Bertelsmann, 2020
Originaltitel: My Dark Vanessa (2020)
Übersetzung von Ulrike Thiesmeyer
Gebunden, 446 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,90
ISBN 978-3-570-10427-9
Genre: Belletristik
Rezension
Kate Elizabeth Russells Debütroman beginnt im Jahr 2000. Ich-Erzählerin Vanessa Wyes ist eine 15 Jahre alte Schülerin in Maine, als sie sich von ihrem 42-jährigen Lehrer Jacob Strane, der in der Erinnerung immer Strane genannt wird, in eine Beziehung hineinmanövrieren lässt, die sie für ihre erste Liebe hält. Es beginnt mit kleinen Berührungen im Klassenzimmer und entwickelt sich sukzessive zu einer sexuellen Bindung. Vanessa schreibt Geschichten, Strane lobt ihre Arbeit, zitiert Nabokovs Lolita. Er gibt ihr das Buch zum Lesen. Sie steigert sich bis zur Obsession hinein in die Lektüre, bringt bisweilen die Erinnerungen im Roman mit ihren eigenen durcheinander.
Aus Lolita leitet sie die Vorstellung ab, Strane begehre sie, sie könne ja oder nein sagen, weshalb sie die Macht habe, „es“ geschehen zu lassen, also habe sie Macht über ihn. Strane belügt Vanessa. Er erzählt ihr, sie bestimme in der Beziehung, bringt sie dazu, ihn Daddy zu nennen. Verstand und Psyche des Mädchens verstehen, wie Russell detailliert entwickelt, nicht, was geschieht – die Grenzverschiebung, die Bewunderung und das sexuelle Begehren.
Die erinnerte Zeit Vanessas umfasst die Jahre 2000 bis 2007. Später, in 2017, die Erzählung wechselt ständig zwischen diesen Zeitebenen, ist Vanessa 32. Aus ihren Ambitionen als Schriftstellerin ist nichts geworden, sie hat eine beschädigte Psyche und einen miesen Job. Sie nimmt Drogen und Alkohol, hat gelegentliche sexuelle Begegnungen mit älteren Männern und eine Fixierung auf Strane, zu dem sie weiterhin Kontakt hält. Er kommt dabei gerne zurück auf ihr magisches Alter als Mädchen und schwelgt in Erinnerungen.
Während der Lektüre erlebt man die Vergewaltigungen eines Mädchens, dass sich zur Komplizin macht, ihren Vergewaltiger schützt. Zugleich aber nimmt sie wahr, dass sie nichts anderes als ein Objekt der Begierde ist. In den Jahren ihrer Kindheit und Jugend, über die Vanessa mit 32 nachdenkt, erleben wir die Manipulationen Stranes gleichsam aus erster Hand. Und da Vanessa ein intelligentes Mädchen ist, von Vergewaltigung und Missbrauch auch schon gehört hat, besteht die Strategie Stranes im Kern darin, ihr zu zeigen, dass sie etwas Besonderes und die Ausnahme von der Regel ist, also kein Missbrauch gegeben ist, sondern Liebe.
Strane impft ihr die Überzeugung ein, sie seien zwei verwandte Seelen, füreinander geschaffen, um in dieser miesen Welt bestehen zu können. Das glaubt Vanessa auch 2017 noch, als sie erfahren muss, dass Strane von einer anderen früheren Schülerin, Taylor Birch, des sexuellen Missbrauchs im Jahr 2006 angeklagt wird. Taylor bittet Vanessa, sie in ihrem Anliegen zu unterstützen. Aber auch Strane bittet sie darum, ihm zu helfen. Sie soll ihn entlasten. Vanessa weigert sich anfangs, was sie erlebt hat, als Vergewaltigung zu sehen, sie erinnert die Vergangenheit als große Liebe. Dann erfährt sie, dass es mindestens fünf weitere Opfer Stranes gibt.
Russell hat ein paar Szenen in die Handlung eingebaut, die dem „Fall Strane und Vanessa“ eine gesellschaftliche und systemische Dimension verleihen. Die Journalistin Janine Bailey schreibt für Femzine einen Artikel über Anschuldigungen von sexuellem Missbrauch an Stranes Schule. Vanessa vergleicht ihre Beziehung mit Erfahrungen, die Mitschülerinnen mit ihren gleichaltrigen Freunden machen.
„Niemand kann mir weismachen, es wäre besser für mich gewesen, so zu sein wie die anderen Mädchen an der Schule; irgendwelchen Jungen einen zu blasen, ihnen einen runterzuholen, all diese endlosen Mühen, ehe man als Schlampe abgestempelt und aussortiert wird.“ (S.231)
Hinzu kommt ein anderer Vergleich, den Vanessa bemüht: ihre Erfahrungen in der Kinderschutzbehörde, durch die sie ihr eigenes Erleben relativiert.
Eine Verbindung des Romans zu #MeToo ist nicht nur offensichtlich, sie wird auch inhaltlich hergestellt. Soziale Medien haben, bei aller Kritik, die gerne und zunehmend an ihnen geübt wird, einen erheblichen Anteil an diesem Diskurs. Missbrauchsopfer werden dort nicht nur diffamiert und müssen sich mit Hass-Postings auseinandersetzen. Sie erfahren durch #MeToo auch, dass sie nicht alleine und dass sie Opfer sind. Sie lernen, sich Gehör zu verschaffen und ihre Forderung nach Gerechtigkeit zu artikulieren.
#MeToo ist wahrscheinlich auch ursächlich verantwortlich dafür, dass sich Frauen gemeldet haben, die den britischen Fotografen und Filmemacher David Hamilton des sexuellen Missbrauchs angeklagt haben, an ihnen begangen, als sie minderjährig waren. Oder die Französin Vanessa Springora, die ihren Missbrauch als junges Mädchen durch den Schriftsteller Gabriel Matzneff in Die Einwilligung öffentlich gemacht hat.
Fazit
Kate Elizabeth Russells Meine dunkle Vanessa erzählt aus dem Leben des Teenagers Vanessa, die sich wünscht wahrgenommen und bewundert zu werden. Dies nutzt ihr Englischlehrer Strane, um sie zu verführen und sich sexuell gefügig zu machen. Der Sex mit Strane gefällt ihr nicht wirklich, aber ihr Lehrer fesselt sie in einer bestimmten Vorstellungswelt, aus der sie sich nicht befreien kann. Im Zentrum der Beziehung steht die Macht des Lehrers über seine Schülerin, deren Gefühlswelt er kontrolliert und durcheinanderbringt.
Pro und Kontra
+ differenzierte Hauptfiguren
+ intelligentes Psychogramm eines Opfers von Pädokriminalität
- eindimensionale Nebenfiguren
- unproduktive Wiederholungen und Längen
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5