Die kleine Schwester (Raymond Chandler)

chandler kleine schwester

Diogenes, 2020
Originaltitel: The Little Sister (1949)
Übersetzung von Robin Detje
Mit einem Nachwort von Michael Connelly
Leinen, 352 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 32,00
ISBN 978-3-257-07139-9

Genre: Kriminalroman


Rezension

Privatdetektiv Philip Marlowe wird von der Arzthelferin Orfamay Quest aus der Kleinstadt Manhattan in Kansas mit der Suche nach ihrem Bruder Orrin beauftragt. Orrin, der seit zwei Jahren als Ingenieur bei den Flugzeugwerken in Bay City arbeitet, hatte regelmäßig Briefe an die kleine Schwester und die Mutter geschrieben. Vor einigen Wochen dann brach der Kontakt plötzlich ab. Die Suche führt Marlowe in eine billige Pension in der Idaho Street, wo Orrin ein Zimmer hatte. Der Hausverwalter Clausen, ein schmieriger Säufer und Drogenabhängiger, gibt an, dass Orrin vor einigen Tagen ausgezogen ist. Im alten Zimmer Orrins findet Marlowe den zwiespältigen George Hicks vor, der eilig verschwindet, wobei er die Seite mit der Eintragung von Orrin B. Quest aus dem Meldebuch des Verwalters mitnimmt, den Marlowe gleich darauf mit einem Eisdorn im Nacken tot auffindet.

Ein anonymer Anrufer lockt Marlowe in ein Zimmer des Van Nuys Hotels. Dort überrascht Marlowe eine vermummte Blondine, die ihn mit einem Revolver bewusstlos schlägt. Als er aufwacht, findet er den toten Zimmergast George Hicks. Auch diesem steckt ein Eisdorn im Nacken. Unter Hicks’ Perücke findet Marlowe die Fotonegative, nach denen die Blondine gesucht hat. Es gelingt ihm, aus dem schäbigen Hoteldetektiv ihr Autokennzeichen herauszuquetschen und so ihren Namen zu ermitteln. Es handelt sich um Mavis Weld, eine junge Schauspielerin mit klarem Star-Potential. Marlowe hält sie für unschuldig und bietet ihr seine Hilfe an. Sie lehnt kategorisch ab.

Die Fotonegative zeigen Mavis Weld mit ihrem Geliebten, Ex-Gangster Steelgrave alias Weepy Moyer. Offenbar wollte Orrin, ein begeisterter Hobby-Fotograf, Mavis, Steelgrave oder beide erpressen. Denn die Fotos zerstören Steelgraves Alibi in einem Mordfall und diskreditieren Mavis als Gangsterbraut. Das könnte ihm das Leben und sie die Karriere kosten. Die weitere Suche führt Marlowe zu dem Neurologen Dr. Lagardie. Der dubiose Doktor betäubt ihn mit einer vergifteten Zigarette. Als Marlowe aufwacht, findet er den sterbenden Orrin mit einer Kugel im Körper und einem Eispickel in der Hand.

Der Roman erzählt eine ziemlich verworrene und überkonstruierte Erpressergeschichte, in der die Geschwister Orrin und Orfamay Quest die eigene Schwester Leila, die unter dem Namen Mavis Weld in Hollywood Karriere macht, mit belastenden Fotos zu erpressen versuchen. Involviert ist außerdem das erotomanische Starlet Dolores Gonzales, Steelgraves Ex-Geliebte und Ehefrau von Drogenarzt Dr. Lagardie. Jedoch ist ihr Motiv nicht Geld. Sie ist die klassische Femme fatale, die aus Liebe respektive zu Hass gewordener Liebe ein Mordkomplott schmiedet. Die Geschichte dieses Komplotts ist mit der Erpressergeschichte derart kompliziert verknüpft, dass Marlowe sie erst gegen Ende durchdringt.

Auch Marlowes Auftraggeberin ist eine undurchsichtige Figur. Marlowe hat verschiedene Gründe, ihr nicht zu trauen. Der Roman beginnt damit, dass Marlowe in seinem Büro von einer Schmeißfliege genervt ist und geduldig wartet, bis sie sich setzt und er sie erschlagen kann. Damit ist das Thema des Romans bestimmt. Es geht ums Töten. Sechs Morde, wovon einer vor Erzählbeginn geschieht, und ein Suizid lautet die Bilanz. Chandler begann bereits 1944 mit der Arbeit an dem Roman, quälte sich aber ziemlich damit herum und zeigte sich selbst genauso unzufrieden mit dem Ergebnis wie die Kritik.

Die Handlung ist sehr verworren, die Figuren und ihre Beziehungen untereinander sind recht oberflächlich. Manche Typen sind schon bekannt aus vorherigen Romanen, wie der Drogenarzt oder die Konstellation der guten und der bösen Schwester. Die Gesellschaftskritik wirkt aufgesetzt und verstärkt den inhomogenen Eindruck des Romans, der Chandler als Plattform zur Abrechnung mit dem ihm verhassten Hollywood-Showgeschäft dient. Die Morde, die Dolores und Lagardie aus ihrem Liebesverständnis begehen, sind wohl Chandlers zynischer Kommentar auf das verlogene Happy End der Hollywoodfilme.

Bei aller Kompliziertheit jedoch führt Chandler die Geschichte einem logisch nachvollziehbaren Ende mit einer ziemlich bitteren Schlusspointe zu. Den letzten Mord hätte er vielleicht verhindern können, weil er ihn vielleicht erahnt hatte – wenn er es gewollt hätte. Doch so genau will Marlowe es auch wieder nicht wissen. Auf jeden Fall lesenswert wird der Roman durch die treffsicheren Dialoge, die mal witzig, mal ironisch sind und voller Galgenhumor, sowie den zynischen, abgeklärten Blick des Protagonisten auf die Verdorbenheit und Heuchelei der Menschen, die Korruptheit eines Staates und seiner Vertreter. Die Korruption aufzudecken und wenigstens einen guten Menschen zu finden und zu retten, darin sieht er den übergeordneten Sinn seiner Detektivarbeit.


Fazit

Die kleine Schwester ist der fünfte von sieben Romanen um Philip Marlowe, den hartgesottenen, zynischen Ich-Erzähler und Privatdetektiv aus Los Angeles. Diesmal bekommt er es mit Erpressung und Mord im Hollywoodmilieu zu tun hat. Der düstere Roman ist eine nicht ganz gelungene Abrechnung Chandlers mit dem System Hollywood, das ihm aus eigener Erfahrung vertraut und verhasst war.


Pro und Kontra

+ starke Dialoge, witzig, Galgenhumor

o eine komplexe, bisweilen jedoch überkonstruierte Handlung
o einige Figuren und Handlungselemente sind uninspiriert, folgen lediglich bekannten Mustern

- Gesellschaftskritik wirkt oft aufgesetzt und macht die Geschichte inhomogen

Wertung:sterne3

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 3/5


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Tags: Noir, Hardboiled-Kriminalroman, Raymond Chandler