Shadowrun - Alter Ratio (Mike Krzywik-Groß)

Pegasus Spiele (Oktober 2020)
Taschenbuch, 348 Seiten, 14,95 EUR
ISBN: 978-3969280102

Genre: Cyberpunk / Urban Fantasy


Klappentext

Berlin, 2079. Etwas ist faul im Sprawl an der Spree. Metamenschen verschwinden, offenkundig sinnfreie Geschäfte werden von Unbekannten getätigt, und jemand scheint die antike Kabelmatrix zu reaktivieren, die seit Jahren unter der Stadt brach liegt. Mächte bringen sich in Stellung, doch niemand erahnt das Gewitter, das am Horizont aufzuziehen droht. Und welches die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern könnte.

Aggi und Paul Dante, einst unzertrennliche Freunde, haben sich längst nichts mehr zu sagen. Als sie ihn nun herbeiruft, muss er aus seiner anhaltenden Abwärtsspirale ausbrechen, denn nur gemeinsam können sie sich der Bedrohung stellen. …


Rezension

Deckerin und Neoanarchistin Aggi zündet sprichwörtlich das Patriarchat an und jagt ein richtig übles Bordell in die Luft, in dem Frauen mit digitalen Drogen willenlos gemacht werden. Ihre Freundin Neeka begleitet sie mit ihrem Scharfschützengewehr und gemeinsam gelingt es ihnen, die Frauen aus ihrem Alptraum zu befreien. Nur eine bleibt auf ihrem Trip hängen und bei dem Versuch, der jungen Frau zu helfen, geraten Aggi und Neeka zwischen die Fronten dreier mächtiger KIs. Detektiv Paul Dante ist währenddessen am absoluten Tiefpunkt angekommen, weiter runter geht es nicht mehr. Er pennt in seiner Karre und schafft es nicht einmal, verschwundene Kanalarbeiter aufzuspüren. Zwischen ihm und Aggi herrscht schon lange Funkstille, umso verwunderter ist er, als die Deckerin sich bei ihm meldet und um seine Hilfe bittet …

„Alter Ratio“ ist der zweite „Shadowrun“-Roman von Mike Krzywik-Groß und hat dieselben Protagonist*innen wie „Alter Ego“, lässt sich jedoch auch wunderbar ohne Vorkenntnisse lesen. Aggi hat den Kontakt zu Paul abgebrochen, da sie seine selbstzerstörerische Arschloch-Attitüde nicht mehr ertragen konnte. Sie hat ihm viele Chancen gegeben, doch er hat es mit seinem Selbstmitleid immer wieder vermasselt. Im Gegensatz zu ihm brennt Aggi darauf, etwas zu bewirken und die Welt zu verändern. Ihre Freundin, Orkin Neeka, gab ihr neuen Lebensmut und gemeinsam mit der Sprawlguerilla setzen sie sich im neoanarchistischen Berlin für die Schwachen ein. Aggi zur Seite steht zudem TinkerPunk, ein quirliges Programm, das sie bei ihren Hacks in der Matrix unterstützt.

Paul ist zu Beginn des Romans am Boden und kann nicht einmal seine Fritten bezahlen. Seit er seine Magie verloren hat, nimmt er jeden Drecksjob an. So sucht er nach verschwundenen Kanalarbeitern und watet sprichwörtlich durch die Scheiße. Dabei fällt ihm auf, dass irgendjemand bemüht ist, die alte Kabelmatrix unter der Stadt zu reparieren. Zunächst denkt er sich nichts dabei, doch als Aggi ihn kontaktiert, fügen sich die Puzzleteile zusammen. Paul will nicht nur seiner Freundin helfen, was er ihr mehr als schuldig ist, in ihm erwacht auch ein wenig von seinem alten Schnüfflergeist. Irgendetwas geht in Berlin vor und er will herausfinden was. Ab da wird er auch für die Leser*innen erträglicher, denn nun zeigt er, dass er auch ohne sein Mojo etwas bewirken kann und mehr ist als ein egozentrischer Jammerlappen. Zwischenzeitlich könnte man glauben, dass er eigentlich ein richtig guter Kerl ist.

„Alter Ratio“ bietet bereits in den ersten Kapiteln reichlich blutige Action. Man wird mitten in die Handlung geworfen und muss sich zusammen mit den Protagonist*innen erst einmal zurechtfinden. Schnell wird klar, dass Aggis persönliches Problem mit einer viel größeren Sache verwoben ist, und als die KIs in Erscheinung treten, lässt sich das Ausmaß der Katastrophe erahnen. Während die eine KI an der alten Kabelmatrix arbeitet, tut sich die andere mit fanatischen Technomancern zusammen. Die dritte KI hingegen ist ein Mysterium: Sie greift immer wieder in die Handlung ein und warnt Aggi und Dante vor Gefahr, doch ihre Motive bleiben im Dunkeln. Zu allem Übel ist auch noch Saeder-Krupp hinter Aggi und Dante her und schickt Hans Brackhaus los, der sie mit einer skrupellosen Wissenschaftlerin im Schlepptau verfolgt.

Im Mittelteil geht das hohe Tempo etwas verloren, zu vieles muss aufgeklärt werden und der Autor verwendet viel Zeit auf ausführliche Nachforschungen. Als klar wird, worum es geht, zieht das Tempo wieder an und das Finale gestaltet sich äußerst turbulent. Bei so einem Shadowrun geht in aller Regel jede Menge schief und auch in „Alter Ratio“ braucht man starke Nerven, wenn einem die Protagonist*innen ans Herz gewachsen sind. Auch wird so mancher Nebencharakter regelrecht verschlissen und stirbt einen sinnlosen Tod. Für Unterhaltung sorgen vor allem Shadowrunner und Elf Rinelle, der sich gerne beschwert, im Notfall aber absolut verlässlich ist, sowie der britische Rigger Dogfight, der Aggi und Dante einen wahren Höllentrip über die Nordsee beschert.

Der Star des Romans ist und bleibt jedoch Aggi, deren Liebe zu Neeka ein bisschen Romantik in die Story bringt. Aggi kann Neeka zu einhundert Prozent vertrauen und umgekehrt und man spürt in den wenigen Szenen, in denen die beiden Zeit für sich haben, wie nah sie sich sind. Aggi ist mit Leib und Seele Neoanarchistin und Feministin und stets bereit, anderen zu helfen. In der sechsten Welt von „Shadowrun“, die von skrupellosen Megakonzernen und zwielichtigen Matrixgestalten beherrscht wird, ist sie zwar eine Kriminelle, aber auch eine von den „Guten“. Zumindest kann man sie verdammt gut leiden und würde gerne weitere Romane mit ihr in der Hauptrolle lesen.

„Alter Ratio“ ist der Auftaktband der Kampagne „Netzgewitter“, man muss jedoch das Rollenspiel weder kennen noch spielen, um mit diesem oder anderen „Shadowrun“-Romanen seine Freude zu haben. Man bekommt hier eine abgeschlossene Handlung und für alle, die sich in der Welt von „Shadowrun“ noch nicht auskennen, gibt es im Anhang einen kleinen Infotext zur sechsten Welt sowie einen Glossar mit den wichtigsten Begriffen.


Fazit

„Alter Ratio“ ist ein rasanter „Shadowrun“-Roman mit mehreren Eskalationsstufen, inklusive fanatischen Technomancern und zwielichtigen KIs. Die novaheiße Deckerin Aggi hält die Leserschaft ordentlich auf Trab und lässt den abgewrackten Paul Dante richtig alt aussehen. Mike Krzywik-Groß gelingt es, gut zu unterhalten und gleichzeitig in der düsteren sechsten Welt Zeichen für Menschlichkeit zu setzen.


Pro und Contra

+ Deckerin Aggi ist brutal sympathisch
+ die knallharte und sanfte Orkin Neeka
+ Paul Dante rafft sich langsam wieder auf
+ durchgeknallte Technomancer und mysteriöse KIs
+ Elf Rinelle und Rigger Dogfight
+ cooles Setting im neoanarchistischen Berlin
+ guter Mix aus Action und Geheimnissen
+ nervenstrapazierender Shadowrun
+ bissige Dialoge
+ Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit

- Nebencharaktere werden teils verschlissen
- die klischeehaft arrogante Wissenschaftlerin Hedda Winter

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3,5/5


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Tags: Cyberpunk, Shadowrun, Mike Krzywik-Groß, queere Figuren, deutschsprachige SF, Berlin