Fragt morgen nach mir (Margaret Millar)

millar fragt morgen

Zürich 1978, 3. Auflage 1999 (Druckfassung derzeit nur antiquarisch erhältlich)
Diogenes, ebook, 01.07.2016
Originaltitel: Ask For Me Tomorrow (1976)
Übersetzung von Anne Uhde
€ 7,99 [D] | € 7,99 [A] | CHF 10,00
ISBN 978-3-257-60736-9

Genre: Kriminalroman


Syndicate Books 2017

Die Rezension basiert auf der englischen ebook-Ausgabe von Syndicate Books (datiert 2017, erschienen 5.9.2017), aus der auch Passagen übersetzt wurden.


Rezension

Die reiche Gilly Decker lebt mit ihrem zweiten Mann Marco im Küstenort Santa Felicia nahe Los Angeles. Marco ist seit einem Schlaganfall, den er während der Flitterwochen in Frankreich erlitten hat, ein Pflegefall. Gilly kümmert sich aufopfernd um ihn. Als Marcos Zustand kritisch wird, beauftragt Gilly den jungen Anwalt Tom Aragon, ihren Exmann B. J. Lockwood aufzuspüren. Der hat sie vor acht Jahren für das fünfzehnjährige Hausmädchen Tula Lopez verlassen, weil er diese geschwängert hatte.

Die einzige Spur ist ein alter Brief von Lockwood, in dem er Gilly um eine große Summe für ein Projekt bittet: die Erschließung von Tulas mexikanischem Heimatdorf Bahía de Ballenas in Baja California als Urlaubsort für reiche US-Touristen. Statt eines blühenden Küstenortes findet Aragon ein heruntergekommenes Nest mit ein paar Hütten und einer leerstehenden Fischfabrik vor. Lockwoods Sohn Pablo ist körperlich und geistig behindert. Lockwood selbst und sein zweifelhafter Geschäftspartner Harry Jenkins wurden wegen des Verdachts der Unterschlagung ins Gefängnis nach Rio Seco gebracht. Tula wurde von der Familie verstoßen und ist Lockwood gefolgt, ohne Pablo, der bei Verwandten in Bahía de Ballenas aufwächst.

Aragon spürt Jenkins in Rio Seco auf. Von Lockwood gibt es keine Spur. Er verschwand aus dem Gefängnis, während er und Jenkins auf den Prozess warteten, zu dem es nie kam. Kurz nach dem Treffen mit Aragon stirbt Jenkins unter zweifelhaften Umständen. Zwei weitere Personen, die Aragon helfen könnten, werden ermordet. Auch Aragon selbst gerät in Gefahr.

Tom Aragon, fünfundzwanzig Jahre, äußerlich ein Mix aus College-Professor und Spion, ist Junior-Jurist in der Kanzlei von Anwalt Smedler in Santa Felicia, zweisprachig, und mit einer Ärztin verheiratet. Die Ehe ist modern. Seine Frau lebt berufsbedingt getrennt von ihm in San Francisco und trägt nicht seinen Namen. Warum nicht?, wird Tom gefragt. Weil sie schon einen eigenen hatte, so die lapidare Antwort. Tom, eigentlich Tomás, spielt in mehreren Romanen von Margaret Millar eine zentrale Rolle, weniger als Jurist, denn als Amateurdetektiv im Auftrag von Smedlers reichen Klienten.

In diesem Fall ist Gilly nicht nur Smedlers Klientin, Smedler war auch ein guter Freund Lockwoods. Trotzdem gibt sich Gilly rätselhaft. Niemand soll ihr Motiv erfahren, nicht einmal Aragon. Sie verrät ihm nur, dass ihr Mann Marco nicht mehr lange zu leben hat und sie nach seinem Tod ganz allein ist. Sie habe keine Familie und keine Freunde, die sie nicht gekauft habe, so ihre nüchterne Bilanz. Aragon vermutet deshalb, dass sie Pablo finden und zu sich nehmen will. Ihrem Mann Marco erzählt Gilly hingegen, sie möchte an Lockwoods potentiellem Reichtum partizipieren.

Ihre neugierige Haushälterin Violet Smith glaubt an Gott und dass Gilly Marco ermorden und durch Lockwood ersetzen will. Sie hält über den Kirchenkreis engen Kontakt zu Lockwoods erster Ehefrau Ethel. Auch kursiert das Gerücht, Marcos Pfleger Reed, ein ziemlich fieser Mittdreißiger, der es sich im Haus der Deckers bequem eingerichtet hat, wolle Gilly (respektive ihr Geld) heiraten. Die potentiellen Verdächtigen mit ihren mannigfaltigen Motiven wie Gier, Eifersucht oder Rache werden wie nebenbei eingeführt. Nur die Figur, um die sich alles dreht, bleibt unauffindbar – so sieht es zumindest aus.

Die Geschichte entfaltet sich langsam und unspektakulär, doch spürt man hinter dieser Ruhe, wie sich Böses zusammenbraut. Von Beginn an durchziehen Verfall und Tod leitmotivisch den Roman, zuerst vage, dann mit zunehmender Verdichtung. Der Mann im Rollstuhl, die erstickenden Pflanzen – so beginnt auch Chandlers Der große Schlaf. Schon früh werden wichtige Hinweise gestreut, wird die Leserin auf eine falsche Fährte gesetzt. All das ist bis ins Detail durchdacht und wird so geschickt manövriert, dass das Ende eine Überraschung ist. Es ist ein Unhappy End mit einer hinterhältigen Extra-Volte. Gewöhnlich erfährt man in Millars Romanen vom american way of life and death in Kalifornien mit kleinen Abstechern nach Mexiko.

In Fragt morgen nach mir erfährt man vom mexican way of life and death, von Armut und Ignoranz, Korruption und Willkür der Behörden sowie von einem Problem, das sich noch richtig übel auswachsen wird: der Überschwemmung des US-Marktes mit Drogen aus illegalen Mohnfeldern in Mexiko, die das Heroin aus der Türkei ablösen. All das zusammen ergibt eine toxische Mischung, die einen wohlmeinenden, naiven Menschen wie Lockwood zugrunde richtet. Wie gefährlich das Leben in Mexiko ist, erfährt Aragon am eigenen Leib. Sind sie verheiratet, fragt ihn der Superintendent von der Mordabteilung. Aragon bejaht. Erwarte ihn seine Frau zurück? Aragon bejaht. In einer Kiste?


Fazit

Der Roman über einen mörderischen Plan handelt von obsessiver Liebe, Rache und Schuldgefühlen, nicht zuletzt von einer großen und vielen kleinen Illusionen. Millar zeichnet ein düsteres Bild einer von Korruption, Gewalt und Tod bestimmten Gesellschaft, in der niemandem zu trauen ist.


Pro und Kontra

+ spannend und unterhaltsam
+ straffe Erzählweise
+ ambivalente Charaktere, starke Dialoge mit schneidendem Witz

o manchmal etwas zu routiniert

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3/5


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