C.H. Beck, 2020
Gebunden, 457 Seiten
€ 29,95 [D] | € 30,80 [A] | CHF 45,90
ISBN 978-3-406-74899-8
Genre: Sachbuch
Rezension
Seit 1438 waren die Habsburger die herrschende Dynastie in Europa. Sie stellten die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und wurden als politische Konstruktion zum Mythos. Karl V. war Kaiser des Übergangs vom Mittelalter in die Neuzeit. Geboren wurde er 1500, gestorben ist er 1558 als einziger Kaiser, der abgedankt hat. In Konsequenz einiger Todesfälle begann Karl als Erbe von Herrschaftsräumen: Kastilien, Aragón, Burgund, die österreichischen Erblande. Eines seiner wichtigsten Instrumente zur Sicherung oder Stabilisierung seiner Herrschaft war die Heiratspolitik, durch die er Verwandte strategisch an europäischen Höfen unterbrachte.
Seine Regentschaft wurde bestimmt durch innere und äußere Konflikte. Es war die Zeit der Glaubensspaltung. Die deutsche und die Genfer Reformation waren für die römisch-katholische Welt eine große Herausforderung. Im Jahr 1517 traf der gerade 17-jährige Karl in Worms auf Martin Luther. Er suchte die religiöse Einheit des Reiches, konnte die Ausbreitung des Protestantismus jedoch nicht verhindern. Ebenso wenig gelang ihm sein politisches Projekt. Frankreich und England befanden sich auf dem Weg zu Nationalstaaten, während das Kaisertum einen universalen Anspruch hatte.
Karl befand sich in einem Dauerkonflikt mit Frankreich, beschreibbar als Wechsel aus Krieg und Frieden. Er musste eine Antwort finden auf die Expansionsbestrebungen des osmanischen Reiches, das Ziele in Europa angriff, darunter Wien. In der Darstellung der außenpolitischen Auseinandersetzungen mit dem osmanischen Reich fokussiert Schilling Karls glanzvollen Sieg vor Tunis 1535 und die 1541 durch Umweltbedingungen herbeigeführte Katastrophe vor Algier.
Mit zunehmenden Schwierigkeiten, seine kostspielige Politik zu finanzieren, vor allem Kriege gegen das osmanische Reich und innerhalb Europas, wurde für Karl die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs über Europa hinaus bedeutsam. Zur Erschließung neuer Quellen von Reichtum und Rohstoffen erfolgte die Kolonisierung Mittel- und Südamerikas. Die Ausführungen über Karl und die Konquistadoren, die Eroberungspolitik, deren Marksteine bekannt sind als Cortés und das Aztekenreich, Pizarro und das Reich der Inkas, sowie die erste Weltumsegelung durch Magellan, vermitteln hierzu einen interessanten Einblick.
Das Spannungsverhältnis zwischen Universalherrschaft und Regionalisierung bestimmt die Zeit, und sie ist damit unserer Gegenwart zumindest strukturell nicht unähnlich. Weshalb, sollte man aus Geschichte lernen können, die Zeit Karls V. auch unserer etwas mitzuteilen haben könnte. Karl hat die Regionen als kulturell und rechtlich diverse Räume respektiert, wollte das Reich zwar einen, aber nicht als vermeintlich homogenes Konstrukt regieren.
Der Autor beschreibt gesellschaftliche und politische Verhältnisse, die politische Interaktion von weltlichen und religiösen Instanzen, die gesellschaftlichen Strukturen hingegen eher gering. Breiten Raum nehmen die dynastischen Herrschaftskomplexe ein, diffizile Konfliktlinien werden nachvollziehbar entwickelt. Karls Abwägung von Interessen wird auf spannende Weise als Prozess deutlich gemacht, wobei das Austarieren von Machtinteressen Dritter eine starke Rolle spielt, während persönliche Dinge untergeordnet sind.
Schilling betrachtet nicht nur das engere Umfeld von Hauptfigur und Thema. Er erschöpft seine Darstellung nicht in einem historischen Partialnarrativ. Seine Perspektive ist umfassender. Er sieht die Hauptfigur in ihrer Zeit und ihrem Raum und berücksichtigt Kräfte, die die Formierung der Welt Karls V. vorantreiben. Wir lernen deshalb nicht sogleich Karl kennen. Schilling beginnt mit den Jahren vor Karls Geburt und baut gleichsam die Handlungsbühne auf, bevor der Protagonist sie betritt.
Schilling bringt uns die Welt Karls näher, zeigt aber auch, dass sie uns sehr fremd ist und wir sie oftmals gar nicht verstehen können. Er vermittelt uns Karl als Menschen des frühen 16. Jahrhunderts in all seiner Fremdheit, einen Menschen, der schon als Kind ein Bewusstsein dafür gehabt zu haben scheint, welche gesellschaftliche und politische Bedeutung er einmal haben wird.
Bereits mit dem ersten Band seines Triptychons der aufbrechenden Neuzeit, der Zeitbiografie 1517 – Weltgeschichte eines Jahres, formulierte Schilling den Anspruch einer globalen Betrachtung. Dies ist sinnvoll, wenn die Geschehnisse so eingeordnet werden sollen, dass deutlich wird, wie sie globale Entwicklungen beeinflussten und von diesen beeinflusst wurden. Diesen Anspruch erfüllen auch die beiden Komplemente zum Mittelstück des Triptychons, die beiden Personenbiografien: Martin Luther - Rebell in einer Zeit des Umbruchs und Karl V. - Der Kaiser, dem die Welt zerbrach.
Heinz Schillings Buch über Karl V. besteht aus einem Prolog, 13 Kapiteln, einem Epilog und einem Anhang. Im Prolog führt Schilling drei Propositionen an und begründet sie nachfolgend kurz. Der Epilog schließt das Buch mit Gedanken über die Zeit nach Karls Tod. Der Anhang besteht aus acht Abschnitten, interessanten Ausführungen zur Forschungslage und Positionsbestimmung, Anmerkungen zum Haupttext, einer Karte „Europäer in der Neuen Welt zur Zeit Karls V.“, einer Bibliographie, einem Bildnachweis, einer Genealogie in Form einer Stammbaum-Grafik, einem Personen- und einem Ortsregister. Außerdem enthält der Band zwei sehr gute Farbkarten.
Fazit
Karl V. - Der Kaiser, dem die Welt zerbrach ist Ergebnis der Beschäftigung des Historikers Heinz Schilling mit der Entstehung des neuzeitlichen Europas, ein auch für geschichtlich interessierte Nicht-Historiker ein lesenswerter Beitrag über die Akteure und Bedingungen, die in der Formierung der Zeit und Europas eine Rolle spielten. Elegant erzählt und sehr gut lesbar.
Pro und Kontra
+ lesenswertes Porträt eines ohnmächtigen Mächtigen
+ chronologisches Vorgehen mit Schärfenziehung auf Schlüsselereignisse
+ inhaltlich erweitert durch auf thematische Strukturen gerichtete Perspektiven (Karl und die Frauen, Auseinandersetzung mit dem neuen Protestantismus, sozioökonomischer Wandel)
+ Vernetzung durch Querverweise, Vorgriffe und Rückgriffe
Wertung:
Inhalt: 5/5
Präsentation: 5/5
Lektüreertrag: 5/5
Preis/Leistung: 5/5