Klara und die Sonne (Kazuo Ishiguro)

ishiguro klara

Blessing, 2021
Originaltitel: Klara and the Sun (2021)
Übersetzung von Barbara Schaden
Gebunden, 349 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 34,90
ISBN 978-3-89667-693-1

Genre: Science Fiction


Rezension

In einer nicht fernen dystopischen Zukunft, in einem Land, das die Vereinigten Staaten von Amerika sein könnten, lassen Eltern ihre Kinder durch Genomeditierung verändern („heben“), um deren Bildungschancen zu verbessern. Da diese Kinder nur von Internet-Tutoren im Home Schooling unterrichtet werden, ist ihr soziale Interaktion begrenzt. Deshalb kaufen ihnen Eltern, die es sich leisten können, einen Androiden als Gefährten. Aufgabe und einziges Ziel des Künstlichen Freundes (KF) ist es, für das Wohlergehen seines Jugendlichen zu sorgen. Androiden werden auch anderweitig eingesetzt, so in der Arbeitswelt, was viele Arbeitskräfte, auch Ingenieure wie Josies Vater, arbeitslos macht. Die Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt entwickelt sich zu einer Zweiklassengesellschaft.

Die Ich-Erzählerin und Protagonistin Klara ist eine dieser KFs. Während sie im Ladengeschäft auf einen Käufer wartet, beobachtet sie die Welt draußen und versucht die Menschen zu verstehen. Obwohl eine besonders gute Beobachterin und intelligent, sind ihre Schlussfolgerungen oft naiv, denn sie ist nur für ihre Aufgabe programmiert. Als ein Bettler, den sie für tot hält, sich im Licht der Sonne wieder bewegt, glaubt sie, die Nahrung der Sonne habe ihn von den Toten auferstehen lassen. Denn die Sonne hat auch auf die solarbetriebenen KFs eine stärkende Wirkung. Für Klara ist die Sonne wie ein Gott, weshalb im Original das Wort für Sonne (sun) immer großgeschrieben wird. Deshalb auch lernt Klara die Cootings-Maschine vor ihrem Laden zu hassen, denn ihre Abgase blockieren das Sonnenlicht.

Klara wird von der vierzehnjährige Josie ausgewählt, die mit Mutter Chrissie und Haushälterin Melania auf dem Land lebt. Sie erfährt, dass das Heben riskant ist. Josies Schwester Sal ist daran gestorben, Josie selbst daran schwer erkrankt. Josies einziger Freund ist der gleichaltrige Nachbarssohn Rick, dessen Mutter Helen ihn nicht heben lassen will. Er wird von den Gehobenen diskriminiert und hat trotz guter Noten kein Recht auf einen Studienplatz. Josie und Rick lieben sich schon lange und halten an ihrem Kindheitsplan fest, für immer zusammenzubleiben.

Die Geschichte beginnt einfach, aber die seltsamen Beobachtungen und Gespräche lassen in Klara und uns die Frage aufkommen, was die Eltern vor ihren Kindern und Klara verheimlichen. Klara hat eine Idee, die sie zunächst für sich behält. Im vierten Teil erfährt sie die Wahrheit, wird eingeweiht in einen Plan, der existentielle Fragen über die Menschlichkeit aufwirft. Wir erhalten nur bruchstückartig ein Bild der futuristischen Welt, denn Klaras Perspektive ist beschränkt und liefert nur kleine Hinweise und Andeutungen. Klara erzählt in einfacher Sprache. Kennt sie einen Begriff nicht, erfindet sie einen wie ein Kind. Ishiguro zeigt uns, wie sie die Welt sieht, im wörtlichen Sinn, nämlich oft durch ein Raster, mit chaotisch angeordneten Rasterzellen und schiefer Perspektive. Das geschieht immer dann, wenn etwas unbekannt ist oder Bekanntes neu geordnet wurde. Dann fügt sich das Bild erst nach einer Weile richtig zusammen.

Wir wissen vom ersten Kapitel an, dass die Protagonistin eine Androidin ist. Auf die Menschen wirkt sie täuschend echt. Doch ihre Gefühle sind es nicht. Sie ist nicht traurig, sondern setzt ein trauriges Gesicht auf, heißt es einmal. Es sind Simulationen, ein einprogrammiertes mimisches und gestisches Repertoire, das bei Bedarf abgerufen wird. Ihre Empathie kann nicht echt, sondern nur simuliert sein. Aufgrund ihrer Lernfähigkeit beginnt Klara eigene Gedanken und Ideen, Konzepte von Liebe, Tod und Gott, zu entwickeln, schließlich einen Plan zu Josies Rettung. Dieser mag naiv anmuten, ist es aber vielleicht gar nicht.

Klara hat kein Selbst, sondern eine Aufgabe. Ihr Leben oder ihre Existenz ist Selbstaufgabe, dient nur einem Ziel, das sie weder selbst bestimmt hat noch verändern kann. Keinen Moment kommt sie auf die Idee, davon abzuweichen oder zu rebellieren. Das erinnert an Ishiguros Butler Stevens aus Was vom Tage übrig blieb oder die Klone aus Alles, was wir geben mussten. Klara ist die Metapher für die perfekte Mutter, den perfekten Vater, die perfekte Freundin. Die Haltung der Menschen gegenüber den Androiden reicht von Hass, weil sie Arbeitsplätze vernichten, und Furcht, weil man sie nicht oder nicht mehr versteht, bis zur Gleichgültigkeit, weil sie nützliche Helfer wie Staubsauger sind.

Ishiguro geht der Frage nach, was Freundschaft bedeutet, mehr noch, was Liebe bedeutet, und unterscheidet in überbehütende, egoistische, ängstliche Liebe und verzeihende, uneigennützige Liebe. Er fragt, ob der Mensch ein Herz im romantischen Sinne hat, ob ein geliebter Mensch ersetzbar ist und welches Opfer wir für Liebe zu bringen bereit sind. Können Menschen, die sich wirklich lieben, unterschiedliche Wege gehen? Klara zumindest glaubt daran, denn sie hat den Regenschirmmann und die Kaffeetassenfrau beobachtet. Doch das ist nur die Ansicht einer Androidin.


Fazit

Ishiguro erzählt in seiner düsteren Allegorie eine Zukunftsgeschichte, die auf die Gefahren des technischen Fortschritts hinweist, deren Folgen nicht abgeschätzt werden: die Auswirkungen, die der Einsatz von Androiden und genetic engineering auf Individuum und Gesellschaft hat. Das sind Fragen, denen wir uns stellen müssen. Daneben erweitert er sein Thema, was Liebe, Treue und Freundschaft bedeuten, um die Sicht einer Androidin. Sein zurückhaltender, beinahe klinisch-kalter Stil entfaltet durch seine Konsequenz und Wahrhaftigkeit eine intensive, nachhaltige Wirkung.


Pro und Kontra

+ klare Geschichte mit ethisch-moralischer Tiefe
+ elegant und sorgfältig erzählt
+ Fragen zu realistischen und relevanten Zukunftstechnologien
+ eine Protagonistin, deren Denken und Handeln beeindruckt

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5