Emons, 2020
Gebunden, 272 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-7408-0914-0
Genre: Thriller
Rezension
Nach Jahren der Gefangenschaft, der Misshandlungen, Folter, des sexuellen Missbrauchs entkommt eine junge Frau, genannt Madonna, ihren Peinigern mit Unterstützung eines der Täter, Ghost, der sich in sie verliebt hat. Im Unterschlupf, einer Waldhütte, tötet sie den Mann, fackelt die Hütte ab und geht zurück in die Großstadt, aus der sie ursprünglich kommt. Madonna begibt sich auf einen Weg der Rache, ihr stehen unerwartete Verbündete zur Seite im Kampf gegen hervorragend vernetzte Verfolger.
Der Titel des Romans, Ich bin der Sturm, erinnert an Shakespeares Der Sturm, in dem Prospero das ihm zugefügte Unrecht durch Rache ausgleichen will. Seine Rachegefühle drohen ihn zu verzehren. Stärker noch erinnert er aber an Ramin Djawadis Titel "I Am the Storm", aus dem Soundtrack der 7. Staffel von Game of Thrones, in dem ebenfalls eine Ghost genannte Figur vorkommt. Und so grimmig und düster wie die Serie ist auch der Roman. Weiter gibt es eine Verbindung zu "Rape and Revenge Movies", die im Regelfall aus drei Akten bestehen: Martyrium – Wiederherstellung – tödliche Rache. Diese Struktur findet sich auch in Ich bin der Sturm. Der Roman ist in drei Teile gegliedert, die mit "Hölle", "Auferstehung" und "Erlösung" überschrieben sind und damit einen starken christlichen Motivkomplex reflektieren.
„Es ist ein Schlachthaus, dieser Ort, eine Fleischfabrik.“
Im Hintergrund der Erzählung schwingt ein Diskurs über Machtdispositive mit. Mädchen und junge Frauen werden eingesperrt, diszipliniert und konditioniert. Ihre (männlichen) Peiniger betten sie in ein Ablaufschema produktiven Missbrauchs ein, in dem sie an einflussreiche und reiche Kunden vermietet und von diesen auf unerträgliche Weise konsumiert werden. Die Macht der Täter findet ihren Ausdruck in der Kontrolle, die Bewusstsein und Körper der Opfer durchdringt und ihr Leben vollständig bestimmt. Bis sie am Ende entsorgt werden, zerlegt und vergraben, in anderen Prozessen verarbeitet.
Madonna entkommt dieser Hölle körperlich, wie eine durch Kriegsgräuel traumatisierte Soldatin. Und als Soldatin rächt sie sich dann auch in den beiden folgenden Teilen der Erzählung, in welche die Hölle des ersten Teils hineinwirkt. Ihre Rache folgt einer Mechanik, die gelegentlich gestört wird, wodurch sich neue Probleme ergeben. Psychische Probleme und emotionale Beziehungen erzeugen zusätzliche Störungen im Ablauf.
Die Protagonistin bewegt sich in einem Mikrokosmos der ständigen Grenzüberschreitungen, die Gefangenen sind zwar noch Menschen, aber durch die Täter auf das reine körperliche Leben verkürzte Menschen. Je nach Preis können die Peiniger mit ihnen machen, was sie wollen. Anschließend werden sie von medizinischem Personal wieder zusammengeflickt oder entsorgt, wenn sie nicht mehr benutzbar sind. Hier arbeitet Kastel nicht explizit, mit Splatter und Gewaltdarstellungen. Vielmehr beschreibt sie suggestiv, dies durchaus wirksam. Was ihre Beschreibungen im Kopf entstehen lässt, kommt bekannt vor. Man kann Verbindungen ziehen zu beispielsweise Christina Lambs Unsere Körper sind euer Schlachtfeld, gerade in deutscher Übersetzung erschienen.
Madonna, deren wirklicher Name erst spät genannt wird, bewegt sich in einer Welt von Männern, die alles einer von ihnen geschaffenen künstlichen Ordnung unterwerfen. Zu ihren Verbündeten gehört ein Polizist, dem sie anfangs misstraut, weil in seiner Dienststelle materielle und moralische Korruption herrscht. Er verfolgt sehr persönliche Interessen, als er ihr hilft und sie auf einen Ermittlungsweg bringt. Madonna kennt die Täter und teilweise auch die Verbindungen, muss aber schrittweise und vorsichtig vorgehen, um das ganze Beziehungsgeflecht verstehen zu können, damit sie ihre Rache vollziehen kann.
Die Spannung ergibt sich daraus, dass wir Madonnas Perspektive, ihr Handeln, ihre Gedanken und ihr Verstehen der Zusammenhänge, vermittelt bekommen, wobei wir ihren Informationsstand nicht überschreiten. In Kastels Erzählung finden sich Motive, die wie gerahmte Handlungsdetails erscheinen – das Geschwisterpaar, die Clubs, der Polizist und seine Schwester. Dadurch hebt sie aus der dynamischen Rachegeschichte effektiv Inhalte hervor.
In ihrem thematisch verwandten Roman Worüber wir schweigen erzählt Kastel ebenfalls eine Rachegeschichte, mit einem Geheimnis, dessen Ursprung weit in der Vergangenheit liegt und mit einer dysfunktionalen Familie zusammenhängt. Das Geheimnis hat Wirkungen in der Gegenwart und wird am Ende aufgelöst. Auch gibt es Bewegungen zwischen den zwei Handlungsorten Stadt und ländlicher Raum. In beiden Büchern besteht ein enger Zusammenhang zwischen Sexualität und Gewalt.
Fazit
Eine traumatisierte Frau sieht rot in Michaela Kastels Thriller Ich bin der Sturm und nimmt Rache nach Jahren erlittener körperlicher und seelischer Grausamkeiten. Das Ende ist offen, mag als Cliffhanger interpretiert werden, bewahrt die Geschichte aber letztendlich davor, an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Pro und Kontra
+ kurze, gut rhythmisierte Erzählung
+ keine spekulativen Szenen
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5
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