaft. Auch fotografierte er Mädchen, gelegentlich nackt, was im prüden und moralisch strengen Viktorianismus unproblematisch war. Die Bilder übergab er den Mädchen oder ihren Eltern, wenn sie diesen unangenehm waren.

Der Argentinier Guillermo Martínez verbindet die Frage nach dem Verhältnis von Dodgson und der Familie Liddell in seinem Kriminalroman Der Fall Alice im Wunderland mit einer Reihe mysteriöser Morde und deren Aufklärung durch zwei Mathematiker, den Professor für Logik Arthur Seldom von der Universität Oxford und seinen argentinischen Doktoranden G, mit einem, wie er am Ende des Romans sagt, ziemlich langen Namen, den er jedoch nicht nennt. Unterstützung erhalten sie von Inspektor Petersen. Die Ermittler hatten ihren ersten Auftritt in Crímenes imperceptibles/Los crímenes de Oxford (2003), der in deutscher Übersetzung 2005 als Die Pythagoras-Morde erschien und im Mai 2020 als Die Oxford-Morde neuveröffentlicht wurde. Im Jahr 2008 war die Verfilmung des Romans als The Oxford Murders (dt. Oxford Murders) in Kinos zu sehen.

Der Fall Alice im Wunderland spielt Mitte der 1990er Jahre, etwa ein Jahr nach den Ereignissen aus Die Oxford-Morde. Die Studentin Kristen Hill findet im Bibliotheksarchiv eine verschollen geglaubte Seite aus den Tagebüchern von Lewis Carroll, die im Zusammenhang mit Alice Liddell steht und die Perspektive auf Carroll verändern könnte. Kristen rückt diese Seite nicht heraus, ist aber bereit, der Lewis-Carroll-Bruderschaft zu berichten. Die Bruderschaft, zu der auch Seldom gehört, arbeitet gerade an der Herausgabe eines Carroll-Handbuchs, das durch den Fund Kristens in Teilen Makulatur werden könnte.

Kristen wird nachts von einem Auto angefahren, durch die Luft katapultiert und kommt schwerverletzt ins Krankenhaus. Zwei Morde folgen, darunter der an einem Journalisten, dem der Kopf abgetrennt wird. Der Bezug der Taten auf Motive in Carrolls Alice im Wunderland ist offensichtlich. Seldom zieht seinen Doktoranden hinzu und lädt ihn in die Bruderschaft ein. Die beiden Akademiker und Inspektor Petersen sehen in den Morden die Eröffnung einer Reihe, deren Muster sie zu verstehen suchen.

Arthur Seldom, sein Doktorand und Petersen erinnern an Arthur Conan Doyles Ermittlungstrio Sherlock Holmes, Dr. Watson und Inspektor Lestrade, oder auch an Agatha Cristies Miss Jane Marple, Bibliothekar Mr. Stringer, der jedoch nur in den Verfilmungen vorkommt, und Inspektor Dermot Craddock. Stärker aber erzählt der Autor in der Tradition des Oxfordkrimis, wie er aus dem Golden Age bekannt ist und von P.D. James in Talking About Detective Fiction untersucht wurde. In diese Tradition gehört Dorothy L. Sayers mit Lord Peter Wimsey, Amateurdetektiv und Oxford-Absolvent, seinem Butler Mervyn Buter und seinem Schwager, Chief Inspector Charles Parker. Ebenso Margery Allinghams Amateurdetektiv und Aristokrat Albert Campion, sein Diener Magersfountain Lugg mit krimineller Vergangenheit und die Inspektoren Stanislaus Oates sowie (später) Charles Luke. 

So lässt auch Martínez im gehobenen Umfeld der Universität Oxford ermitteln. Darüber legt er ein Netz, das er aus Querverweisen strickt, die gutteils aus der Mathematik (Gödel), der Philosophie (Quines Überlegungen zu einem Anthropologen, der einen Hasen sieht, von einem Eingeborenen das Wort gavagai hört und versucht herauszufinden, welcher Zusammenhang zwischen beidem bestehen könnte, sind ein intellektuelles Vergnügen) sowie der Literatur (Oscar Wilde, Henry James, Jorge Luis Borges) entnommen sind. Es gibt eine Reihe von Spuren, die auf transparente Weise erfasst, durchdacht und ausgeschlossen werden.

Mit dem Diabetiker Leonard Hinch findet sich ein Verdächtiger, der viktorianischer Bildästhetik folgend Aktfotos von Kindern macht und an seinen pädophilen Kundenkreis verkauft. Er wird mit vergifteten Pralinen getötet. In der Schachtel liegt ein Foto eines nackten Mädchens im Wald. Carroll und Hinch dienen dem Autor als Ausgangspunkt zur Diskussion kindlicher Nacktheit in der Kunst unterschiedlicher Epochen. Obgleich unterschiedliche Vorstellungen des Umgangs mit kindlicher Nackheit thematisiert werden, schwingt natürlich auch die Frage mit, ob Carroll pädophile Neigungen gehabt haben könnte. Die Antwort darauf fällt kontextabhängig unterschiedlich aus. Er schloss im Alter von 28 Jahren mit der siebeneinhalbjährigen Alice, Tochter seines Dekans, Freundschaft. Vier Jahre später führte etwas zum Zerwürfnis zwischen ihm und den Liddells. Vielleicht hätte die fehlende Tagebuchseite Aufschluss geben können, in der Alices Mutter Carroll den Kontakt zu ihrer Tochter untersagt. Die Lewis-Carroll-Bruderschaft glaubt dies wenigstens.


Fazit

Guillermo Martínez modernisiert in seinen zwei Romanen mit Professor Seldom den klassischen Rätselkrimi des Golden Age, wobei die Welt der Akteure als ausgehendes 20. Jahrhundert kaum erkennbar ist. So scheint sich in der Kriminologie seit Holmes nicht viel getan zu haben. Der Fall Alice im Wunderland verhandelt den Umgang mit kindlicher Nacktheit und Pädophilie als Problem in zeitlicher und moralischer Kontextabhängigkeit. Dies in einer sehr gut gestrickten Geschichte, erweitert um Diskussionen über Logik und das Verharren im Offensichtlichen.


Pro und Kontra

+ Modernisierung klassischen Rätselkrimis
+ geistig stimulierende Lektüre

o Handlungszeit wirkt nicht wie spätes 20. Jahrhundert

- recht blasse Figuren

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5