Interview mit Dieter Rieken
Literatopia: Hallo, Dieter! Kürzlich ist bei p.machinery Dein Roman „Land unter“ erschienen. Wie sehen Deutschland und Europa in Deiner Zukunftsvision aus?
Dieter Rieken: Deutschland hat viel Geld in den Klima- und Umweltschutz investiert. Trotzdem ist es im Jahr 2060 um ein paar Grad wärmer als heute. Das Polar- und Meereis ist schneller geschmolzen als erwartet, und der Meeresspiegel ist um 12 Meter gestiegen.
Diese Entwicklung stellt die Küstenanrainerstaaten vor große Herausforderungen – auch sicherheitstechnisch, weil sie auf eine heute noch unvorstellbare Weise angreifbar geworden sind. In „Land unter“ hat sich das 2055 gezeigt, als es Terroristen gelang, entlang der Deichanlagen, die an sich gut bewacht waren, Sprengsätze zu platzieren. Die Flutwelle tötete Millionen Menschen und verursachte eine schwere Wirtschaftskrise. Außerdem spülte sie eine rechtsnationale Regierung an die Macht.
Literatopia: Eine rechtsnationale Regierung klingt für uns wie ein Alptraum. Inwiefern hat sich das gesellschaftliche Klima dadurch verändert? Und woran ist die vorangegangene grün-linke Regierung gescheitert?
Dieter Rieken: Die neue Regierung rückt das Nationale in den Vordergrund. Das reicht von der „Bereinigung“ der Medienbestände in den öffentlichen Mediatheken bis zu verstärkten Abschiebungen – „Rückführungen“ genannt. Sie hat Tarifverträge und Arbeitnehmerrechte geschleift, sodass prekäre Beschäftigungsverhältnisse zum Normalfall wurden. Das Schlimmste ist in meinen Augen, dass unter Menschen mit Migrationshintergrund, unter Muslimen und Juden ein Klima der Angst besteht. Denn durch die neue Regierung fühlt sich die extreme Rechte ermutigt, gewaltsam gegen diese Menschen vorzugehen.
Grün-Links ist in meinem Buch – nach knapp 30 Jahren in Regierungsverantwortung – an einer Vielzahl politischer Fehler gescheitert. Unter anderem hat das Parteienbündnis Deutschland zu einem laizistischen Staat gemacht, woraufhin die großen Religionsgemeinschaften eigene Parteien gründeten. Außerdem hat die Vorgängerregierung nicht verhindern können, dass chinesische Unternehmen und Investoren immer mehr Einfluss auf die Wirtschaft erhielten, darunter Schlüsselindustrien und Energieversorgungsunternehmen. Als das rechsnationale Parteienbündnis dann auch noch mit einem äußerst charismatischen Kandidaten auftrat, der den Binnenflüchtlingen Hoffnung auf den Wiederaufbau machte, hat Grün-Links die Mehrheit in den Parlamenten verloren.
Literatopia: Enno und seine Freunde leben als Rückkehrer im überfluteten Gebiet. Wie sieht der Alltag der Menschen dort aus? Und welche positiven Entwicklungen gibt es in Deinem dystopischen Szenario?
Dieter Rieken: Der Klimawandel hat das Leben draußen vor der Küste nicht einfacher gemacht. Die Menschen, die dort wohnen, sind ständig der Gewalt des Meeres und des Wetters ausgesetzt. Trotzdem hast Du die Atmosphäre in Deiner Rezension als „heimelig“ empfunden. Das trifft es ganz gut. Nachdem die Rückkehrer offiziell geduldet sind, haben sie sich dort eingerichtet, in einzelnen Gebäuden oder ganzen Stadtteilen, die noch aus dem Wasser ragen. Seit der alte Piet seine Schwiegertochter ins überflutete Gebiet geholt hat, gibt es sogar ein Versorgungsschiff, das die Bewohner mit dem Lebensnotwendigen beliefert. Technische Hilfsmittel wie Solaranlagen, Entsalzungsanlagen und Trockentoiletten sind weit verbreitet und dank der Massenproduktion auch erschwinglich. Vor allem aber: Man kennt sich und unterstützt sich gegenseitig. Das hat etwas von einer großen Familie, in der man ja auch nicht mit jedem gleich gut auskommt, sich aber trotzdem solidarisch verhält, vor allem bei Bedrohungen von Außen. Sogar so unterschiedliche Typen wie Piet und Warner finden einen gemeinsamen Nenner, lernen, einander zu vertrauen, und arbeiten schließlich Hand in Hand.
Literatopia: Enno kommt einem mit seiner ruhigen und überlegten Art wie ein typisches Nordlicht vor, und zumindest ich bin anhand des Namens direkt darauf hereingefallen, zu denken, er sei weiß – bis im Text steht, dass er dunkle Haut hat. Hast Du bewusst mit den Klischees in den Köpfen gespielt? Welche Erfahrungen mit Rassismus macht Enno im Jahr 2060?
Dieter Rieken: Enno ist doch ein echtes Nordlicht! Er ist in einem Küstenort aufgewachsen, wie alle anderen Kinder aus der Gegend in der nächsten größeren Stadt zur Schule gegangen und war nach dem Abitur nur ein paar Jahre fort, um zu studieren. Er arbeitet für ein internationales Unternehmen, das ihn ausschließlich aufgrund seiner Qualifikation eingestellt hat. Und ja, ich habe den Spitznamen bewusst gewählt. Es ist Teil meiner Utopie – zu der auch der gelungene ökologische Umbau gehört –, dass Ennos Äußeres für die Figuren in seinem Umfeld keine Rolle spielt. Denn das sollte es meines Erachtens auch nicht. Übrigens wollte ich seine Hautfarbe erst viel später enthüllen. Doch dann wären andere Szenen unverständlich geblieben, zum Beispiel die Konfrontation mit dem Neonazi im „Heaven“, die im Kleinen zeigt, welche Gefahr von Nationalisten und Rassisten im Großen ausgeht.
Literatopia: Mit Adrian hast Du einen egozentrischen, empathielosen Charakter geschaffen, der über Leichen geht und sich selbst stets in der Opferrolle sieht. Wie hast Du Dich in seine düstere Gedankenwelt hineingeschrieben?
Dieter Rieken: Beim Schreiben hatte ich alle Figuren lebendig vor Augen, nicht zuletzt, weil ihr Äußeres, aber auch ihr Denken und Tun zum Teil an reale Vorbilder angelehnt ist, an Menschen, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe. Ich habe mich immer gefragt: Wie würden der- oder diejenige in dieser oder jener Situation reagieren? Das reicht bis zu einzelnen Gesten und der Art und Weise, wie die Figuren sprechen. Das hat mir geholfen, lebendige, mehrdimensionale Charaktere zu erschaffen. So haben auch die „Guten“ ihre dunklen Seiten. Umgekehrt ist ein Typ wie Adrian durchaus in der Lage, sich um seine kranke Mutter zu kümmern, sich für die heimische Vogelwelt zu begeistern und seiner Exfrau gegenüber tiefere Gefühle zu hegen, als er sich selbst eingestehen will.
Literatopia: Mit Enno, Piet, Adrian, Tarik, Chris und Warner hast Du sechs Perspektivfiguren, die sich teils stark in ihren Erzählstimmen unterscheiden. Wie hast Du ihre Unterschiede herausgearbeitet? Und mit wem kannst Du Dich persönlich am meisten identifizieren?
Dieter Rieken: Das ganze Buch ist konsequent aus der Sicht der Figuren erzählt. Das sogenannte „personale Erzählen“ hat den Vorteil, dass Leserinnen und Leser direkt an den Erlebnissen und Beobachtungen der Figuren teilnehmen können und dabei deren Sicht der Dinge kennenlernen. Es wäre total unrealistisch, wenn alle Romanfiguren dieselbe Hochsprache benutzen würden. Der alte Piet hat die größte Lebenerfahrung, ist sehr belesen und erklärt anderen gerne die Welt, sei es auf Nachfrage oder auch ungefragt. Seine „berüchtigten Monologe“ unterscheiden sich deshalb zum Beispiel von Ennos Sprache, der sich über viele Sachverhalte noch keine Gedanken gemacht hat und weitaus zurückhaltender äußert. Die Ausdrucksweise von Tarik und Warner habe ich stark an die Umgangssprache angelehnt. Diese und andere Unterschiede – etwa Hoses plattdeutsche Redewendungen und Warners subkulturelle Anspielungen – finden sich nicht nur in der wörtlichen Rede, sondern in abgeschwächter Form auch im Erzählstil und der Erzählhaltung der Perspektivfiguren. Außerdem fließen in die erzählenden Passagen Ausdrücke und Formulierungen ein, der der jeweiligen Erlebniswelt der Figur entlehnt sind, zum Beispiel Fachbegriffe aus Ennos Arbeitsumfeld. Die literarische Sprache erhält dadurch bei jeder Perspektivfigur eine »typische« Einfärbung. Tarik ist in diesem Zusammenhang besonders interessant: Einerseits Clanchef, andererseits erfolgreicher Geschäftsmann, wechselt er je nach Umfeld und Stimmung problemlos zwischen Jargon und Hochsprache.
Um die zweite Frage zu beantworten: Ich kann mich am meisten mit Chris identifizieren...
Literatopia: Unter den Perspektivfiguren ist Chris die einzige Frau – warum? Hätte Piet keine alte Frau sein können? Oder Warner eine Hackerin?
Dieter Rieken: Im Nachhinein betrachtet wäre beides möglich gewesen: eine exzellente Wissenschaftlerin mit einer seltsamen Neigung zu jüngeren Männern, eine alte Frau mit zwei Söhnen von verschiedenen Vätern; und um aus Warner eine Hackerin zu machen, hätte ich Tine einfach als bisexuelle Figur gestalten können, um nicht auf das Dreiecksverhältnis mit Hose verzichten zu müssen. Dann hätte es außer Chris und Tine mehr starke Frauen gegeben. Bei der Neufassung meiner Erzählung „43 Meter“ bin ich genau so vorgegangen, und es hat gut funktioniert. Dass ich bei „Land unter“ gar nicht erst auf diese Idee gekommen bin, liegt wahrscheinlich daran, dass ich die vorhin erwähnten Vorbilder im Kopf hatte. Auch wenn alle Figuren letztlich fiktiv sind, konnte ich mich beim Schreiben offenbar nicht von den realen Personen lösen.
Literatopia: In „Land unter“ werden viele wichtige Informationen in Rückblenden geliefert. Wie bist Du vorgegangen, damit diese Erinnerungen möglichst natürlich in den Text einfließen und nicht wie nachträglich eingefügte Erklärungen wirken?
Dieter Rieken: Du nennst die Rückblenden „Erinnerungen“. Das ist insofern korrekt, als auch sie aus der Sicht der jeweiligen Figur erzählt sind. Diese Montagetechnik ist ein literarisches Mittel, das seit dem 20. Jahrhundert die moderne Literatur kennzeichnet. Meiner Ansicht nach reflektiert sie eine Erfahrung, die wir aus unserem Alltag kennen: Man tut gerade etwas oder unterhält sich mit jemandem, und die Tätigkeit oder das Thema erinnern einen an ein anderes, früheres Erlebnis. Man schweift kurz ab – gedanklich oder im Gespräch – und kehrt dann wieder zum Eigentlichen zurück. Ich habe mich bemüht, die Rückblenden entsprechend einzubauen – und sie zugleich möglichst abwechslungsreich zu gestalten, nämlich als Mischung aus wörtlicher Rede, indirekter Rede und erzählenden Passagen. Vom ersten und letzten Kapitel abgesehen, erstreckt sich die Handlung ja nur über einen Zeitraum von wenigen Wochen im Herbst 2060. Durch die Rückblenden erfährt man mehr über das Leben der einzelnen Figuren und wichtige Ereignisse aus deren Vergangenheit.
Literatopia: In Deutschland wird Science Fiction meist als Unterhaltung eingeordnet und damit gleichzeitig abgewertet. Auch Du hast im Vorfeld der Veröffentlichung von „Land unter“ zu hören bekommen, dass Du Dich entscheiden müsstest, ob Du eine spannende Science-Fiction-Geschichte oder Literatur schreiben wolltest. Was hältst Du von solchen Differenzierungen?
Dieter Rieken: Gar nichts, denn das ist totaler Unfug. Natürlich will ich meine Leserinnen und Leser unterhalten! Dazu gehören ein gutes Setting, starke Charaktere, die man oder frau gerne kennenlernt, und eine interessante, wendungsreiche Story, die nicht unbedingt in allen Details „Harte SF“ sein muss, um zum Nach- und Weiterdenken anzuregen. Ansonsten bediene ich mich moderner literarischer Mittel: mehrere Protagonisten und wechselnde Perspektiven statt eines allwissenden Erzählers. Außerdem montiere ich verschiedene Zeitebenen. Das ist im ersten Moment vielleicht gewöhnungsbedürftig, weil es nicht jedermanns und -fraus gewohntem Leseerlebnis entspricht. Ich finde diese Erzählweise aber spannend. Um ehrlich zu sein, langweilen mich Zukunftsvisionen, die im Stil des 19. Jahrhunderts geschrieben sind.
Literatopia: In Deinem Kurzgeschichtenband „Überlebensprogramm“ finden sich fünf Geschichten, die zwischen 1982 und 2018 entstanden sind. Kannst Du uns etwas mehr darüber verraten? Und Du hast vermutlich in den 36 Jahren mehr als fünf Geschichten geschrieben?
Dieter Rieken: Die Sammlung besteht aus den Storys, die mir bis heute am besten gefallen. Neben der Titelgeschichte, die 1984 erstmals erschienen ist, beinhaltet sie zwei weitere ältere Storys und zwei neuere. Insbesondere die älteren habe ich gründlich überarbeitet – und ich arbeite mit jeder neuen Auflage daran, sie weiter zu verbessern.
Literatopia: Was zeichnet für Dich eine richtig gute Kurzgeschichte aus?
Dieter Rieken: Schwer zu sagen. Ich denke, das Thema muss stimmen. Die Idee muss mich reizen. Die Figuren müssen mich überzeugen. Und die Ausarbeitung muss sehr konzentriert sein... Ich glaube, das ist das Wichtigeste.
Literatopia: Deine Tochter, Kathrin Rieken, hat dieses Jahr mit „Das Talannar“ ihren ersten Fantasyroman veröffentlicht. Du durftest ihre Geschichten viele Jahre nicht lesen und schon gar nicht korrigieren. Wie hast Du überhaupt erfahren, dass Deine Tochter auch schreibt?
Dieter Rieken: (Lacht) Weil sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr fast jeden Tag an dem Buch gearbeitet hat, und das die meiste Zeit auf dem Wohnzimmersofa.
Literatopia: Wie sieht Euer Schreibverhältnis heute aus? Durftest Du „Das Talannar“ vor der Veröffentlichung lesen und vielleicht Anmerkungen machen? Wie hat Dir der Roman gefallen?
Dieter Rieken: Ich habe ihr zum 18. Geburtstag einen Gutschein geschenkt – für Korrekturlesen, Satz, Umschlaggestaltung und ein in Leinen gebundenes Buch. Das waren intensive Monate, in denen wir viel diskutiert haben. Ich war von Anfang an begeistert: von der Welt, die sie geschaffen hat, von den Figuren und von der Geschichte selbst. Am Ende wollten immer mehr Freunde und Bekannte lesen, was sie geschrieben hat – ihre wie auch meine. Darum haben wir die beiden Bände der „Wildsohn-Trilogie“ – ein dritter wird noch folgen – auf eigene Kosten drucken lassen. BoD kannten wir da noch nicht. „Das Talannar“ ist eine überarbeitete Neuausgabe des ersten Bandes, die dank BoD auch als E-Book erhältlich ist. Der zweite Teil wird dort in Kürze ebenfalls erscheinen.
Literatopia: Welche Genres liest Du bevorzugt? Und hast Du vielleicht Lieblingsbücher, die Du unseren Leser*innen ans Herz legen würdest?
Dieter Rieken: Ich lese viel und quer durch alle Länder und Genres. Mein letztes nachhaltiges Leseerlebnis in der Science-Fiction war „Cyberabad“ von Ian McDonald. Kürzlich habe ich Samuel R. Delanys „Dhalgren“ zum dritten Mal gelesen.
Literatopia: Wenn man Google nach dem Autor Dieter Rieken fragt, findet man weder eine eigene Website noch Social-Media-Profile von Dir. Gibst Du ungern Informationen preis oder hattest Du schlicht keine Zeit, Dich im Netz als Autor zu präsentieren? Und tauschst Du Dich irgendwo aktiv mit Lesern aus?
Dieter Rieken: Kathrins und meine Webseite ist www.spbonline.de. Sie existiert seit zwei Jahren. Meine Facebook-Seite ist sogar noch jünger! (lacht) Bei Xing und LinkedIn bin ich von Anfang an dabei. Diese Profile sind aber stark auf den Beruf zugeschnitten, mit dem ich meinen Lebensunterhalt bestreite. Mit meinen Lesern tausche ich mich derzeit vor allem per E-Mail aus. Vielleicht hast Du Recht, und ich sollte mehr tun, um mich als Autor im Netz zu präsentieren. Andererseits sind es doch die Geschichten, also die Bücher, die zählen, nicht ich.
Literatopia: „Land unter“ ist zwar gerade erst erschienen, aber vielleicht arbeitest Du bereits an einem neuen Roman, über den Du uns schon etwas verraten kannst?
Dieter Rieken: Mein Verleger Michael Haitel erwartet im Frühjahr 2022 die Fortsetzung (lacht). Zur Zeit arbeite ich an einer „harten“ SF-Erzählung, die auf einer Koloniewelt spielt und der Motive aus der biblischen Erzählung über den Propheten Jona zugrunde liegen.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Autorenfotos: Copyright by Mercan Fröhlich
Rezension zu "Zweimal langsamer wie du ..."
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.