Klett Cotta (September 2020)
Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann und Benjamin Mildner
Hardcover, 464 Seiten, 25,00 EUR
ISBN: 978-3-608-50474-3
Genre: Science Fiction / Cyberpunk / Zeitreisen
Klappentext
Die App-Flüsterin Verity Jane testet im Auftrag eines mysteriösen Start-ups ein neues Produkt. Eunice, eine Künstliche Intelligenz, die sich rasant weiterentwickelt. Währenddessen arbeiten in London – ein Jahrhundert voraus – Wilf Netherton und seine Chefin Ainsley Lowbeer daran, mit Hilfe von Eunice, ihrer Software-Agentin, Veritys Welt vor einem drohenden Atomkrieg zu bewahren. Doch plötzlich ist Eunice verschwunden …
Rezension
Als Verity Jane von einem Start-up eine Datenbrille mit Künstlicher Intelligenz zur Verfügung gestellt bekommt, gerät ihr Leben aus den Fugen. Zuerst ist die Technik-Testerin von der KI, die sich als Eunice vorstellt, begeistert, scheint sie doch ihrer Zeit weit voraus zu sein und sogar über eine eigene Persönlichkeit zu verfügen. Doch plötzlich wird Verity verfolgt und das Start-up will Eunice zurückhaben – die hat jedoch ganz andere Pläne. Und dann mischen sich auch noch Leute aus der Zukunft ein. Während Verity von den Ereignissen überrollt wird, hat Eunice längst an einem Netzwerk gearbeitet, dass Verity beschützt. Auch als die KI plötzlich verschwindet, erhält Verity Hilfe von diesem Netzwerk, zu dem auch Veritys Exfeund und dessen Sicherheitschef sowie ein stummer Barista gehören. Es gilt nun, Eunice wieder zu finden und einen drohenden Atomkrieg zu verhindern …
„Agency“ ist der zweite Band der Jackpot-Trilogie, lässt sich jedoch auch als Einzelband lesen, da der Handlungsstrang mit Verity und Eunice neu ist und für Wilf Netherton seit „Peripherie“ etwas Zeit vergangen ist. Man muss allerdings anhand der wenigen Informationen, die Gibson einstreut, das Zeitreisekonzept verstehen: Wilf lebt im 22. Jahrhundert, in einer Zeit nach dem sogenannten „Jackpot“ – der ultimativen Klimakatastrophe, die den Großteil der Menschheit das Leben gekostet hat. Dieser Jackpot war keine schlagartig eintretende Apokalypse, sondern ein schleichender Prozess, der einen Kipppunkt überschritten hat. Diejenigen, die über genug Geld und Ressourcen verfügten, haben diese Zeit relativ gut überstanden und sich dank neuer Technologien eine Zukunft aufgebaut, die sowohl dystopische als auch utopische Züge hat. In dieser Zukunft ist es möglich, auf Computersysteme der Vergangenheit zuzugreifen und so neue Zeitlinien (Stubs) zu initiieren. Verity lebt in einer solch alternativen Zeitlinie, in der Amerika keinen Präsidenten, sondern eine Präsidentin hat (man weiß, wer gemeint ist) und Großbritannien sich für den Verbleib in der EU entschieden hat.
Die Menschen in Wilfs Zukunft glauben, dass sie quasi im Hauptast all dieser Zeitlinien leben, weil sie diese initiieren. Das tun sie teilweise, weil sie die Vergangenheit verstehen und zum Positiven verändern wollen, auch wenn sich die Katastrophe für sie dadurch nicht verhindern lässt, teilweise aber auch einfach, weil sie es können und Spaß daran haben. Im 22. Jahrhundert gibt es diverse Oligarchen, die die Politik gestalten, und es gibt verschiedenste KIs und Androiden, die darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Menschen den Klimakollaps nicht überlebt haben. Wilf Netheron kennt man noch aus „Peripherie“, wobei man in „Agency“ einen ganz neuen Wilf kennenlernt, der Termine bei seiner Chefin absagt, weil er sich um sein Kind kümmern muss (was ganz selbstverständlich akzeptiert wird). Familie und Arbeit scheinen in dieser Zukunft vereinbar zu sein, zumindest in London.
Mit Verity tritt Wilf über einen sogenannten Biped, einen zweirädrigen Roboter, in Kontakt, für den er die Baupläne zuvor an Eunice übermittelt hat. Zwar hat sich in Veritys Zeitlinie vieles zum Guten verändert, doch an anderen Stellen eskalieren Konflikte und es droht sogar ein Atomkrieg. Wilf und seine Chefin unterstützen Eunice, diesen zu verhindern, doch wie genau sie das anstellt, bekommt man als Leser*in nicht mit. Die Handlung konzentriert sich auf Verity, die ständig auf der Flucht ist und von verschiedenen Akteuren in Eunice‘ Netzwerk unterstützt wird. Das mag verwirrend erscheinen, entspricht aber sehr William Gibsons Erzählstil, bei dem die großen Dinge im Hintergrund passieren, während die Geschichte ganz nah an den Figuren bleibt. Entsprechend wird man wie Verity einfach mitgerissen und kann nur zusehen, wie sich die ganzen Handlungsfäden nach und nach ineinander verflechten.
Obwohl „Agency“ fast schon utopische Züge hat, hat der Roman Ähnlichkeiten zu „Neuromancer“ und liest sich ebenso temporeich. Man hat das Gefühl, hier endlich mal wieder etwas Neues zu lesen, denn während Cyberpunk aktuell wieder stark im Kommen ist, scheint Gibson gefühlt schon Lichtjahre weiter zu sein und entwirft eine Zukunft voll innovativer Technologie. Dabei ist es nicht die Technologie sondern der Umgang der Menschen mit ihr, der die Geschichte trotz aller Skurrilität faszinierend und authentisch macht. Wenn sich der Klimawandel weiter so dramatisch entwickelt und die Menschheit nicht endlich zusammenarbeitet und die Kurve kriegt, wird es wohl so kommen: Die Reichen überleben, weil sie sich vor den Auswirkungen der Klimakrise besser schützen können, während die anderen vernichtet werden. Und falls sie tatsächlich eine Möglichkeit finden, in der Vergangenheit herumzupfuschen, dann werden es manche von ihnen aus Langeweile und Lust heraus tun.
Besonders spannend in „Agency“ ist Eunice, die mitten in einem rasanten Entwicklungsprozess steckt. Sie verfügt über unzählige Ableger, die Jobs im Netz erledigen und dann zu ihr zurückkehren. So weiß sie selbst noch nicht, wie groß ihre Fähigkeiten eigentlich sind. Anders als die KIs Wintermute und Neuromancer, die ihre eigenen Ziele verfolgten, ist Eunice den Menschen zugewandt und will mit ihnen zusammenarbeiten. Durch ihren Entstehungsprozess hat sie teilweise selbst menschliche Züge, sie flucht beispielsweise gerne und viel. Und sie will helfen und die Welt zu einem besseren Ort machen. Doch vorher muss sie sich vor dem Zugriff derer schützen, die sie fürchten oder für kommerzielle/militärische Zwecke missbrauchen wollen. Eunice ist kein Produkt, sie ist eine völlig neue Art von Leben, mit eigenem Willen und Verbündeten. Man darf gespannt sein, was William Gibson für den dritten Band seiner Trilogie einfallen wird.
Fazit
„Agency“ liest sich ähnlich innovativ wie „Neuromancer“ und begeistert seine Leser*innen mit neuen, krassen Technologien, einem spannenden Zeitreisekonzept und einer sympathischen, schlagkräftigen KI, die zur Chance für eine bessere Zukunft wird. William Gibson hat ein einzigartiges Gespür für die Interaktion zwischen Mensch und Technik und fordert seine Leser*innen mit hohem Erzähltempo und seinem einzigartigen Stil, der sich stets anfühlt, als wäre man Teil seiner Zukunft/der alternativen Zeitlinie – die letztlich ein Spiegel unserer Gegenwart ist.
Pro und Contra
+ Eunice als komplexe, den Menschen zugewandte KI
+ Interaktion von Mensch und Technologie
+ spannendes Zeitreisekonzept mit alternativen Zeitlinien
+ unheimlich originell und temporeich
+ denkt unsere Gegenwart weiter
+ leicht utopische Züge
+ unterschwelliger Humor
+ Mix aus coolen Metaphern und Technik-Slang
+ interessante Protagonist*innen
+ der stumme, verflucht heiße Barista
o muss man möglichst in einem Rutsch lesen
o Fremdartiges erstmal zu akzeptieren, erleichtert das Lesen ungemein
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3,5/5