Marseille.73 (Dominique Manotti)

manotti marseille73

Argument Verlag, 2020
Originaltitel: Marseille 73 (2020)
Übersetzung von Iris Konopik
Gebunden, 397 Seiten
€ 23,00 [D] | € 23,70 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-86754-247-0

Genre: Kriminalroman


Rezension

Echte politische Kriminalromane sind selten, echte politische Krimiautoren noch seltener. Dominique Manotti ist eine von ihnen. Die Historikerin und ehemalige Gewerkschafterin schreibt seit beinahe dreißig Jahren explizit politische Kriminalromane, in denen sie brisante Themen der jüngeren französischen Geschichte behandelt. In ihrem jüngsten Buch Marseille.73 geht es um eine rassistisch motivierte Mordserie im Jahr 1973, die sich gegen die maghrebinische Bevölkerung richtet.

Betroffen ist vor allem Marseille, wo viele Immigranten im Hafen, in den Werften und im Bau arbeiten. Angeheizt wird der Rassismus durch den Runderlass Marcellin-Fontanet, der einen Großteil der Schwarzarbeiter zu Illegalen erklärt, zu „Sans-Papiers“. Ab dem Sommer 1973 sind sie Abschiebekandidaten. Laut der algerischen Botschaft werden im Sommer und Herbst 1973 ca. 15 Immigranten in Marseille und rund 50 in ganz Frankreich ermordet. Nur zwei Täter werden gefasst.

Diese grobe Skizze bildet den Hintergrund des Romans mit Commissaire Théodore Daquin von der Marseiller Brigade Criminelle in seinem zweiten großen Fall. Daquin bekommt von seinem Vorgesetzten Percheron den Auftrag, die UFRA in Marseille unter die Lupe zu nehmen. Denn im Umfeld dieses rechtsextremen Verbands der französischen Algerienheimkehrer, den so genannten Pieds-Noirs, häufen sich bewaffnete Gewalttaten. Unter ihnen sollen auch Polizisten sein, die während der Kolonialzeit in Algerien dienten und nach Kriegsende in die französische Polizei integriert worden sind.

Der aus Paris stammende Daquin durchschaut die Machtverhältnisse im Polizeipräsidium und zwischen den verschiedenen rivalisierenden Polizeieinheiten noch nicht ganz und genießt vollstes Misstrauen seines Chefs. Doch mit den Inspecteurs Grimberg und Delmas hat er zwei gute Männer, wobei Grimberg als waschechter Marseiller das Terrain kennt. Ein Hinweis führt Daquins Team zunächst zu Brigadier Picon von der Police Urbaine, der einen Schießsportverein betreibt und mit anderen Algerienheimkehrern in der Bar Le Foudre bei Couscous und Anisette Cristal in Nostalgie und rassistischen Hassreden schwelgt.

Als ein Busfahrer von einem Algerier ermordet wird, instrumentalisieren rechtsextreme Gruppen seinen Tod, um die Bevölkerung aufzuwiegeln. Am Abend der Beerdigung brechen einige Männer vom Le Foudre zu einem „Rodeo bei den Indianern auf der anderen Seite der Grenze auf“. Gemeint ist Marseille-Nord, wo viele Immigranten wohnen. Der sechzehnjährige Malek Khider, gebürtiger Marseiller mit algerischen Eltern, sitzt an diesem Abend vor einer arabischen Bar-Tabac und wartet auf ein Mädchen. Ein Wagen hält neben ihm, der Beifahrer schießt ihn mit drei Kugeln nieder.

Weil die herbeigerufenen Polizisten von der Sûreté schlampig arbeiten, ruft der Wirt der Bar die Bereitschaft der Kriminalpolizei. Daquin und sein Team untersuchen den Tatort und befragen die drei Zeugen. Sie finden die dritte Patronenhülse und erhalten einen Hinweis auf zwei Wagen, die sich vom Tatort entfernt haben. Der Fall bleibt jedoch bei der Sûreté, die Malek und seine Brüder Mohamed und Adel als Kriminelle und den Mord als Abrechnung im Milieu hinstellen will. Die Immigranten wehren sich gegen die zunehmende rassistische Gewalt und rufen zu Streiks aus, erhalten Unterstützung von Kirche, Gewerkschaft, Linkssozialisten. Daquin behält den Fall Malek im Auge, entdeckt eine Verbindung zu seinem Auftrag.

Manotti lässt die Handlung streng chronologisch ablaufen, sie beginnt am Mittwoch, dem 15. August, und endet am Montag, dem 8. Oktober. Im Prolog skizziert sie den Hintergrund für die Ereignisse. Den Anhang bilden ein Personenverzeichnis und eine Erläuterung zur Organisation der Marseiller Polizei 1973, des Weiteren ein verlagsseitig eingefügtes Glossar mit Begriffen, Organisationen, Personen und Abkürzungen. Akribisch schildert die Autorin das Procedere der Mordermittlung, die im Sande verlaufen soll, die Beweisvernichtung und Diskreditierung der Zeugen durch die Polizei.

Ebenso akribisch schildert sie Daquins Ermittlungen und seinen Kampf gegen den Widerstand seines Chefs und einiger Kollegen. Dabei spielt der Dicke Marcel, Brigadierchef und inoffizieller Regulator des Betriebs der Police Urbaine, eine zentrale Rolle. Malek ist nur eines von vielen Opfern, aber sein Fall legt exemplarisch die Machtmechanismen von Politik, Justiz, Polizei und Presse offen, benennt die Verantwortlichen und ihre Motive. Chauvinismus, Opportunismus, Dummheit, soziale Konflikte sowie ökonomisches und politisches Kalkül bilden das toxische Substrat, das zu einer Spirale der Gewalt führt.

Die Basis legt die Regierung in Paris mit dem Credo: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Sie leugnet schlichtweg die Existenz von Rassismus und damit auch die rassistischen Morde. Manotti hat einen eigenwilligen, extrem verknappten, berichtsartigen Stil, verwendet gern Einwort- oder Zweiwortsätze. Das und die Wahl des Präsens gibt einem ein Gefühl der Unmittelbarkeit beim Lesen. Objektive Gehalte sind in den Text integriert, ohne didaktisch zu wirken. Diese Art des Erzählens erfordert eine gewisse Aufmerksamkeit beim Lesen und ist nichts für Ästheten.


Fazit

Ein harter politischer roman policier über ein reales Ereignis, eine rassistische Mordserie, die 1973 Frankreich erschütterte. Präzise recherchierte Fakten, rasant und knapp erzählt. Ein Kriminalroman jenseits des Mainstreams, der seinen Fokus primär auf den inhaltlichen Gehalt und weniger auf die literarische Gestaltung legt.


Pro und Kontra

+ schnörkellose Erzählweise
+ überzeitliches gesellschaftspolitisch relevantes Thema
+ leuchtet ein schwieriges Kapitel der französischen Geschichte aus

o sprachlich einfach

- stilistisch gewöhnungsbedürftig
- eindimensionale Charaktere

Wertung:sterne3.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 2/5
Lesespaß: 3/5
Preis/Leistung: 3/5