Kannibalen-Herz (Margaret Millar)

millar kannibalen herz

Zürich, 1988 (Druckfassung derzeit nur antiquarisch erhältlich)
Diogenes, ebook, 01.12.2016
Originaltitel: The Cannibal Heart (1949)
Übersetzung von Jobst-Christian Rojahn
€ 7,99 [D] | € 7,99 [A] | CHF 10,00
ISBN 978-3-257-60738-3

Genre: Mystery, Kriminalroman


Die Rezension basiert auf der englischen ebook-Ausgabe von Syndicate Books (erschienen 7.11.2017)


Rezension

Das Ehepaar Mark und Evelyn Banner aus New York hat sich mit der achtjährigen Tochter Jessie in ein einsam gelegenes Haus an der kalifornischen Pazifikküste eingemietet, um dort den Sommer zu verbringen. Jessie freundet sich mit Luisa an, der fünfzehnjährigen Tochter des langjährigen Hausmeisterehepaars Carl und Carmelita Roma. Gemeinsam erkunden die Mädchen das Gelände, den Wald, die Klippen, den Strand. Am Horizont liegt eine kleine Insel wie ein schlafender Riese, bewohnt nur von Möwen und Kormoranen, die in den Klippen nisten.

Das Großstadtkind Jessie ist begeistert von der Natur. Luisa erzählt Jessie von den Teufeln, die in dem Wald und unter den Holzplanken des leeren Pools leben und von einem toten Mann im Wald. Manchmal fürchtet sich Jessie vor Luisa und ihren Geschichten. Ihre Mutter Evelyn macht sich deshalb Sorgen, traut sich aber nicht, mit Luisa oder deren Eltern zu sprechen. Sie möchte es immer allen recht machen. Mark findet Luisa auch seltsam, weigert sich jedoch, mit ihr zu reden.

Überraschend kehrt die Hausbesitzerin Janet Wakefield für ein paar Tage zurück. Die 36-jährige Millionärswitwe will eine Inventur vornehmen und ihre persönliche Habe abholen, um das Anwesen nun, nach dem Tod ihres Sohnes Billy, zu verkaufen. Billy wurde nur neun Jahre alt. Er stürzte vor drei Wochen von Deck eines Schiffes ins Meer. Seit dem überraschenden Tod ihres Mannes John vor einem Jahr hatte Janet mit ihrem Sohn die Welt bereist. Mark fühlt sich von der attraktiven Frau angezogen. Doch er spürt auch, dass sie etwas verheimlicht. Was hat es mit der Taschenuhr auf sich, die Jessie in den Klippen findet? Warum sind die Fenster von Billys Zimmer vergittert? Die Romas dagegen treibt nur eine Frage um: Warum musste Billy sterben?

Sieben Personen unterschiedlicher ethnischer, kultureller und sozialer Herkunft treffen an einem abgeschiedenen Handlungsort aufeinander. Innerhalb weniger Tage entfaltet sich eine Handlungsdynamik, die langsam, aber unaufhaltsam auf eine Familientragödie zusteuert und eine weitere offenbart. Millar erzielt mit wenigen Mitteln eine große Wirkung, spinnt einen düsteren, spannenden Stoff aus dem Alltag von Figuren, die eigentlich nichts besonderes sind, und verknüpft deren Schicksale miteinander.

Der Roman wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, beginnt und endet jedoch mit der Sicht der kleinen Jessie. Ihre Streifzüge durch die Umgebung zeigen weniger die Schönheit der Natur, als deren Rohheit und zerstörerische Kraft. Es herrscht die jahreszeitübliche Trockenperiode im Kalifornien des Jahres 1948. Der Brunnen ist schon lange versalzen und mit einer Betonplatte zugedeckt. Der Swimmingpool ist wegen des Wassermangels leer und mit Holzplanken zugedeckt. Die Vegetation verdorrt, nur die Bäume überleben dank ihrer tiefen Wurzeln. Statt Wachstum und Regeneration herrschen Verfall, Tod, Verwesung. Selbst Jessies Seesternbaby stirbt einen langsamen Tod in seinem Glas.

Die Ankunft von Janet Wakefield verstärkt diesen Eindruck. Zwar bringt sie zunächst etwas Leben ins Haus, doch schnell wird deutlich, dass sie den Tod dabeihat. Und ein düsteres Geheimnis. Jessie macht durch ihre neue Freundin Janet eine ganz neue Erfahrung, die sie lieber nicht gemacht hätte. Es ist nur ein Vorgeschmack auf das, was sie und ihre Familie noch zu erwarten haben. Anschaulich schildert Millar, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, wie schnell Emotionen die Vernunft verdrängen. Am Ende glaubt Jessie, alle Lügen durchschaut und die Wahrheit gefunden zu haben. Ein großer Irrtum, dem nicht nur das Kind erliegt.

Auch die Erwachsenen leben mit ihren Illusionen, leugnen Fakten, konstruieren sich ihre eigene Welt: weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Wie gefährlich diese Einstellung sein kann, verdeutlich der Roman, ohne dabei das Phänomen Phantasie zu denunzieren. Das Figurenensemble ist klein, aber breit gefächert, reicht von der redundanten Evelyn bis zur dominanten Janet. Ein Gegensatzpaar wie aus dem Film Noir – die gute Gattin und die Femme fatale.

Dazwischen steht Mark, der im Krieg bei der Marine war und nun mit zwei seiner fünf Schwestern einen Verlag führt. Er korrigiert seine Frau mit dem Rotstift, analysiert und bewertet sie, pflanzt ihr Minderwertigkeitskomplexe ein. Es ist eine typische Ehe, in der es um männliche Dominanz geht, um Macht und Kontrolle. In kleinen Szenen mit hohem Wiedererkennungswert werden Evelyns Demütigungen in der Ehe geschildert. Doch so einfach macht Millar es uns nicht. Nicht immer ist es die Frau, die leidet, wie die Ehe der Wakefields zeigt. Deren Tragik schildert Millar in einem Rückblick aus der Sicht von John Wakefield.


Fazit

Der Mystery-Roman erzählt die Geschichte zweier amerikanischer Durchschnittsfamilien kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, einer Frau mit einem Geheimnis und einem ungeheuerlichen Plan. Wirkungsvoll entfaltet sich in einer Atmosphäre von Verfall und Klaustrophobie eine menschliche Tragödie. Es geht um große Erwartungen und geplatzte Lebensträume, um Verlust und den Umgang damit.


Pro und Kontra

+ ernste Behandlung eines düsteren Themas
+ psychologisch tiefgründig
+ enthält einige verstörende Szenen
+ interessante Ansichten aus kindlicher Perspektive

o mitunter melodramatisch

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3/5


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