Zerbrochene Sterne (Cixin Liu, Hao Jingfang, Qiufan Chen, Ken Liu (Hrsg.))

Heyne (2020)
Aus dem Chinesischen von Karin Betz, Marc Hermann, Johannes Fiederling,
Lukas Dubro, Felix Meyer zu Venne, Chong Shen, Kristof Kurz
Originaltitel: Broken Stars
Taschenbuch, 672 Seiten, 16,99 EUR

ISBN: 978-3-453-32058-1

Genre: Science-Fiction-Anthologie


Klappentext

Die besten Science-Fiction-Autoren aus China in einem Band

Ein junger Mann wird dreimal in der Nacht angerufen – und jedes Mal ist er selbst am anderen Ende der Leitung. Genauer gesagt, sein zukünftiges Ich, und dreimal soll er die Welt vor der unausweichlichen Zerstörung retten. »Mondnacht« lautet der Titel dieser Kurzgeschichte von Cixin Liu, die der preisgekrönte Herausgeber und Übersetzer Ken Liu zusammen mit fünfzehn weiteren Erzählungen der besten Science-Fiction-Autoren Chinas in diesem Band versammelt hat.


Rezension

Seit Cixin Liu 2015 für „Die drei Sonnen“ den Hugo Award erhielt, wird chinesische Science Fiction nicht nur in Amerika, sondern auch bei uns zunehmend populärer. Namen wie Hao Jingfang und Qiufan Chen sind deutschen Leser*innen längst ein Begriff, die meisten anderen in dieser Anthologie vertretenen Autor*innen sind hier jedoch (noch) weitgehend unbekannt. Herausgeber Ken Liu hat hier sechzehn höchst unterschiedliche SF-Geschichten sowie drei Essays zusammengestellt, in denen die Parallelen und Unterschiede zur westlichen SF wunderbar zur Geltung kommen. Allerdings lässt diese Anthologie, anders als der Titel „Zerbrochene Sterne“ in Kombination mit dem Cover vermuten lässt, Abenteuer im Weltraum vermissen. Stattdessen lassen sich viele der Beiträge eher dem Magischen Realismus, Retrofuturismus oder Cyberpunk zuordnen.

Heyne bewirbt „Zerbrochene Sterne“ als „die besten chinesischen Science-Fiction-Stories“, was Herausgeber Ken Liu bereits im Vorwort relativiert. Er schreibt, er habe nicht die Absicht gehabt, ein „Best of“ zusammenstellen, sondern wollte viel mehr die große Bandbreite chinesischer Science Fiction zeigen. Das ist ihm auch durchaus gelungen, wobei die große Unterschiedlichkeit der Beiträge naturgemäß dazu führt, dass der Leserschaft manche Texte besser und weniger gefallen. Insbesondere jene Geschichten, die eher dem Magischen Realismus zuzurechnen sind, erfordern Konzentration beim Lesen, da sie sich stark auf die für uns fremde chinesischen Kultur und Geschichte fokussieren. So entführt beispielsweise Zhnag Ran in „Der Schnee von Jinyang“ ins historische China des Jahres 979 und wären da nicht seltsam modern anmutende Erfindungen, würde man nicht bemerken, dass es sich um eine SF-Geschichte handelt.

Zu den herausragenden Beiträgen von „Zerbrochene Sterne“ zählt Cixin Lius „Mondnacht“, eine Art Zeitreisegeschichte ohne Zeitreise, da der Protagonist lediglich mit seinem zukünftigen Ich telefoniert. Die Geschichte widmet sich dem Klimawandel und der Verantwortung des Menschen – und warnt eindrücklich davor, nicht jede neue Technologie als Heilsbringer zu betrachten und vor allem die Konsequenzen des eigenen Handelns zu bedenken. Beeindruckend sind auch die Cyberpunkgeschichten von Qiufan Chen. „Das Licht“ ist eine kreative, etwas schräge Interpretation buddhistischer Kosmologie. Inspiriert von der Simulationstheorie widmet sie sich der Frage nach dem freien Willen. Chens zweiter Beitrag, „Eine kurze Geschichte zukünftiger Krankheiten“, ist ein unterhaltsamer Text über die Auswirkungen moderner Technologien auf den Menschen, wobei der Autor einen scharfen Blick für gesellschaftliche Veränderungen demonstriert.

Aus westlicher Sicht hat die erste Geschichte der Anthologie, „Gute Nacht, Traurigkeit“ von Xia Jia, einen besonderen Reiz, da sie viele Bezüge zum Leben Alan Turings enthält und dabei das Wesen künstlicher Intelligenz erforscht. Die Gespräche zwischen Mensch und Maschine sind eindrucksvoll, demonstrieren sie doch die Grenzen künstlicher Intelligenz. Gleichzeitig lernen wir Alan Turing als Menschen und tragische Figur kennen. Diese Geschichte hätte sicherlich auch sehr gut zur zweiten bei uns erscheinenden chinesischen Anthologie „Quantenträume“ (September 2020) gepasst. Positiv fällt bei vielen der Texte der wissenschaftliche Hintergrund auf, man merkt, dass hier viele Wissenschaftler und Ingenieure schreiben. Spannend sind auch die vielen Gemeinsamkeiten mit der westlichen Science Fiction, wobei man sieht, dass die chinesischen Autor*innen viel mehr über unsere Kultur und Geschichte wissen als wir über ihre.

Die Gestaltung der Anthologie ist sehr gelungen, auch wenn das attraktive Covermotiv generisch ist und nicht den Inhalt spiegelt. Vor jeder Geschichte finden sich Autoreninformationen, zusätzlich werden die wichtigsten chinesischen Begriffe in einem Glossar im Anhang erläutert. Interessant lesen sich auch die drei Essays, die Einblicke in die Entwicklung der chinesischen Science Fiction geben, die parallel zur westlichen Blütezeiten erlebt hat, jedoch im Rahmen der Kulturrevolution verdrängt wurde. Heute gibt es ähnlich wie bei uns Fanzines und verschiedene Awards, wobei das chinesische Fandom weniger beständig zu sein scheint und das Genre ähnlich wie uns unter Geringschätzung leidet.


Fazit

”Zerbrochene Sterne“ ist eine eindrucksvolle Anthologie mit chinesischen Science-Fiction-Geschichten, deren Stärke insbesondere in der Unterschiedlichkeit der Beiträge liegt. Die Texte widmen sich sowohl klassischen SF-Themen aus der Physik und Informatik als auch der chinesischen Kultur und Geschichte, wobei die Grenzen zwischen SF und Magischem Realismus fließend sind.


Pro und Contra

+ breitgefächerte Textauswahl
+ Einflüsse der chinesischen Kultur und Geschichte
+ herausragende Beiträge von Cixin Liu, Qiufan Chen und Xia Jia
+ interessante Essays im Anhang
+ gelungene Gestaltung der Anthologie mit Zusatzinformationen

o viele der Geschichten lassen sich eher dem Magischen Realismus zuordnen

- manche Texte erscheinen zu belanglos
- Werbung als „die besten …Stories“ übertrieben

Wertungsterne4

Texte: 4/5
Gestaltung: 4,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Quantenträume"

Tags: chinesische SF, Kurzgeschichten