Interview mit Lisa-Marie Reuter
Literatopia: Hallo, Lisa! In Kürze erscheint Dein erster SF-Roman „Exit this City“ bei Fischer TOR. Im Jahr 2158 ist Deutschland ein verarmtes Agrarland – wie kam es dazu? Und wie ist es anderen Ländern ergangen?
Lisa-Marie Reuter: Hallo, Judith! Schön, dass ich bei euch ein bisschen über mein neues Buch sprechen darf. In der Welt von „Exit this City“ ist Europa im Wettlauf um Ressourcen und Knowhow schlicht abgehängt worden. Indien wiederum ist zur neuen Weltmacht aufgestiegen. Allerdings hat der Klimawandel große Teile Indiens in Wüste verwandelt. Die Lebensmittel für die indischen Megacitys werden mit ausbeuterischen Methoden in Europa angebaut, wo es noch genug regnet. Ich fand dieses Gedankenspiel spannend, weil ich dadurch einen ganz anderen Blick auf Deutschland werfen konnte, als wir es hierzulande vielleicht gewohnt sind.
Literatopia: Wie viel Macht haben die Lebensmittelkonzerne in Deiner Zukunftsvision? Und inwiefern nutzen sie Gentechnik?
Lisa-Marie Reuter: Im Buch werden „echte“, organisch gewachsene Lebensmittel als Realfood bezeichnet. Synthetisch erzeugte Nahrung wird Smartfood genannt und davon gäbe es theoretisch genug, um alle Menschen auf der Welt satt zu machen. Realfood dagegen ist zum Luxusgut und Statussymbol geworden, mit dem die Lebensmittelkonzerne jede Menge Geld scheffeln. Um den Ertrag zu steigern, greifen sie zu immer drastischeren Mitteln. FinalFood Inc., ein Konzern, der in Europa mächtiger ist als der Staat, setzt genetisch veränderte Bienen ein, die Z.O.M.Bees, die mehr Pflanzen bestäuben können als gewöhnliche Bienen. Allerdings ist der Stich einer Z.O.M.Bee für Menschen tödlich. Das macht die Feldarbeit in Europa lebensgefährlich.
Literatopia: In der Leseprobe zu „Exit this City“ lernen wir zuerst die junge Inderin Paksha kennen. Welche Rolle spielt sie im Roman?
Lisa-Marie Reuter: Paksha ist erst vor kurzem nach Europa gekommen und wird in eine Rebellion hineingezogen, die die Feldarbeiter gegen FinalFood anzetteln. Im „exotischen“ Deutschland ist ihr alles fremd. Aber dann trifft sie Veeru, die Anführerin der Rebellen, und wird selbst zu einer Schlüsselfigur im Kampf gegen FinalFood. Für mich ist Paksha eine sehr nahbare Figur, in die ich mich beim Schreiben gut hineinversetzen konnte. Genau wie sie habe ich manchmal das Gefühl, dass die ganze Welt verrückt geworden ist. ;-)
Literatopia: Die charismatische Veeru wird wie eine Göttin verehrt – warum? Wer ist sie und was treibt sie an?
Lisa-Marie Reuter: Veeru hat als bisher einziger Mensch den Stich einer Z.O.M.Bee überlebt. Für die Menschen in Europa wird sie dadurch zur Lichtgestalt. Veeru war ein bekannter Popstar, bevor der Stich ihre Karriere beendete. Warum sie sich auf die Seite der Rebellen stellt, weiß allerdings niemand so genau. Immer wieder bemerkt Paksha, dass Veeru etwas vor ihr verheimlicht und scheinbar ganz eigene Ziele verfolgt.
Viel mehr will ich auch gar nicht verraten, denn Veerus wahre Absichten werden im Roman erst nach und nach enthüllt. Als Leserin liebe ich schillernde, mehrschichtige Figuren wie Veeru, die sich nicht um Konventionen scheren. Ich habe mich beim Schreiben jedes Mal gefreut, wenn eine neue Szene mit Veeru auf dem Plan stand.
Literatopia: Erzähl uns etwas mehr über Deinen Protagonisten Marti. Was zeichnet seine Persönlichkeit aus? Und wie kommt er in Delhi ohne Erinnerungen zurecht?
Lisa-Marie Reuter: Marti hält sich für einen Außerirdischen, der mit seinem Raumschiff auf der Erde gestrandet ist. Er kann sich aber nur an das erinnern, was seit dem Absturz geschehen ist. Alles, was davor war, hat er vergessen. Um Geld für die Raumschiffreparatur zu beschaffen, arbeitet er als Realfood-Kurier für FinalFood. Den ganzen Tag über düst er bei glühender Hitze in einer alten Autorikscha durch Delhi und liefert Lebensmittel an seine reiche Kundschaft aus. Am Anfang des Romans trifft er den Streunerhund Ray, der eine große Klappe hat und ziemlich verfressen ist. Ray kann sprechen, aber nur Marti versteht ihn. Als sich dann auch noch unbekannte Verfolger an Martis Fersten heften, wird ihm endgültig klar, dass er ein gewaltiges Problem hat. Für mich war es ein riesen Spaß, die chaotischen Szenen mit Marti und Ray zu schreiben und dabei zumindest in Gedanken kreuz und quer durch Delhi zu cruisen.
Literatopia: Du hast Indologie/Südasienkunde studiert und ein entsprechendes Setting für „Exit this City“ gewählt. Was fasziniert Dich an Indien/Südasien?
Lisa-Marie Reuter: Ich liebe die Vielfalt in Indien und bin ein riesen Fan der indischen Ästhetik, egal ob Kleidung, Tanz oder Architektur. In den Farben, Mustern und der Musik steckt gleichzeitig so viel Eleganz und Lebensfreude, dass ich mich nie daran satt sehen und hören kann. (Indien ist übrigens viel viel mehr als Bollywood!) Fürs Indologie-Studium habe ich mich damals entschieden, weil ich zu Schulzeiten ein Sprachennerd war und es spannend fand, Hindi, Sanskrit und Kannada zu lernen. Ich würde mich eigentlich als ziemlich „deutsch“ bezeichnen – ich mag es ordentlich, ruhig und gemütlich ;-) Aber trotzdem (oder gerade deswegen) brauche ich regelmäßig das indische Kontrastprogramm aus kreativem Chaos, das mich mit frischen Eindrücken versorgt. Ein bisschen spirituell bin ich Lauf der Zeit tatsächlich auch geworden. In Indien passieren einem irgendwie ständig Dinge, die sich allein durch Zufall nicht erklären lassen.
Literatopia: Du hast mit Deiner Kurzgeschichte „Tod der Göttin“ den Climate-Fiction-Kurzgeschichtenwettbewerb zum Thema „Der Schnee von morgen“ von Fischer TOR gewonnen. War sofort klar, dass aus dieser Geschichte ein ganzer Roman entstehen soll?
Lisa-Marie Reuter: Ja, das ging ziemlich schnell, auch wenn es bis zum fertigen Buch dann noch eine ganze Weile gedauert hat. Kurz nach dem Wettbewerb fragte der Verlag, ob ich mir vorstellen könnte, einen Climate-Fiction-Roman zu schreiben, der ein ähnliches Setting hat. Ich machte mich also ans Plotten und schrieb zuerst eine Leseprobe und ein Exposé, an dem wir dann noch ziemlich ausführlich gefeilt haben. Der fertige Roman hat mit der Kurzgeschichte tatsächlich nur noch die Grundzutaten „Indien“ und „Klimawandel“ gemeinsam. Und die Tatsache, dass in beiden Geschichten ein Fluss im Mittelpunkt steht. In „Tod einer Göttin“ ist es der Ganges, in „Exit this City“ der Main und die Gegend rund um Würzburg, wo ich wohne.
Literatopia: Zuvor hast Du einige phantastische Kurzgeschichten in Qindie-Anthologien sowie Deinen Fantasyroman „Pongo und die Elfenverschwörung“ veröffentlicht. Wie bist Du dann zur Science Fiction gekommen?
Lisa-Marie Reuter: Für mich ist der Unterschied zwischen Fantasy und SF gar nicht so groß, weil beides in fiktionalen Welten spielt (und diese Welten dadurch ein Stück weit auch zu Protagonisten werden – will sagen, sie beeinflussen die Geschichte deutlich mehr als in anderen Genres). Als Jugendliche habe ich vor allem Fantasy gelesen, daher lag es nah, das Genre auch beim Schreiben beizubehalten. Je länger ich mich mit Indien beschäftigt habe, desto stärker wurde der Wunsch, auch mal eine meiner Geschichten dort spielen zu lassen. Ich finde, dafür eignet sich SF als Genre etwas besser, kann aber gar nicht genau sagen, weshalb. Vielleicht weil Indien schon heute eine so junge und zukunftsorientierte Gesellschaft hat. Mir würde es übrigens wahnsinnig schwer fallen, eine Geschichte zu schreiben, die komplett in unserer Realität und unserer Zeit spielt. Da würde ich vermutlich die kreative Freiheit vermissen.
Literatopia: Du hast bereits in Büchern geblättert, bevor Du überhaupt lesen konntest, und bald erste Geschichten verfasst. Über was hast Du als Kind und Jugendliche geschrieben? Und ab wann hast Du mit dem Gedanken gespielt, auch mal etwas zu veröffentlichen?
Lisa-Marie Reuter: Meine ersten Schreibversuche waren Fantasygeschichten mit sprechenden Tieren. Schreiben war tatsächlich schon immer meine Lieblingsbeschäftigung. Ich weiß noch, wie einmal unser Lehrer in Wirtschafts- und Sozialkunde irgendwas zum Thema Gehaltsabrechnung erklären wollte und mich fragte, was ich denn später mal werden wolle. Als ich „Autorin“ gesagt habe, hat ihn das total aus dem Konzept gebracht. Kurz vor dem Abi hatte ich dann auch wirklich ein fertiges Manuskript in der Schublade (das war die Rohfassung von „Pongo und die Elfenverschwörung“), bin aber rückblickend froh, dass ich damals noch nicht den Mumm hatte, es zu veröffentlichen. Erst nach dem Studium habe ich es wieder rausgeholt und komplett überarbeitet. Mit diesem Buch habe ich Schritt für Schritt den Weg ins Selfpublishing gefunden und gleichzeitig extrem viel übers Schreibhandwerk gelernt. Ab da bin ich das Schreiben wirklich ernsthaft angegangen.
Literatopia: Du liest gerne und viel und beziehst Deinen Lesestoff aus verschiedensten Genres. Hast Du Lieblingsbücher, die Du mehrmals gelesen hast? Und welcher Science-Fiction-Roman hat Dich nachhaltig beeindruckt?
Lisa-Marie Reuter: Lieblingsbücher habe ich viele. „Jonathan Strange & Mr Norrell“ von Susanna Clarke steht auf der Liste ganz oben, einfach weil es so einzigartig ist. Philip Pullmans „His-Dark-Materials“-Bücher gehören ebenfalls zu meinen Favoriten. Am häufigsten habe ich wahrscheinlich den ersten Band von Harry Potter gelesen, mehrmals auf Deutsch und Englisch und einmal sogar auf Hindi. Vor einiger Zeit habe ich die ersten drei Bände der „John-Cleaver“-Reihe von Dan Wells weggesuchtet und war total enttäuscht, dass ziemlich lang kein neuer Band kam. Letztes Jahr habe ich mir dann endlich Band 4 bis 6 besorgt und alles nochmal hintereinander weggelesen. Die Bücher sind einfach genial und machen wahnsinnig viel Spaß! Der SF-Roman, der mich positiv wie negativ am meisten beeindruckt hat, war „Die Tribute von Panem“. Die Bücher sind so extrem gut geschrieben, dass ich sie kaum aus der Hand legen konnte. Gleichzeitig hat mich die Handlung massiv runtergezogen, weil sie so brutal und hoffnungslos ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Reihe nicht nochmal lesen werde.
Literatopia: Coronabedingt fallen weiterhin Messen und Lesungen aus – ist online etwas bei Dir geplant? Zum Beispiel eine Lesung auf Twitch?
Lisa-Marie Reuter: Am 25. Februar um 19 Uhr findet auf Instagram eine Live-Buchpremiere zusammen mit Fischer TOR statt. Und auch danach wird es ganz sicher noch weitere Online-Veranstaltungen rund um das Buch geben. Momentan bin ich noch mit der Planung beschäftigt und kündige alle Termine auf meinen Kanälen an, sobald sie feststehen. Es ist wirklich traurig, dass wir auch dieses Jahr auf Messen und Lesungen verzichten müssen. Aber zum Glück können wir uns zumindest virtuell treffen und unsere Bücher feiern.
Literatopia: Würdest Du uns abschließend noch einen kleinen Ausblick geben? Woran arbeitest Du gerade? Oder hast Du den nächsten Roman vielleicht schon fertig?
Lisa-Marie Reuter: Ich bin gerade mit zwei Projekten in der Exposé-und-Leseprobe-Phase. Eines davon ist ein Fantasyroman mit Drachen. Das zweite ein Near-Future-Thriller, der auch wieder in Indien spielt. Mal sehen, welches Buch zuerst das Rennen macht.
Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!
Autorenfoto: (c) Sybille Thomé
Autoren-Website: https://lisamariereuter.de
Buchtrailer zu "Exit this City"
Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.