duotincta (2020)
Taschenbuch, 154 Seiten, 15,00 EUR
ISBN: 978-3946086529
Genre: Dystopie
Klappentext
China 2018 – Geburt der ersten gentechnisch veränderten Menschen. Eine Welt der „Markenmenschen“ aus dem Gen-Design-Labor rückt immer näher. In einer solchen Welt schreibt die junge Simone, eine wildwüchsige „No name“, ein Tagebuch, in dem sich eine von Körperkult, Markenfetischismus und Perfektionswahn beherrschte Gesellschaft offenbart. Sexualität wird als pragmatische Triebabfuhr organisiert, Kinder im Labor marktgerecht gestaltet – und die Liebe? Als in Simone, der verachteten Außenseiterin, ein genetisch nicht optimiertes Kind heranwächst, sieht sie sich in einem schweren Konflikt gefangen.
Rezension
An einem 7. Februar in unbestimmter Zukunft beginnt die Schülerin Simone Tagebuch zu schreiben. Ihr Bruder, ein Geschichtswissenschaftler und Antiquitätenjäger, hat es ihr geschenkt und auch wenn das Schreiben mit der Hand auf Papier zunächst ungewohnt ist, schreibt Simone regelmäßig ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle nieder. Ihre verstorbene Mutter hätte sich problemlos ein weiteres Markenbaby leisten können, doch im Gegensatz zu ihrem Bruder ist Simone aus einer wilden Schwangerschaft entstanden und damit ein No name-Mensch. Da sie aus einer gut situierten Familie stammt, lebt sie nicht unter anderen No names, sondern unter Markenmenschen, die sie täglich spüren lassen, dass die anders ist. Fehlerhaft. Minderwertig. Simone leidet darunter, kein optimiertes Genom zu besitzen, so stark ist die Ideologie der durchdesignten Gesellschaft in ihr verankert. Doch als sie mehr über die Beweggründe ihrer Mutter herausfindet und sich in einen Klon verliebt, der ihre Einzigartigkeit schätzt, lernt Simone, sich zu akzeptieren und die Gesellschaft in Frage zu stellen …
„Ich denke, ich kann sie gut als Beleg für das langsame Umkippen in der Haltung der Gesellschaft gegenüber Mindernormen heranziehen – weg von Integration, hin zu Ausgrenzung. Und dann in unserem Jahrhundert zur Ausmerzung durch die Genselektion. Weg von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … hin zu Standardisierung, Ästhetisierung, Optimierung!“ (Seite 66)
“Unter Markenmenschen“ ist die überarbeitete Neuausgabe des bereits 2002 erschienenen Romans von Birgit Rabisch, der 2003 für den Deutschen Science-Fiction-Preis und den Kurd Laßwitz-Preis nominiert war. Im Vorwort gibt sie an, nicht viel verändert, sondern den Text nur etwas modernisiert zu haben. So bezieht die Autorin nun die Genschere CRISPR/Cas mit ein, eine Technik, die ihre Zukunftsvision näher in den Bereich des Möglichen rückt. Im Roman ist es der Menschheit gelungen, mit Hilfe der Gentechnologie viele Krankheiten auszumerzen und insbesondere ästhetische Merkmale zu vereinheitlichen. Es gibt verschiedene Markengenomtypen und wer keines davon besitzt, ein No name ist, gilt als Außenseiter. Die schöne und gesunde Gesellschaft duldet solche Fehlerhaftigkeit nicht und grenzt No names sowie durch Unfälle „verunstaltete“ Menschen gnadenlos aus. Schlimmer noch, es wird regelrecht als Zumutung für die normierten Markenmenschen empfunden, wenn sie sich mit „Mindernormen“ auseinandersetzen müssen.
Da die Leserschaft durch die Tagebuchform direkt in Simones Gedankenwelt eintaucht, muss sie diverse menschenverachtende Aussagen erdulden, die die Protagonistin verinnerlicht hat, die sie jedoch nicht unbedingt unsympathisch machen. Denn sie ist ein Kind ihrer Zeit und da sie selbst von der Ausgrenzung betroffen ist, verspürt man angesichts ihrer Vorurteile eher Mitleid, da diese zu Selbsthass führen. Doch Simone hat auch gelernt, ihr Leid zu ertragen und zu akzeptieren. Einerseits kümmert sich ihr deutlich älterer Bruder rührend um sie und scheint zunächst der einzige Markenmensch zu sein, der sie so akzeptiert, wie sie ist. Andererseits ist Simone eine kluge junge Frau, die klare Vorstellungen davon hat, was sie will und was nicht. Auch in Bezug auf ihre Sexualität, die sie mit sich selbst auslebt, da ihr die Triebbefriedigung in sexuellen Begegnungsstätten nicht zusagt (als No name wäre sie dort ohnehin unerwünscht).
Auch wenn der Roman als Dystopie einzuordnen ist und mit der zukünftigen Gentechnologie ein starkes SF-Element enthält, steht der Tagebuchform entsprechend Simones persönliche Entwicklung im Vordergrund. Sie ist eine junge Frau, die ihren Körper und die erste Liebe entdeckt und sich nach und nach mit ihrer Herkunft versöhnt. Bei der Beschreibung der Erotik findet die Autorin das richtige Maß und zeigt anschaulich, wie aus Ablehnung allmählich Akzeptanz erwächst. Schade ist, dass Simone und ihr Geliebter, der Klon Jean-Paul, zu stark in Geschlechterstereotypen verhaftet sind. In ihrer Selbstbefriedigung ist Simone selbstbewusst und aufgeklärt, doch bei ihm wird zu einem Mädchen, das erobert werden muss, inklusive Grenzüberschreitung.
Mit der Liebe zu Jean-Paul wird das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester zunehmend schlechter. In der zweiten Romanhälfte merkt man, dass „Unter Markenmenschen“ aus zwei Geschichten entstanden ist, wie Birgit Rabisch im Nachwort erklärt. Die Handlung bewegt sich fort von den dystopischen Elementen hin zu einem Familiendrama, das nicht aufgelöst wird. Ebenso wenig wie Simones weiteres Schicksal, denn so wie die Tagebucheinträge mittendrin beginnen enden sie auch. Die Leser*innen verfolgen nur einen kleinen Ausschnitt aus Simones Leben, der viel über die Gesellschaft, in der sie lebt, verrät und zum Nachdenken anregt. Denn vieles, was hier überzeichnet dargestellt wird, sehen wir bereits in unserer heutigen Gesellschaft: Schönheits- und Perfektionswahn, Oberflächlichkeit, Fokussierung auf Marken und Trends. Markenkleidung kann man tauschen, doch wenn man ein Markengenom besitzt, das nicht mehr angesagt ist, wenn man 30 wird – was dann?
“Ich habe versucht aufzuzeigen, dass uns mit der Normierung und Optimierung der einzelnen Menschen auch etwas verloren gegangen ist: die Fähigkeit zur Toleranz, zum Ertragen von Unterschieden, ja vielleicht sogar dazu, Abweichungen als Bereicherung und nicht als Manko zu empfinden.“ (Seite 133)
Was „Unter Markenmenschen“ fehlt, ist eine zweite Perspektive, vorzugsweise von einem No name-Menschen außerhalb der Oberschicht. So erleben wir die Zukunft nur aus Sicht einer privilegierten jungen Frau mit einem großen Makel und können nur erahnen, wie dreckig es den Menschen gibt, die weder ein Markengenom noch Geld oder andere Privilegien besitzen. Gelungen ist, dass die Autorin auch mögliche Nebenwirkungen der Gentechnologje thematisiert, wie beispielsweise die Kopfschmerzattacken von Simones Bruder. Denn auch wenn es heutzutage einfach erscheint, Genome zu verändern, so können immer unerwartete Nebeneffekte auftreten. Und glücklicherweise ist die Genetik etwas komplizierter und es wird noch eine Weile dauern, bis es wirklich solche Markengenome gibt – aber ganz unrealistisch sind sie heute leider nicht mehr. Umso stärker wirkt „Unter Markenmenschen“ wie eine Warnung.
Fazit
”Unter Markenmenschen“ ist auch heute noch ein eindrücklicher, beunruhigender Roman über eine Gesellschaft der Markenmenschen, in der Einzigartigkeit verpönt ist und als makelhaft gilt – es sei denn, man ist der Klon einer echten Berühmtheit. Durch die Tagebucheinträge der Protagonistin Simone erhalten die Leser*innen einen sehr direkten, persönlichen Blick in eine gnadenlose Zukunft, in der die Menschen gesünder und schöner, aber nicht glücklicher sind.
Pro und Contra
+ eindrucksvolle Einblicke in eine Zukunft der Markenmenschen
+ differenzierter, warnender Blick auf die Gentechnologie
+ glaubhafte Darstellung der zukünftigen Gesellschaft
+ Simones innerer Wandel
+ weibliche Perspektive
+ schöne Neuausgabe mit Vor- und Nachwort
- die Liebe macht Simone zeitweise zur schwachen Frau
- irritierendes Bruder-Schwester-Verhältnis in der zweiten Hälfte
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3,5/5
Interview mit Birgit Rabisch (2020)