Die Einwilligung (Vanessa Springora)

springora einwilligung

Blessing, 2020
Originaltitel: Le consentement (2020)
Übersetzung von Hanna van Laak
Gebunden, 174 Seiten
€ 16,00 [D] | € 15,50 [A] | CHF 23,90
ISBN 978-3-89667-683-2

Genre: Sachbuch


Rezension

Die literarische Auseinandersetzung mit der Frage nach Einwilligung in sexuelle Interaktionen ist kein neues Thema, hat aber seit #MeToo in 2017 und vor allem den Prozess gegen Harvey Weinstein eine neue Qualität erreicht. Ein Aspekt dieses Diskurses ist das Problemfeld des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen.

Französische linksintellektuelle Kreise, die sich ab Mai 1968 einsetzten für das Verbieten von Verboten, für das freie Ausleben der Sexualität auch mit Kindern, soweit deren Zustimmung gegeben sei, haben den Schriftsteller Gabriel Matzneff über Jahrzehnte gefeiert und bewundert. Matzneff konnte in seinem bei Gallimard verlegten Werk offen über seine sexuellen Interaktionen mit Kindern schreiben.

In der Zeitung Le Monde erschien 1977 ein offener Brief, in dem die Legalisierung sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde. Zu den Unterzeichnern gehörten bekannte Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Roland Barthes, Gilles Deleuze und André Glucksmann. Die Unterzeichnung verweigerten Marguerite Duras, Hélène Cixous und Michel Foucault. Matzneff unterzeichnete ebenfalls. Im Jahr 2013 bekannte er, der Initiator gewesen zu sein. Im gleichen Jahr hat er den renommierten Prix Renaudot für Séraphin, c‘est la fin! erhalten.

Nun befindet er sich im Fokus staatsanwaltlicher Ermittlungen. Ausgangspunkt für diesen Wandel ist ein Buch eines seiner Opfer, Die Einwilligung von Vanessa Springora, dessen Kern ihre Beziehung mit Matzneff in den 1980er Jahren bildet. Springora wurde Ende 13 von Matzneff in eine sexuelle Ausbeutungsbeziehung manipuliert. Diese war illegal, wurde aber offen ausgelebt. Das Kernargument für die Öffentlichkeit war das der Zustimmung, der Einwilligung. Daher der Titel von Springoras Buch.

Springora beginnt mit ihrer Kindheit, den Streitereien der Eltern, verbunden mit Demütigungen, bis sie sich schließlich trennten. Als der Vater eine Geliebte hatte, brach der Kontakt ab. Die Mutter ließ sich mit einem Künstler ein. Von da an bekam das Mädchen nebulöse Gespräche und sexuelle Aktivitäten mit. Springora motiviert geschickt die kommenden Geschehnisse. Sie bezeichnet den fehlenden Vater, ihr Interesse an Literatur, sexuelle Frühreife und ein ungeheures Bedürfnis, wahrgenommen zu werden, als erfüllte Bedingungen, um, wie sie es nennt, Matzneffs Beute werden zu können.

Springora bezeichnet ihr Buch als autobiografische Erzählung. Sie beschreibt ihre Kindheit, fügt jedoch Gedanken aus ihrer Perspektive als erwachsene Frau hinzu. Zuallererst geht es um Macht, die in ihren Aspekten der Ausübung sexualisiert wird. Die Verführung eines Mädchens, die Konditionierung zur Sexualpartnerin, die Ausübung sexueller und sozialer Kontrolle, von Springora auch als „Inbesitznahme“ (S.72) bezeichnet.

Die Beziehung wurde offen ausgelebt, niemand schritt ein. Die Mutter fragte sie: „Weißt du nicht, dass das ein Päderast ist?“ (S.44), lud ihn aber zum gemeinsamen Lammgericht ein. Der abwesende Vater kümmerte sich nicht um sie. Als er sie einmal im Krankenhaus besuchte, geriet er in Rage wegen Matzneff und wurde von ihr weggeschickt. Die Jugendschutzabteilung der Polizei bekam einen anonymen Hinweis, überprüfte Matzneff und ließ sich in Gegenwart Springoras von ihm in seinem Interesse informieren.

Die Lehrer empfahlen ihr, die Schule zu verlassen, als sie 16 war und die Schulpflicht endete. Andernfalls wollte man sie der Schule verweisen. Abitur machte sie deshalb an einer anderen Schule. Dort gab es einen Lehrer, der begeistert von Matzneffs Büchern war, sich einmal mit Springora traf und seine Lüsternheit nicht verbarg. Er war nicht der Einzige.

Matzneff verarbeitete seine Beziehung zu Springora in seinen Texten selbstredend nicht als Missbrauch. In seinen Werken nennt Matzneff sie V. und stellt sie der Leserschaft zur Schau. Er wurde in populäre Fernsehsendungen eingeladen. In einer stellte er die Vorzüge junger Mädchen gegenüber erwachsenen Frauen heraus, Frauen, die mit in der Gesprächsrunde saßen und nur lachten. Das Video ist auf youtube zu sehen. Mit ihrem Buch versucht Springora Matzneff in einem Text einzusperren und die Kontrolle über ihr Narrativ zu bekommen. Sie nennt sich V., Matzneff G.M.

Springora schreibt auch gegen ein gesellschaftliches Umfeld an, das im Namen der Kunst sexuellen Missbrauch gutheißt. Sie besucht einmal den Philosophen Emil M. Cioran, den Matzneff als seinen Mentor bezeichnet hat. Cioran erzählt ihr, dass sie im Grunde dankbar sein könne, dieses Genie Matzneff „auf seinem schöpferischen Weg zu begleiten, und auch, sich seinen Launen zu beugen.“ (S.117) Frauen würden, so Cioran, oft nicht verstehen, was ein Künstler braucht. Nach diesem Gespräch schreibt sie einen Trennungsbrief und beginnt mit der Ablösung von Matzneff.

Auch Weinstein bestand darauf, keine Frau vergewaltigt zu haben, er hätte immer die Einwilligung der Opfer gehabt. Über den Zusammenhang von Einwilligung und Macht denkt Springora in ihrem Buch viel nach.


Fazit

Vanessa Springora erzählt in Die Einwilligung, wie sie Opfer sexuellen Missbrauchs wurde, den sie anfangs für Liebe hielt,  und welche Bedeutung dabei ihre familiären Bedingungen sowie ein den Missbrauch begünstigendes, wenn nicht gar gutheißendes gesellschaftliches und kulturelles Klima haben. Springora stellt natürlich die Frage, was einvernehmlich bei einem Mädchen und einem erwachsenen Mann bedeutet. Und sie hat eine eindeutige Antwort, die sie gut begründet.

Anmerkung: Auf die in Rezensionen übliche Detailwertung verzichte ich bei diesem Buch.

Tags: #MeToo, Pädophilie, Kulturbetrieb, soziale Kontrolle