Exit this City (Lisa-Marie Reuter)

Fischer TOR (Februar 2021)
Klappenbroschur, 432 Seiten, 16,99 EUR
ISBN: 978-3-596-70482-8

Genre: Science Fiction / Climate Fiction / Cyberpunk


Klappentext

Wenn die Natur zur Bedrohung wird

Klimawandel und wirtschaftlicher Abstieg haben aus Deutschland ein Agrarland gemacht, in dem globale Konzerne die Arbeiter rücksichtslos ausbeuten. Eine genetisch manipulierte Biene, die den Ertrag steigert, deren Stich jedoch tödlich ist, macht das Leben auf den Plantagen unerträglich. Erst als die charismatische Veeru den Aufstand organisiert, geraten die Dinge in Bewegung. Das Ziel der Rebellen: Residence City, die Stadt der Reichen und Mächtigen, und die Zentrale des skrupellosen Konzerns FinalFood Inc. Doch Veerus wahre Absichten bleiben dunkel, und vieles deutet darauf hin, dass sie insgeheim ihre eigenen Pläne verfolgt.


Rezension

Pakshas Heimatdorf in Indien fiel dem Klimawandel zum Opfer. Aus ihrer Rettung wurde eine große Show gemacht, die sie nach Deutschland auf eine Plantage führt, wo sie Zeugin eines Aufstands wird. Megakonzerne wie FinalFood beuten die Arbeiter im Main-Sektor rücksichtslos aus und die Gefahr durch die gentechnisch veränderten Z.O.M.Bees hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Bienen steigern den Ertrag, doch ihr Stich löst eine tödliche Krankheit aus. Nur eine hat diese bisher überlebt: die Inderin Veeru, deren Haut durch das Murti-Syndrom so grau ist wie die Haut einer Götterstatue. Sie wird zur Führerin einer Rebellion gegen FinalFood, der sich auch Paksha anschließt. Gemeinsam mit Veeru und einer wachsenden Anhängerschar ziehen sie Richtung Residence City, um die KI, die den Konzern leitet, herauszufordern …

Was Paksha in den Wochen der Rebellion erlebt, wird aus ihrer Perspektive im Präteritum erzählt. Die zweite Perspektivfigur, Marti, begleiten wir im Präsens in Delhi. Er liefert mit einer E-Rikscha Realfood aus, um sich die Ersatzteile für sein beschädigtes Raumschiff leisten zu können. Seit seinem Absturz hat Marti Erinnerungslücken, doch er ist sich sicher, dass er von einem fernen Planeten stammt, wo er sehr glücklich war. Er hat sich den Körper eines Europäers „ausgeliehen“ und kann sich nicht in das weltumspannende Netz des Nexus einloggen. Dafür kann er mit einem Hund sprechen und zwar mit dem verfressenen Streuner Ray, der ihn auf seinen rasanten Fahrten durch das gigantische Delhi begleitet. Marti läuft die Zeit davon, als ein radioaktiver Staubsturm auf die Stadt zurast. Und dann heften sich auch noch zwei mysteriöse Gestalten an seine Fersen ...

„Exit this City" spielt im Jahr 2158: Die globalen Machtverhältnisse haben sich verschoben. Abschottung und Klimawandel haben den wirtschaftlichen Abstieg Europas besiegelt. Indien hingegen ist zu einer neuen Supermacht aufgestiegen und beherrscht weite Teile des europäischen Agrarsektors. Zwar könnte man die gesamte Bevölkerung problemlos mit künstlicher Nahrung, sogenanntem Smartfood, versorgen, doch der Markt für Realfood boomt. Wer es sich leisten kann, tischt seinen Gästen echte Tomaten aus Deutschland auf. Durch den Klimawandel ist Indien verwüstet, während es in Europa noch ausreichend regnet. In manchen Jahren sogar zu viel und so kämpfen die Rebellen im Main-Sektor nicht nur gegen FinalFood, sondern auch gegen steigende Pegelstände. Leider erfahren wir nahezu nichts über den Rest der Welt, da sich die Handlung auf Delhi und Deutschland konzentriert. Ein paar Bemerkungen, was zum Beispiel in Amerika, Afrika oder China vor sich geht, hätten dem sonst gut ausgearbeiteten Setting gut getan.

Lisa-Marie Reuter dreht in „Exit this City“ die Verhältnisse um und macht aus Deutschland ein armes Agrarland, in dem die indischen Plantagenaufseher wie Kolonialherren herrschen. Indische Touristen strömen in Folkloredörfer, wo sie Fachwerkhäuser und Menschen in Dirndl und Lederhosen bestaunen. Durch Pakshas Augen sehen wir das zukünftige Deutschland so ähnlich wie wir heute Indien betrachten würden, was sich spannend liest. Dennoch ist die brütend heiße und vor Leben überquellende Megastadt Delhi der reizvollere Schauplatz. Die Kapitel mit Marti und Ray sind wahnsinnig atmosphärisch und machen in der ersten Romanhälfte richtig Spaß zu lesen. Das bunte SF-Abenteuer wandelt sich in der zweiten Hälfte in einen Thriller, der die beiden sehr unterschiedlichen Handlungsstränge verknüpft und einige Überraschungen bietet.

Während man Martis Handlungen stets gut nachvollziehen kann und mit Spannung auf die Rückkehr seiner Erinnerungen wartet, erscheint die Rebellion in Pakshas Kapiteln zunächst zu problemlos zu verlaufen. Man wundert sich, dass FinalFood die Rebellen so lange gewähren lässt. Das liegt auch an Pakshas begrenzter Perspektive, denn der Teenager bekommt nicht alles mit und hält sich meist in der Nähe der Rebellenführerin Veeru auf, die ihre Geheimnisse lange für sich behält. Paksha ist tief beeindruckt von Veerus Furchtlosigkeit, sie scheint immer genau zu wissen, was sie tut und wie sie die öffentliche Meinung manipulieren kann, sodass FinalFood davor zurückschreckt, den Rebellen mit Gewalt zu begegnen. In der medialen Präsenz liegt auch der Schlüssel zum scheinbar zu „leichten“ Verlauf der Rebellion, denn hohe Imagewerte machen die betreffenden Personen nahezu unangreifbar.

Im 22. Jahrhundert sind alle Menschen durch den sogenannten Nexus vernetzt und jeder besitzt einen eigenen Ego-Stream, in dem quasi alle Internettätigkeiten verschmelzen. Hier werden Bilder und Videos gepostet, Inhalte geteilt und Kontakte verwaltet. Zugang zum Nexus erhält man über sogenannte vLinks, die in verschiedensten Formen, z.B. faltbaren Kettenanhängern oder ausziehbaren Haarnadeln, vorkommen und ganz den Benutzerbedürfnissen angepasst sind. Die Nexus-Technologie basiert auf dem Scannen von Gehirnwellen, der B-Waves. Sogar Haustiere haben eigene Pet-Streams (so wie die Instagram-Haustierstars). Im Prinzip sehen wir hier eine Weiterentwicklung heutiger Technologien, allerdings geht die Autorin selten näher auf die Funktionsweisen ein. Muss sie auch nicht, weil sich alles vom heutigen Internet ableiten lässt. In den letzten Kapiteln wird aus der Climate Fiction quasi Cyberpunk und wir lernen die KI hinter FinalFood kennen. Hier bietet Lisa-Marie Reuter einerseits eine gelungene Auflösung, zieht das Finale jedoch zu sehr in die Länge, inklusive einiger Szenen, die mehr wie Fantasy als SF anmuten.

“Exit this City” zieht die Spannung aus den Schicksalen der Protagonist*innen, die alle auf ihre ganz eine Art sympathisch und interessant sind – so sehr, dass die Autorin ihnen die Handlung manchmal zurechtbiegt, weil die Alternative zu grausam gewesen wäre. Dabei büßt sie Glaubwürdigkeit ein, obwohl sie selbst einen sprechenden Hund im Rahmen des SF-Settings logisch erklären kann. Positiv fällt auf, dass Ray sich immer wie ein Hund verhält, auch wenn er manchmal fast zu klug erscheint. Aber wir wissen heute viel mehr über die Intelligenz von Hunden, sodass Ray im Rahmen des Romans authentisch bleibt – und er dürfte für viele Leser*innen der Star der Handlung sein.


Fazit

„Exit this City“ ist ein rasanter Trip durch das brütend heiße Delhi der Zukunft, sehr unterhaltsam und brutal atmosphärisch – gleichzeitig ist der Roman die Geschichte einer Rebellion, die die verhängnisvollen Auswirkungen des Klimawandels sowie die Skrupellosigkeit der Agrarkonzerne sichtbar macht. Climate Fiction und Cyberpunk verschmelzen zu einem wahnwitzigen Abenteuer, das so manche Überraschung und mit Indien ein angenehm unverbrauchtes SF-Setting bietet.


Pro und Contra

+ der verfressene, kluge Hund Ray
+ Martis unterhaltsame Rikscha-Trips durch Delhi
+ die Parts in Delhi sind wahnsinnig atmosphärisch
+ Indien als unverbrauchtes SF-Setting
+ die sympathische Paksha
+ Veeru verfolgt unbeirrbar ihren Weg
+ Anspielungen auf die indische Mythologie
+ das verarmte Deutschland aus Sicht der indischen Protagonist*innen
+ gelungene Verflechtung der sehr unterschiedlichen Handlungsstränge
+ buntes SF-Abenteuer / turbulenter SF-Thriller

o die Bienen stehen weniger im Mittelpunkt als das Cover vermuten lässt

- die Rebellion verläuft lange auffallend problemlos
- einzelne Szenen strapazieren die Glaubwürdigkeit 

Wertungsterne4

Handlung: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5


Interview mit Lisa-Marie Reuter (2021)

Tags: Cyberpunk, SF-Autorinnen, Lisa-Marie Reuter, Climate Fiction, Indien, deutschsprachige SF, Gentechnik