Wie künstlich ist Intelligenz? - Science-Fiction-Geschichten von morgen und übermorgen (Hrsg. Klaus N. Frick)

Plan9 Verlag (2020)
Hardcover, ca. 200 Seiten, 20,00 EUR
ISBN: 978-3-948700-02-7

Genre: Science Fiction / Künstliche Intelligenz


Klappentext

Seit einiger Zeit beschäftigen sich Wissenschaftler, Journalisten und Politiker immer intensiver mit dem Thema der künstlichen Intelligenz. Für die Science-Fiction ist es nichts neues: Ob Positroniken oder MechWarriors, ein Leben im Cyberspace oder in der Virtuellen Realität – seit Jahrzehnten zählen künstliche Intelligenzen verschiedenster Ausprägung zum Kern der Science-Fiction. Wie sieht es die Science-Fiction heute? Neun Erzählungen und ein Artikel werfen ganz unterschiedliche Blicke auf künstliche Intelligenzen: Science-Fiction von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, mal erdverbunden, mal im All, mal satirisch, mal sehr ernsthaft.


Rezension

“Wie künstlich ist Intelligenz?“ ist die erste Anthologie des neuen SF-Verlags Plan 9 – mit einer Frage als Titel, die impliziert, dass es hier um das Wesen Künstlicher Intelligenz geht. Um ihre Möglichkeiten und Grenzen, ihre Fähigkeit zu denken, sich selbst zu optimieren, eigene Entscheidungen zu treffen und vielleicht zu fühlen, ein Bewusstsein für sich selbst zu entwickeln. Mehr zu werden als die Summe ihrer Teile. Doch die wenigsten Geschichten widmen sich der Titelfrage, die Künstlichkeit der Intelligenzen wird selten in Frage gestellt (sie bleiben künstlich) und bei manchen ist die KI gar nur schmückendes Beiwerk. Doch kommen wir zuerst zu den Lichtblicken dieser durchaus vielseitigen Anthologie:

In ihrer Cyberutopie „Ausstieg“ greift Judith C. Vogt CV Dazzle auf und lässt ihre Hauptfigur mit geometrischem Make Up KI-gesteuerte Überwachungssysteme austricksen. Ganz unsichtbar bleibt Jona jedoch nicht, ein Mensch durchschaut die Maskerade und eröffnet Unglaubliches. Die Autorin glänzt mit ihrer geschickten Storyführung, die eine erschreckende und eine hoffnungsvolle Wendung beinhaltet, und lässt ihre Leserschaft über Fragen zu Realität, Menschlichkeit und Lebendigkeit nachdenken. Kreative, moderne SF, wie man sie gern öfter lesen würde. 

Das zweite Juwel dieser Sammlung ist „Daheim“ von Gundel Limberg, eine humorvolle Geschichte über ein intelligentes Haus, das träumt und seine Bewohner verwöhnt. Auch als es in einem Museum landet, geht es beharrlich seiner Aufgabe nach. Die KI optimiert sich selbst und niemand weiß, wie sie programmiert wurde, da der Vorbesitzer verstorben ist. Das Haus erweist sich als schlagfertig und kreativ und beschert jede Menge Lesespaß. Gleichzeitig stellt die Autorin die ernsthafte Frage, was mit einer KI nach jahrelangem Lernen passiert, vor allem wenn sie ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr erfüllen kann.

Herausgeber Klaus N. Frick punktet in „Der Reigen der Sandteufel“ mit dem Setting in einer KI-kontrollierten Kuppelstadt auf dem Mars. Der jugendliche Protagonist hört draußen in der roten Wüste die Sandteufel tanzen und will sie unbedingt sehen, doch die Erwachsenen bestreiten, dass es sie gibt. Eine herrlich atmosphärische Geschichte, in der die KI jedoch zu kurz kommt. Auch liest sie sich mehr wie der Prolog zu einem Roman, den der Autor gerne schreiben dürfte.

“Wagners Stimme“ von Carsten Schmitt handelt von einem alten Mann, der an Alzheimer erkrankt ist und Unterstützung von einer KI erhält, die ihn daran erinnert, zu essen und zu trinken, den Kater zu füttern oder seine Termine wahrzunehmen. Der Autor beschreibt den geistigen Verfall Wagners eindrücklich und zeigt einfühlsam, wie die KI an ihre Grenzen stößt und diese überwindet. Zwar liegt der Fokus auf dem Menschen und nicht auf der KI, doch die Geschichte berührt und ist schlicht wunderbar menschlich.

Michael Marrak präsentiert in „Die Sapiens-Integrale“ gleich einen ganzen Schwarm von KIs, die im Weltall quasi einen Planeten gebaut haben. Ein Raumschiff wird durch einen Notruf dorthin geleitet und entdeckt Ungeheuerliches. Ähnlich wie Fricks Geschichte könnte diese ein Ausschnitt eines Romans sein, den man gerne lesen würde. Gespickt mit spannenden Ideen, die in der Kürze ihre Wirkung nicht ganz entfalten können. Vor allem über die Herkunft der KIs hätte man gern mehr erfahren.

Jannis Radeleff gibt Einblicke in den Alltag von „Crashtestdummys“, humanoiden KIs, die beruflich Haushaltsgeräte, Waffen oder auch Fahrzeuge auf ihre Sicherheit testen. In der Pause kommen die KIs aus verschiedenen Abteilungen zusammen und tauschen sich aus, was sich sehr amüsant liest, vor allem wenn die menschenähnlichen KIs über intelligente Kochtöpfe lästern. Dazu gibt es interessante Einblicke in die Zukunft, in der Geld durch CO2- und Energie-Credits ersetzt wurde - und in der die Menschen mit den KIs nicht gerade "menschlich" umgehen. 

Zu den schwächeren Beiträgen dieser Anthologie zählt „Johanna“ von Stefan Lammers. Eine dialoggetriebene Story über eine KI im Trainingsmodus, die suizidale Menschen von der Selbsttötung abhalten soll. Als sich jemand in ihr System hackt und ihr Genussmittel wie Zigaretten programmiert, entdeckt die KI ihre eigenen Bedürfnisse. Eine gute Idee, die an der naiven bis einfältigen Darstellung der KI und der Vorhersehbarkeit der Handlung scheitert.

Nele Sickel entwirft in „Eine völlig legale Kiste“ das bekannte Cyberpunk-Szenario eines interaktiven Neuro-Assistenten. SINA durchforstet für Malte das Netz, navigiert ihn durch die Stadt und gibt Ratschläge zu jedem Thema. Die beiden haben wohl eine enge Beziehung, doch in ihrer Kommunikation wird die Nähe nicht greifbar. Wie auch "Johanna" ist diese Story sehr dialoglastig und leider zu vorhersehbar.

Mit „Alles Geld der Welt“ beschert uns Andreas Eschbach die größte Enttäuschung der Anthologie (ausgerechnet als Eröffnungsgeschichte). Der arme Einserstudent, der in der Burgerbude schuftet und nicht etwa ein Stipendium am MIT hat, entwickelt ein intelligentes Programm, das nicht viel mehr kann als moderne Betriebssysteme. Doch durch einen Kniff erschafft er eine Superprogramm bzw. dieses erschafft sich selbst, was in etwa so glaubhaft ist wie das Hacken eines Alienmutterschiffs mit einem schnöden Laptop. Der misogyne Ton der Geschichte vermiest zusätzlich den Lesespaß. Es scheint, als hätte Andreas Eschbach den Anschluss an die Zukunft verpasst.

“Wie künstlich ist Intelligenz?“ bietet also zwei herausragende Geschichten, die begeistern und nachhallen, sowie einige gute, die teils leicht am Thema vorbeigehen, und drei schwache Beiträge mit mäßiger bis schlechter Umsetzung. Zu bemängeln ist vor allem, dass sich zu wenige Autor*innen intensiv mit dem Wesen von KI auseinandersetzen, sondern sie mehr als ein nebensächliches Element in ihre futuristischen Erzählungen einbauen. Die chinesische Anthologie „Quantenträume“ steigt tiefer in die Thematik ein und setzt sich stärker mit ethischen Fragen auseinander. Warum diese hier so kurz kommen, lässt sich im Nachwort von Reinhard Karger vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz erahnen: Er stellt klar, dass es kein maschinelles Bewusstsein geben kann. Beim Stand der heutigen Technik nachvollziehbar, doch der hundertprozentige Ausschluss der Möglichkeit, dass hochentwickelte Computer mehr als die Summe ihrer Teile werden könnten, erscheint voreilig. Schließlich wissen wir noch nicht einmal, wie das menschliche Bewusstsein entsteht. Und die Menschheit hat in ihrer Geschichte auch schon Tieren die Fähigkeit zu (komplexen) Gedanken und Gefühlen abgesprochen, was heute wiederlegt ist. Da hätte man sich fürs Nachwort etwas mehr „Fantasterei“ gewünscht. Karger argumentiert natürlich vom Stand unserer Gegenwart und aus Sicht eines Wissenschaftlers, nicht aus der eines SF-Autors mit Vision.

Positiv fällt die hochwertige Verarbeitung und edle Gestaltung des Hardcovers auf. Mit der silbrig glänzenden Schrift ist es ein echtes Sammlerstück. Im Anhang finden sich die Autoreninformationen, die vor den jeweiligen Geschichten vielleicht besser zur Geltung gekommen wären. Wen der hohe Preis abschreckt, sollte zur deutlich günstigeren eBook-Ausgabe greifen.


Fazit

”Wie künstlich ist Intelligenz?“ bietet neun sowohl inhaltlich als auch qualitativ ganz unterschiedliche Geschichten, die sich verschiedenen Formen der Künstlichen Intelligenz widmen und diese leider nicht immer in den Fokus rücken. Die Glanzstücke dieser Anthologie stammen von Judith C. Vogt und Gundel Limberg, die sich intensiv mit dem Wesen von KI beschäftigen und genau das tun, was gute SF immer tun sollte: Fragen stellen und zum Nachdenken anregen.


Pro und Contra

+ herausragende Beiträge von Gundel Limberg und Judith C. Vogt
+ atmosphärische Geschichten von Klaus N. Frick und Michael Marrak
+ einfühlsame Geschichte über Alzheimer von Carsten Schmitt
+ neun sehr unterschiedliche Beiträge
+ edle, gelungene Gestaltung des Hardcovers

- KI nicht immer im Fokus, teils auch nur Beiwerk
- Eschbach zeigt sich misogyn und unglaubwürdig

Wertungsterne3.5

Texte: 3,5/5
Auswahl: 3,5/5
Gestaltung: 4,5/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3/5


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Tags: Cyberpunk, Künstliche Intelligenz, deutschsprachige SF, Kurzgeschichten