Piranesi (Susanna Clarke)

clarke piranesi

Blessing, 2020
Originaltitel: Piranesi (2020)
Übersetzung von Astrid Finke
Gebunden, 270 Seiten
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-89667-67269

Genre: Mystery, Fantasy


Rezension

Zwei Männer, Der Andere und Piranesi genannt, leben in einem Gebäude, dessen Größe unbekannt ist. Es besteht aus drei Etagen. Im Erdgeschoss ist die Bausubstanz dem regelmäßigen Wechsel von Flut und Ebbe ausgesetzt. Das Mittelgeschoss wird von den beiden Männern bewohnt. Das Obergeschoss schließlich gibt den Blick frei auf den Himmel. Zweimal in der Woche treffen sich die beiden Männer zu einem maximal einstündigen Gespräch unter Wissenschaftlern. Weiter befinden sich im Gebäude die Skelette von dreizehn Toten, die mit Lebensmittelgaben von Piranesi versorgt werden, und gelegentlich eine mysteriöse 16. Person.

Die wissenschaftliche Arbeit der beiden Männer bezieht sich auf das Gebäude. Der Andere ist ein Mann in den Fünfzigern, der gerne akkurat gekleidet ist. Eigener Aussage gemäß führt er ein wichtiges Experiment durch, über das Piranesi jedoch kaum etwas erfährt. Piranesi dagegen, der sein Alter auf 30-35 Jahre schätzt, arbeitet völlig transparent, erkundet das Gebäude, von ihm Das Haus genannt, Zimmer für Zimmer, katalogisiert und protokolliert alles in einer Abfolge von Tagebüchern. Diese sind zu Beginn in der uns bekannten Weise chronologisch geordnet: 2011, 2012. Seitdem ist diese zeitliche Einordnung ersetzt durch eine an wichtigen Ereignissen ausgerichtete. Das aktuelle Jahr ist das, „in dem der Albatros in die südwestlichen Säle kam“.

Das Haus ist ausgestattet mit einer Vielzahl von Statuen unbekannter Herkunft. Piranesi beginnt irgendwann Fragen zu stellen. Die Bemühungen, Antworten zu finden, führen ihn durch den Bestand seiner Aufzeichnungen und erzeugen Abweichungen, die auf weitere Fragen führen. Diese Vorgänge sind im Roman detailliert ausgeführt.

Susanna Clarke hat ihre beiden ersten Bücher, Jonathan Strange & Mr. Norrell (2005) und The Ladies of Grace Adieu (2007), in einer alternativen Regency-Epoche verortet. Die Handlung ihres neuen Romans, Piranesi, spielt ungefähr in unserer Gegenwart. Die Akteure sind Menschen und Vögel, deren Verhalten von Menschen interpretiert wird. Der Handlungsort, das mysteriöse Haus, erinnert in Teilbeschreibungen an ein Museum. Mehr soll dazu nicht gesagt werden, weil alles, was mit diesem Haus zusammenhängt, auf stilvolle und subtile Weise langsam im Text entwickelt wird.

Piranesi hat keine Erinnerungen daran, wo er herkommt oder wie er in das Gebäude gekommen ist. Er ist so sehr mit Details beschäftigt, dass er lange Zeit keine Fragen mit Blick auf das große Ganze hat. Das Gebäude ist derart unübersichtlich, dass Der Andere es als Labyrinth bezeichnet und zumindest vorgibt, sich nur in einem sehr eng begrenzten Bereich zu bewegen. Piranesi hingegen untersucht es auf seine Funktionen und Mechanik. Piranesi wird durch die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt charakterisiert, gewinnt Konturen, bleibt dabei aber ein Mann ohne wahrnehmbare Tiefe und Vergangenheit. Er hat weniger eine Beziehung zu Dem Anderen als zu Dem Haus, dem er Eigenschaften wie Freundlichkeit zugesteht.

Während Mr. Norrell in Jonathan Strange & Mr. Norrell Statuen zum Sprechen bringt, versucht Piranesi sie zu verstehen. Sie sind Trägerfiguren alter Mythen, mythologischer Konzepte, vielleicht auch geheimen Wissens. Piranesi unterstützt Den Anderen in dem Bemühen, Zeichen zu entschlüsseln, um an solches Geheimwissen zu gelangen. Piranesi erstellt im Grunde aus seinen Beobachtungen und Reflektionen eine Serie von Tagebuchaufzeichnungen, wobei seine Arbeit als Prinzip zur Strukturierung des Romans verstanden werden kann.

Erfolgt diese Strukturierung zu Beginn noch sehr klar, stellt sich irgendwann eine wachsende Unordnung ein. Piranesi nimmt Dinge wahr, die auf seltsame Geschehnisse im Gebäude schließen lassen. Durch seine minutiösen Aufzeichnungen vermittelt er sich und uns den Eindruck, seine Umwelt sei beherrschbar. Im Umgang Piranesis mit den unbelebten Objekten, zumeist Statuen, spiegelt sich die Wechselwirkung zwischen Kunst und belebter Welt, Architektur und Natur. Piranesi spielt ein Stück weit auch mit Illusion und Realität, Schein und Sein, so wenn er die Wirkung einer Statue auf sich beschreibt, oder wenn er den Vögeln die Fähigkeit zuweist, ihm verschlüsselte Informationen zu liefern, die er verstehen muss.

Der Hintergrund wird später vermittelt, wobei die Bedeutung eines Kults, eines bösartigen und manipulativen Mannes deutlich wird. Der spirituelle Charakter des Gebäudes erschließt sich diesem Kult nicht, wohl aber Piranesi, dem es nicht darum geht, das Geheimnis zu lüften, um Macht ausüben zu können. Piranesi ist ein Zitat von C.S. Lewis vorangestellt, und der Roman selbst enthält einige Hinweise auf Lewis, vor allem auf Die Chroniken von Narnia. Diese Referenzen scheinen geeignet, die Aufmerksamkeit während der Lektüre oder des Nachdenkens danach in eine metaphysische Richtung zu lenken.

Das Gebäude ist zweierlei. Durch den Verweis auf den historischen Giovanni Battista Piranesi, der dafür bekannt ist, dass er Labyrinthe konstruiert hat, die er als Gefängnisse bezeichnete, ist die Architektur angesprochen, durch die Verweise auf Lewis die Religion. Clarkes Piranesi lebt eine Spiritualität, die sich äußert in seiner Empathie, die er auch seinen Feinden entgegenbringt. Später erfährt er etwas Negatives über sich, das wir so gar nicht mit der Person in Einklang bringen können, die wir bis dahin als Piranesi kennengelernt haben. Im Roman gibt es religiös-ikonografische Hinweise, aber auch, in noch größerer Bedeutung, einen Albatros.

Wie in einem Werk der Philosophie geht es in Piranesi auch um Begriffe, darum, wie Wissen erlangt werden kann über die Welt außerhalb des Subjekts, umso mehr, wenn man nur Ahnungen hat, aber nicht sieht, oder allenfalls Schatten der Wirklichkeit. In einem Haus, das zugleich ein Ort der Gefangenschaft und der Geborgenheit ist.


Fazit

Piranesi ist eine sprachlich und inhaltlich anspruchsvolle Mystery-Geschichte. Wir werden in vielfältiger Weise durch die Lektüre dieses außerordentlichen Romans belohnt. In meiner Liste der im Corona-Jahr gelesenen Bücher steht Piranesi ganz oben.


Pro und Kontra

+ ein fantasievoll konstruiertes Rätsel
+ der High Fantasy angemessener Weltenbau
+ auf einem Level mit Jorge Luis Borges
+ auch eine subtile Erzählung über Isolation und Einsamkeit

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5