Blutige Nachrichten (Stephen King)

King Blutige Nachrichten

Heyne, 2020
Originaltitel: If It Bleeds (2020)
Übersetzung von Bernhard Kleinschmidt
Gebunden, 560 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 36,90
ISBN 978-3-453-27307-8

Genre: Horror


Rezension

Stephen King bringt in Abständen gerne Novellensammlungen heraus, in denen er mit seinen Möglichkeiten experimentiert, thematisch und stilistisch die gewohnten Pfade seiner Romane verlässt. 1982 war dies Different Seasons (dt. Frühling, Sommer, Herbst und Tod, 1984), die vier lange Novellen enthält, die bei anderen Autoren vielleicht Romane geworden wären. Sie gehören zu seinen besten Arbeiten. "Stand By Me" und "The Shawshank Redemption" wurden verfilmt. In den dreißig Jahren darauf folgten drei weitere Bände: Four Past Midnight (1990; dt. in zwei Bänden: Langoliers, 1990, Nachts, 1991), Hearts in Atlantis (1999; dt. Atlantis, 1999), Full Dark, No Stars (2010; dt. Zwischen Nacht und Dunkel, 2010).

Und nun, rund zehn Jahre später, hat er mit If It Bleeds eine weitere Novellensammlung veröffentlicht. Nach eigener Aussage gefällt ihm das mittlere Format ausgesprochen gut, erlaubt es ihm doch, sich über das Maß einer Kurzgeschichte hinaus mit einem Stoff zu befassen, die Charaktere auszuformen, und zwingt ihn zugleich, gegenüber seinen langen Romanen, disziplinierter zu arbeiten.

In der ersten Novelle, "Mr. Harrigans Telefon", beschäftigt sich King mit der Faszination für Handys sowie den Auswirkungen dieser Technologie auf unser Leben. John Harrigan, ein alter Milliardär, der sich im ländlichen Maine zur Ruhe gesetzt hat, ist befreundet mit dem Nachbarsjungen Craig, seit dieser neun Jahre alt war. Craig erledigt Kleinigkeiten für ihn und liest ihm vor, wofür er ein Taschengeld und gelegentliche Lotterielose erhält. Als Craig 3000 $ gewinnt, schenkt er Harrigan ein iPhone. Wie bei King kaum anders zu erwarten, nimmt die Entwicklung einen phantastischen Verlauf, als Harrigan stirbt und Craig ihm das iPhone mit ins Grab gibt. Monate später wählt Craig in einer Notlage das iPhone an. Was folgt, erinnert an die bekannten EC Comics und Serien wie The Twilight Zone. Die behäbig vor sich hin trottende Geschichte wird in der Rückschau vom mittlerweile erwachsenen Craig erzählt.

"Chucks Leben" beginnt mit Marty Anderson und der Darstellung von Reklametafeln, auf denen ein Bild des Buchhalters Charles Krantz zu sehen ist, außerdem der Text: 39 WUNDERBARE JAHRE! DANKE, CHUCK! Die Novelle ist als Dreiakter angelegt, beginnt mit dem dritten und endet mit dem ersten Akt, die miteinander verbunden sind und Chucks Leben sowie das einiger Menschen, die darin eine Rolle spielen, zum Inhalt haben. Wir erfahren mehr darüber, wer dieser Chuck ist und was es mit den Reklametafeln auf sich hat. King entwickelt ein surreales Gewebe mit Gedanken über Musik, Tanz, Sterblichkeit und die Akzeptanz des Unvermeidbaren. Eine ganze Welt, die in Chucks Kopf entsteht, verschiedene Genres streift, eine schmerzhaft-zärtliche Geschichte.

Die mit Abstand längste Novelle ist mit knapp 240 Seiten "Blutige Nachrichten". Hauptfigur ist die Privatdetektivin Holly Gibney, die junge beschädigte Frau, die ihren ersten Auftritt 2014 in Mr. Mercedes hatte und zuletzt eine Nebenfigur in Der Outsider, erschienen 2018, war. Holly kommt in den Nachrichten über einen Bombenanschlag an einer Mittelschule in Pineborough, Pennsylvania der Reporter Chet Ondowsky seltsam vor. Sie recherchiert und findet heraus, dass Ondowsky auffällig oft als erster an Orten auftaucht, an denen schreckliche Dinge geschehen. Sie fragt sich, ob er diese Taten zu verantworten hat, um Topstorys zu bekommen. Oder aus einem ganz anderen Grund. "Blutige Nachrichten" greift Motive aus Der Outsider auf, kann aber auch ohne Kenntnis des Romans nachvollzogen werden. Wie in Der Outsider, muss Holly auch in der Novelle ein Monster bekämpfen, nun jedoch auf sich alleine gestellt. Sie muss einige Hindernisse überwinden, darunter ihre problematische Vergangenheit und ihre Angst.

In "Ratte" denkt King einmal mehr über das Wesen der Arbeit eines Schriftstellers nach. Der Protagonist heißt Drew Larson, dem es zu schaffen macht, dass er nach sechs veröffentlichten Kurzgeschichten drei erfolglose Anläufe unternommen hat, um einen Roman zu schreiben. Um seine Ehe nicht zu gefährden, arbeitet er weiter als College-Lehrer. Bis er den Drang verspürt, sich zu beweisen, dass er doch in der Lage ist, einen Roman zu schreiben, die Langstrecke zu bewältigen. Damit er ungestört arbeiten kann, zieht er sich in eine Waldhütte im Norden Maines zurück. Er entwickelt sich zunehmend in Richtung geistiger Erschöpfung und Verzweiflung, was ihn an den Rand des Wahnsinns treibt.

Drew sitzt zum Höhepunkt der Geschichte in einem Sturm fest, hat Fieber und bekommt Besuch von einer Ratte, die mit Jonathan Franzens Stimme zu ihm spricht. Drew und die Ratte schließen einen Vertrag. Im Kern geht es um die Frage, die schon in Goethes Faust gestellt wurde: was ein Mensch für Erfolg zu zahlen bereit ist. Was anfangs für eine Schreibblockade gehalten wird, erweist sich bald als das Gegenteil. Die Worte sprudeln nur so aus Drew heraus und drohen ihn zu zerstören.

"Mr. Harrigans Telefon" und "Blutige Nachrichten" erzählen vorhersehbare Geschichten. "Ratte" hat eins der Dauerthemen Kings zum Inhalt. "Chucks Leben" hat eine sehr gute Prämisse und ist nicht nur aufgrund der Organisation des Materials die beste Geschichte, traurig und hoffnungsvoll zugleich.


Fazit

Stephen King erzählt in Blutige Nachrichten vier atmosphärische Horrornovellen mit Ausläufern in den Krimi und die Fantasy. Sie weisen viele Verbindungen zur Popkultur und zu anderen Storys von King auf.


Pro und Kontra

+ kontrolliert und leicht erzählt
+ stimmungsvolle Beschreibungen
+ am schönsten in den Details

O relativ uninspirierte iPhone-Story

Wertung:sterne3.5

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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Tags: Kleinstadtgeschichten, Sensationsjournalismus, Novellen, Gestaltwandler, Stephen King