Heyne (Februar 2021)
Paperback, 448 Seiten, 14,99 EUR
ISBN: 978-3-453-32082-6
Genre: Science Fiction
Klappentext
Der Beginn einer neuen Zeitrechnung
Wir schreiben das Jahr 2104. Bei einer Erkundungsmission auf dem Jupitermond Kallisto kommt es zur Katastrophe, als der Orbiter Eurybia abstürzt. Ein Astronaut stirbt, und unter der Crew bricht ein mysteriöses Fieber aus. Während auf der Erde unterschiedliche Interessensgruppen versuchen, Einfluss auf die Bergungsmission zu nehmen, ahnt noch niemand, welch schicksalhafte Entdeckung im Jupitersystem auf die Menschheit wartet …
Rezension
Fassungslos müssen die in der Chione-Station verbliebenen Crewmitglieder zusehen, wie ihr Kollege im Fieberwahn ihren Orbiter zum Absturz bringt. Zusammen mit ihm zerschellt ihre Rückflugmöglichkeit auf der eisigen Oberfläche Kallistos. Zu allem Übel ist fast die gesamte Crew krank, trotzdem brechen zwei auf, um nach dem Wrack zu suchen. Sie kommen nicht zurück und zwei weitere sterben an dem Fieber. Sam bleibt allein in der Station. Während er ums Überleben kämpft, wird auf der Erde gestritten, wie und wann man ihn retten soll. Der CEO von Space Rocks will die gescheiterte Mission noch in einen Erfolg verwandeln und die nächste Kallistomission vorziehen, doch interne Machtkämpfe zögern die Entscheidung hinaus. Zeitgleich entdeckt der ehemalige Spaceworker Uche, der illegal mit Souvenirs aus dem All handelt, dass sein Weltraumeis ein tödliches Geheimnis birgt …
Im Jahr 2104 sind Flüge ins All kaum noch hoffnungsvolle Forschungsmissionen, sondern folgen kommerziellen Interessen. Konzerne wie Space Rocks bauen Rohstoffe auf dem Mond und Mars ab und fangen Asteroiden ein, um diese auszuschlachten. Die Spaceworker leisten sprichwörtlich einen Knochenjob, denn in der Kälte und Finsternis des All lauert überall der Tod. Viele von ihnen verbringen ihre Frührente auf der l’Île du Lion Rouge, die zu Französisch-Guyana gehört. Das Geld reicht kaum, um die Behandlungskosten für die Folgeschäden ihrer Arbeit zu bezahlen und viele von ihnen nehmen Drogen, um die Schmerzen zu ertragen. Uche hat bei einem Unfall beide Beine verloren und seine Stümpfe entzünden sich immer wieder. Mit dem Verkauf von Eis vom Jupitermond Europa bessert er seine Pension auf und träumt von einem Neuanfang in kühlerem Klima. Doch nun droht ausgerechnet sein Nebengeschäft diesen Traum zu zerstören.
Amira war ebenfalls Spaceworkerin, ebenso wie ihre Eltern und ihre Tochter Laure, die Teil der Kallistomission war. Ihr Tod trifft Amira hart, auch weil sie einen Befehl verweigert haben soll und Space Rocks die Verantwortung von sich schiebt. Um herauszufinden, was passiert ist, und um ihr totes Kind zu bergen, will Amira zum Jupiter fliegen. Romain Clavier, CEO von Space Rocks, muss sich währenddessen im Familienunternehmen behaupten. Sein Konkurrent will sich auf das Asteroid Mining konzentrieren, während Romain einen Weltraumhafen auf Kallisto errichten will, um später weiter zum Saturn vorzustoßen. Während Romain innerhalb seiner Familie taktiert, soll sein Sicherheitschef Bogdan einem Mord auf der l’Île du Lion Rouge nachgehen und dafür sorgen, dass Space Rocks keine schlechte Publicity droht.
Sam bekommt von all dem nichts mit. Er kämpft auf der Chione-Station darum, nicht durchzudrehen, was ihm mehr oder weniger gelingt. Unter anderem dank massivem Medikamentenmissbrauch. Zwei Mäuse sind seine einzige Gesellschaft in der Stille und Finsternis des Eismonds. Immer wieder verliert er Werkzeug und hört seltsame Geräusche, doch er schafft es, notwendige Reparaturen durchzuführen und sich selbst zu versorgen. Seinen Leidensweg schildert Kathleen Weise authentisch und einfühlsam, oft steht er kurz davor, unter der Last zusammenzubrechen, doch er rappelt sich immer wieder auf und entwickelt verschiedene Bewältigungsstrategien für die Extremsituation. Auch als endlich Hilfe kommt, bleibt Sam authentisch und reagiert entsprechend irritiert auf die plötzliche Anwesenheit anderer Menschen.
Das stimmungsvolle Cover zeigt Kallisto mit Blick auf Europa und Jupiter, sodass man hier den Handlungsschwerpunkt vermutet. So ist man zunächst etwas enttäuscht, dass in der ersten Romanhälfte die meisten Kapitel auf der Erde spielen. Individuelle Interessen ergeben ein komplexes Beziehungsgeflecht und insbesondere die konzerninternen Machtkämpfe bei Space Rocks nehmen viel Raum ein. Die Figuren sind jedoch alle so interessant und vielschichtig, dass man ihre Lebenswege gerne verfolgt. Auch ist es spannend zu lesen, wie sie alle auf verschiedene Weise mit den Geschehnissen auf Kallisto verbunden sind und wie die Spaceworker von ihrer harten Arbeit im All verändert wurden. Sie müssen sich regelrecht zurück ins Erdenleben kämpfen und so mancher scheitert daran. Der „Schoß“, wie sie den Weltraum nennen, hat ihnen alles abverlangt. Die körperlichen Strapazen haben sie gezeichnet, doch auch ihre Psyche ist durch die extremen Erfahrungen belastet. Die ehemaligen Spaceworker sind Außenseiter und bleiben lieber unter sich, wobei unter ihnen trotz aller Widrigkeiten eine große Solidarität herrscht.
In der zweiten Romanhälfte verschärft sich die Dramatik auf Kallisto und viele der mysteriösen Ereignisse werden aufgeklärt. Kathleen Weise schildert die Arbeit auf dem Mond realistisch und auch wenn manche Ereignisse sehr phantastisch wirken, sind sie zumindest nicht gänzlich undenkbar. Zudem sind die Beschreibungen der unwirklichen Mondlandschaft sehr eindrücklich, beklemmend und schön. So bedrohlich das All in diesem Roman meist geschildert wird, neben aller Dramatik bleibt Zeit für spaßige Momente wie den Bau einer Dino-Eisskulptur für den Enkel eines Spaceworkers. So hochqualifiziert die Astronauten sind, so menschlich sind sie auch und ihre individuellen Entscheidungen beeinflussen den Verlauf der Mission. Der Faktor Mensch wird in den Büros von Space Rocks unterschätzt und ist auf Kallisto letztlich entscheidend.
Im Anhang finden sich ein Glossar sowie ein Personenverzeichnis und eine Liste mit den Abkürzungen. Braucht man beim Lesen nicht zwingend, doch gerade für Leser*innen, die sich in der SF noch wenig auskennen, sind die Erläuterungen sehr hilfreich.
Fazit
„Der vierte Mond“ ist ein intelligenter SF-Roman, der sich mit dem einsamen Überlebenskampf im All und dem gnadenlosen Verbrauch der Ressource Mensch beschäftigt. Die, die der Finsternis und Stille ins Angesicht blicken und ihre Leben riskieren, sind auf der Erde nur noch eine Last, doch letztlich kommt es auf manche von ihnen immer noch an. Kathleen Weise überzeugt hier sowohl mit der authentischen Beschreibung der Kallistomission als auch mit den vielfältig verflochtenen Interessen ihrer facettenreichen und zutiefst menschlichen Charaktere.
Pro und Contra
+ vielschichtige, sehr unterschiedliche Charaktere
+ atmosphärische Beschreibungen des Jupitersystems
+ Sams einsamer Überlebenskampf
+ Amira ist eine unglaublich taffe Frau
+ vielfältige zwischenmenschliche Beziehungen
+ gegenläufige und sich überlagernde Interessen
+ eindrückliche Schilderung der Folgeschäden der Spaceworker
+ intelligent und spannend geschrieben
+ gut recherchierte wissenschaftliche Grundlagen
+ stimmungsvolles, sehr schickes Cover
o offenes Ende
- zu viel Konzernpolitik in der ersten Hälfte
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5
Rezension zu "Wenn wir nach den Sternen greifen"
Interview mit Kathleen Weise (2019)