Das Karussell der Verwechslungen. Commissario Montalbano lässt sich nicht beirren (Andrea Camilleri)

camilleri karussell

Bastei Lübbe, 2021
Originaltitel: La giostra degli scambi (2015)
Übersetzung von Rita Seuß und Walter Kögler
Gebunden, 268 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 29,90
ISBN 978-3-7857-2701-0

Genre: Kriminalroman


Rezension

Im Kommissariat Vigàta meldet ein Vater die Entführung seiner Tochter. Manuela, Kassiererin in einer Bank, wurde vor fünf Tagen auf dem Heimweg von der Arbeit überfallen und chloroformiert. Sie erwachte Stunden später auf einem Feld, unversehrt und unbestohlen. Mit Rücksicht auf ihren guten Ruf verzichtet Manuela auf eine Anzeige. Commissario Salvo Montalbano glaubt an eine Verwechslung. Wenig später vertraut ihm sein Lieblingswirt Enzo an, dass seine Nichte Michela vor sechs Tagen entführt wurde. Die Tat erfolgte nach dem gleichen Muster. Auch Michela arbeitet als Bankangestellte. Beide Male war der Täter vermummt, aber nach Angaben der Frauen handelt es sich um einen älteren Mann, der auffallend stark schwitzte und ängstlich wirkte.

Montalbano befürchtet weitere Entführungen mit eskalierender Gewalt. Die weiblichen Bankangestellten von Vigàta und Umgebung sind verunsichert, ihre Chefs verlangen Polizeischutz für sie. Ein ganz anderer Fall kommt Montalbano dazwischen. In Vigàta wird ein Elektronikladen in Brand gesteckt. Besitzer Marcello Di Carlo, vierzig, ledig, wohlhabend, wird vermisst. Er war gerade von einer Urlaubsreise mit seiner großen Liebe zurückgekehrt. Sein Handy ist ausgeschaltet, sein Porsche Cayenne verschwunden. Seine Schwester Daniela vermutet, dass er mit seiner Geliebten noch ein paar Tage Urlaub in der Nähe macht.

Di Carlo war ein Weiberheld und lebte über seine Verhältnisse. Sein bester Freund, der wohlhabende Juwelier-Vertreter Giorgio Bonfiglio, erzählt von Di Carlos Weigerung, den von der Mafia erhöhten Pizzo, das Schutzgeld, zu zahlen. Alle Indizien deuten darauf hin, dass Di Carlo seinen Laden selbst in Brand gesteckt und mit Hilfe seiner Geliebten den Verdacht auf die Mafia gelenkt hat, um die Versicherungssumme zu kassieren. Montalbano will nicht so recht daran glauben. Er würde gerne wissen, wer diese mysteriöse Geliebte ist, deren Namen anscheinend niemand kennt.

Das Thema Verwechslung durchzieht den gesamten Roman und begegnet uns bereits zu Beginn, als Andrea Camilleris Serienheld Salvo Montalbano vom Kommissariat Vigàta in seinem Haus in Marinella von einer Fliege gequält wird. In einer slapstickartigen Szene erschlägt er sie, um gleich darauf eine zweite Fliege zu entdecken. Hat er etwa ein unschuldiges Tier getötet?, fragt er sich. Gleich darauf mischt er sich in einen bewaffneten Streit am Strand ein, wobei er Angreifer und Opfer verwechselt. Das bringt ihm nicht nur ein blaues Auge und einen Biss ins Ohr, sondern auch eine Verhaftung durch die Carabinieri ein. Die hält ihn für einen Schläger.

Wieder zu Hause, empfängt ihn seine Haushälterin Adelina, in der Abstellkammer befindet sich ein verwirrter Mann, den sie mit einem Einbrecher verwechselt und überwältigt hat. Es ist nicht der letzte Irrtum mit Blick auf diesen Virduzzo, der fortan immer wieder in der Geschichte als Randfigur auftaucht. Virduzzo und Montalbano wollen sich treffen, aber irgendetwas kommt immer dazwischen. In Das Karussell der Verwechslungen muss sich Montalbano mit zwei Verbrechenskomplexen beschäftigen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben. Zum einen geht es um zwei Blitzentführungen, deren Sinn sich ihm nicht erschließen will, zum anderen um Brandstiftung in Verbindung mit einem verschwundenen Unternehmer und seiner Geliebten. Erst nach einer dritten, vom Muster abweichenden Entführung findet die Polizei eine Verbindung.

Montalbano und seine Leute, Mimì Augello und Fazio, verirren sich in einem wahren Hypothesen-Labyrinth. Der Fall ist verwickelter, als es den Anschein hat. Montalbano hat es mit einem eiskalten Mörder zu tun, der einen perfiden Plan entwickelt hat, die Polizei gezielt manipuliert und in die Irre führt. Um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, verlässt sich Montalbano nicht auf seinen Pathologen Pasquano und die Spurensicherung, sondern vor allem und wie immer auf seine Menschenkenntnis und sein Sprachverständnis, seine Beobachtungsgabe und sein Erinnerungsvermögen. Der direkte Dialog mit Zeugen und Verdächtigen, Linguistik und nonverbale Kommunikation, ist eines seiner wichtigsten Instrumente, um herauszufinden, wer lügt oder etwas verschweigt. Da kann ein einzelnes Wort, ja, ein einzelner Buchstabe entscheidend sein.

Bisweilen ist sein Blick der eines Theaterzuschauers, der das Verbrechen als gedankliches Szenario nachspielt, die Vorgehensweise des Täters und die Reaktionen des Opfers im Detail nachvollzieht. Diesmal führt ihn sein Weg unter anderem zu dem Wärterhäuschen einer Villa, einem illegal gebauten Rohbau und einer gigantischen Mülldeponie, die einem Höllenkreis gleicht. Gespannt folgt man dem Commissario, seinen Verirrungen und Korrekturen, und sieht ihm beim Denken und Lösen von Problemen zu. Das ist spannend und amüsant zugleich. Denn Montalbano schafft es immer wieder, sich mit unverschämten Lügen und abgefeimten Manövern einen Vorteil zu verschaffen, wenn es beispielsweise darum geht, an Informationen zu gelangen oder vor seinem Chef ein Pflichtversäumnis zu rechtfertigen.


Fazit

Camilleri erzählt in seinem 28. Montalbano-Roman eine verwickelte Kriminalgeschichte um Liebe und Freundschaft, Hass und Verrat, leuchtet dabei scharfsinnig und charmant Lebenswirklichkeit und Widersprüchlichkeit von Sizilianern und Sizilianerinnen aus. In der Anmerkung verweist der Autor darauf, dass dieser Roman zu den wenigen zählt, denen kein realer Kriminalfall zugrunde liegt.


Pro und Kontra

+ souverän und geschmeidig erzählt
+ verzwicktes Szenario
+ Figuren, die dreimal um die Ecke denken
+ gekonnte Wechsel zwischen komödiantisch und ernst
+ schön aufgemachtes Buch mit Lesefaden und Leineneinband

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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