Das sternenlose Meer (Erin Morgenstern)

Blessing (Mai 2020)
Originaltitel: The Starless Sea
Hardcover mit Schutzumschlag
ca. 630 Seiten, 22,00 EUR

ISBN: 978-3-89667-657-3

Genre: Phantastik / Magie / Urban Fantasy


Klappentext

Eigentlich sollte Zachary Ezra Rawlins an seiner Abschlussarbeit schreiben. Stattdessen geht er jeden Tag in die Bibliothek und liest, was ihm gefällt. Bis er eines Tages ein unscheinbares Buch aus dem Regal nimmt – und nichts mehr ist, wie es vorher war. Denn in diesem Buch steht seine, Zacharys, Geschichte. Wie ist das nur möglich? Für Zachary beginnt es fantastisches Abenteuer …


Rezension

In seiner Kindheit sah Zachary Ezra Rawlins eine gemalte Tür, die ihm irgendwie magisch vorkam. Er überlegte, sie zu öffnen, doch er fand sich zu alt, um an Magie zu glauben. Er öffnete sie nicht und am Tag danach war die Tür verschwunden. Jahre später denkt er noch manchmal daran, ob es falsch war, die Tür nicht zu öffnen. Während seines Studiums ist Zachary immer noch ein begeisterter Leser und trägt stets ein Buch bei sich. Als er in der Bibliothek ein kleines Buch ohne Barcode entdeckt, nimmt er es mit und liest Geschichten über Piraten, ein Puppenuniversum, Bienen, Schwerter, Schlüssel und das sternenlose Meer – und er liest, wie er als Kind eine gemalte Tür entdeckt und sie nicht öffnet. Zachary ist erschrocken darüber und fasziniert. Er versucht mehr über dieses mysteriöse Buch zu erfahren und findet eine Spur, die ihn nach New York und schließlich in einen Hafen des sternenlosen Meers führt …

Es ist zu normal. Es ist verstörend und macht ihn schwindlig, und vielleicht muss man im Wunderland bleiben, wenn man einmal dort war, weil in der realen Welt, der anderen Welt, hinterher nichts mehr so sein wird wie vorher. In der Hinterher-Welt. Ob die mutmaßlichen Studenten, die mutmaßlichen Schriftsteller, die dort auf ihren Laptops tippen, ihm wohl Glauben schenken würden, wenn er ihnen erzählte, dass unter ihnen ein Schatz aus Büchern und Geschichten liegt? (Seite 207)

Bereits mit ihrem Debüt „Der Nachtzirkus“ hat Erin Morgenstern ihre Leser*innen verzaubert und auch „Das sternenlose Meer“ versprüht eine ganz besondere Magie. Der Roman steckt voller kleiner Geschichten und Märchen, die sich mit Zacharys Geschichte verflechten und ihn zu einem Teil von etwas wahrlich Phantastischem machen. Zunächst scheinen die kleinen, eingestreuten Erzählungen nicht viel mit der Handlung um Zachary zu tun zu haben. Die einzige Verbindung ist die Geschichte, in der er selbst vorkommt, und der Roman zieht lange Zeit Spannung aus der Frage, wie das sein kann. Trotz ruhiger, verschachtelter Erzählweise fällt es so schwer, das Buch aus der Hand zu legen, denn man will unbedingt wissen, wie Zachary in einem offensichtlich alten Buch vorkommen kann – und ob die anderen Figuren dann auch real sind oder waren.

In New York lernt Zachary zwei Menschen kennen, die sein Leben verändern. Auf einem Literatenball tanzt er mit Mirabel, die mehr über das Buch und das sternenlose Meer zu wissen scheint. Und er trifft auf einen geheimnisvollen Mann, der sich Dorian nennt und ihm die Geschichte ins Ohr flüstert, wie sich Zeit und Schicksal ineinander verliebten – und dass die Sterne sie unbedingt trennen wollten. Zu diesem Zeitpunkt wird Zachary bereits verfolgt, ohne es zu wissen. Dorian und Mirabel ziehen ihn nun immer tiefer hinein in eine Geschichte voller Geschichten, wobei die Autorin lange ein Geheimnis daraus macht, welche Rolle Zachary dabei spielen soll. Immer wieder werden Erklärungen verschoben, doch die Leser*innen werden mit so vielen wundersamen Erzählungen abgelenkt, dass sie gar nicht böse darüber sind, wieder keine Antworten bekommen zu haben (zum Ende hin ergibt jedoch alles einen Sinn).

“Das sternenlose Meer“ begeistert auch mit der Diversität der Figuren: Zachary ist schwarz und schwul – und es bahnt sich eine leise, tiefgreifende Liebesgeschichte an. Seine beste Freundin ist lesbisch und spielt zum Ende hin eine größere Rolle als man anfangs vermuten würde. Die sexuelle Orientierung ihrer Charaktere erwähnt Erin Morgenstern nur beiläufig, sie steht nicht im Vordergrund, auch dann nicht, als Zachary sich verliebt. Stattdessen treten andere Eigenschaften hervor, wie Zacharys zurückhaltende, zögerliche Art. Er ist ein verträumter, kreativer und unsicherer junger Mann, der sich nach einem magischen Abenteuer sehnt, aber darin mehr passiver Beobachter als aktiver Held ist. Lange lässt er sich von Mirabel und Dorian durch die Geschichte(n) führen, doch seine Neugier bewegt ihn schließlich zum Handeln. Während Dorian sich wie Zachary in den Geschichten um das sternenlose Meer verloren hat, bleibt Mirabel ein undurchsichtiger Charakter. Sie teilt ihr Wissen nicht, spielt fast schon mit Zachary.

Auch wenn der Roman insgesamt eher ruhig und ausschweifend geschrieben ist, gibt es ein wenig Action und auch so manche gruselige Szene. Das sternenlose Meer ist zwar ein wahrlich verzauberter Ort, doch es gibt auch dunkle Ecken und tragische Schicksale. Und es gibt Personen, die alles daran setzen, diesen Ort zu verbergen und alle Türen zerstören, die dort hin führen. Sie schrecken auch vor Bedrohung und sogar Morden nicht zurück. Hin und wieder zweifelt man auch an der Wirklichkeit der Ereignisse, denn Zachary könnt sich alles auch nur einbilden (aber da man einen Fantasyroman liest, weiß man, dass Zachary nicht nur phantasiert).

„Sei tapfer“, sagt sie. „Sei kühn. Sei laut. Ändere dich niemals für irgendjemand anderen als für dich selbst. Jede Seele, die ihr Sternenzeugs wert ist, wird dich so nehmen, wie du bist, egal, in welche Richtung du dich entwickelst. Verschwende deine Zeit nicht mit Leuten, die dir nicht glauben, wenn du über deine Gefühle sprichst. Und an dem Dienstag im September, an dem du denkst, dass du niemanden zum Reden hast, rufst du mich an, in Ordnung?“ (Seite 512/513)

Was „Das sternenlose Meer“ auszeichnet ist der Schreibstil von Erin Morgenstern und ihr besonderer Blick für entscheidende Details und die vielfältigen Beziehungen zwischen ihren Figuren. Ihre Worte transportieren ein Gefühl der Verzauberung und stecken voll kindlicher Begeisterung. Sie spielt mit der Zukunft und Vergangenheit von Gegenständen und verleiht ihnen so Bedeutung. Sie streut Details in Klammern ein, spricht alle Sinne an und trotz vieler Nebensätze fließen ihre Sätze nur so dahin (an dieser Stelle ein Lob für die gelungene Übersetzung). Im direkten Vergleich war „Der Nachtzirkus“ noch eine Spur magischer, doch „Das sternenlose Meer“ ist ebenso ein einzigartiges Juwel, das ein wenig moderner daherkommt und viele nerdige Elemente sowie Bezüge zu Videospielen und Filmen enthält.


Fazit

”Das sternenlose Meer“ ist ein kunstvolles Geflecht verschiedenster wundersamer Geschichten, die auf ein gemeinsames Ende zustreben und Protagonist Zachary ein wahrlich magisches Abenteuer bescheren. Es macht unglaublichen Spaß zu lesen, wie sich nach und nach alles zusammenfügt und dabei in jedem Winkel des Buchs kleine Details zu entdecken. Erin Morgenstern ist es erneut gelungen, ihre Leser*innen völlig zu verzaubern!


Pro und Contra

+ eine Geschichte voll magischer Geschichten
+ facettenreiche Charaktere, deren Schicksale zusammenhängen
+ Diversität, die sich schlicht ganz normal anfühlt
+ leise, tiefgehende Liebesgeschichte(n)
+ ruhige Erzählweise, die von der Faszination fürs Geschehen lebt
+ eine Fülle an entscheidenden Details
+ positiver und hoffnungsvoller Ton
+ wunderschönes Hardcover

Wertungsterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Der Nachtzirkus"

Tags: Urban Fantasy, queere Figuren, Magie