Fischer TOR (April 2021)
Paperback, 454 Seiten, 16,99 EUR
ISBN: 978-3-596-70087-5
Genre: Science Fiction / (Post-)Cyberpunk / Dystopie
Klappentext
Ende des 21. Jahrhunderts ist die Menschheit tief gespalten: Während die eine Hälfte medizinisch bestens versorgt ein langes Leben führt, ist die andere schlicht überflüssig. Bestenfalls als billige Arbeitskräfte haben die meisten Menschen ein karges Auskommen. Einer dieser Überflüssigen ist James, der als Hausdiener der neuen Elite anheuert. Von seinem neuen Herrn erhält er einen rätselhaften Auftrag: Er soll dessen vor zwanzig Jahren verschollene Tochter wiederfinden - in einer virtuellen Simulation.
Schon bald muss er erkennen, dass nicht bloß die Grenzen von VR und Wirklichkeit verschwimmen, sondern auch die von Mensch und Maschine. Und ihm offenbart sich ein schreckliches Geheimnis, das die Zukunft und Vergangenheit der Menschheit in Frage stellt.
Rezension
Künstliche Intelligenz ist eines der beliebtesten Themen in der aktuellen SF, insbesondere die technologische Singularität. Dem Titel entsprechend widmet sich auch Joshua Tree der Frage, was passiert, wenn Künstliche Intelligenz die menschliche übertrifft und sich selbst weiterentwickelt. Im späten 21. Jahrhundert sind KIs allgegenwertig und teilweise mit Menschen verschmolzen – als Assistenten, die mittels Gehirnimplantaten mit ihren Menschen verbunden sind und somit alles über diese wissen. Sie führen Aufgaben aus, beraten bei Entscheidungen oder treffen sie gleich selbst, regulieren Hormone und Neurotransmitter und können so Gefühle quasi an- und abschalten. Die verbesserten Menschen sind die neue Elite, bestehend aus (Super-)Reichen, die es sich leisten können, mit dem rasanten technologischen Fortschritt mitzuhalten. Sie sehen sich selbst als „Homo nobilis“, als höchste Stufe der Evolution. Der Homo sapiens hingegen ist ein Auslaufmodell, auch „Überflussmensch“ genannt (ein schrecklicher Begriff). In Nordamerika gibt es kaum noch „Überflussmenschen“ und die letzten von ihnen leben in Zügen mit einer riesigen Lüge – oder als Hausdiener bei den Verbesserten.
In „Singularity“ gibt es drei Perspektivfiguren: James lebt als Diener in New York und wird von seinen Besitzern wie ein exotisches Haustier behandelt. Ihm ist bewusst, dass ihre Intelligenz seiner weit überlegen ist, während sie nicht ahnen, dass auch James ziemlich schlau ist. Er beobachtet und wartet auf eine Gelegenheit. Als er an Stuart, einen Freund der Familie und begabten Algorithmiker, verschenkt wird, ist James überrascht, dass dieser ihn wie einen Menschen behandelt und ihn auch noch um Hilfe bittet. James soll seine Tochter finden – in einem virtuellen Konstrukt, das Zeit und Ort ihres Verschwindens abbildet. Und tatsächlich stellt sich James‘ Sichtweise als „Überflussmensch“ als nützlich heraus.
Auch der zwölfjährige Adam ist ein „Überflussmensch“ und lebt in einem Zug, der Arbeiter durch das von Superstürmen verwüstete Nordamerika karrt. Die Menschen leben in der Illusion, dass sie ihr Land wieder aufbauen und gegen die Chinesen verteidigen müssen. Sie wissen nichts von den hochtechnisierten Städten und dem sorglosen Leben der Verbesserten. Für ihre Arbeit werden sie täglich mit dem Download belohnt, allerdings ist Adam noch zu jung und hat keinen Zugriff auf die virtuellen Welten. Mit seiner besten Freundin Utah spielt er im Umkreis des Zuges, der von Drohnen festgelegt wird. Bei einer Revolte wenden sich die Maschinen gegen die Menschen und Adam muss fliehen – zusammen mit Utah will er nach New York, wo sein Vater leben soll.
Im dritten Handlungsstrang arbeitet Kognitionsforscherin Rhea seit vielen Jahren in einer Simulation, wo sie das Siedlungsprojekt auf dem Exoplaneten Proxima b betreut. Bevor die echte Mission beginnt, soll sie alles durchspielen, um eventuelle Probleme vorzeitig zu erkennen. Zusammen mit ihrer Schwester Phoebe kümmert sie sich um hundert Klonkörper, die in ihren Brutkästen schlafen. Ein Hackerangriff führt zu Fehlern in der Simulation, ein Klon verschwindet und Rhea und Phoebe entdecken die erschreckende Wahrheit über ihr Projekt.
Die drei Handlungsstränge scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben, doch nach und nach verbinden sie sich zu einer komplexen Geschichte, in der sich immer wieder die Frage stellt, was real ist und was nicht – und ob das Wissen darum überhaupt wichtig ist. Wer noch nicht viel zum Thema Künstliche Intelligenz/Virtuelle Realität gelesen hat, wird sicher des Öfteren überrascht sein, doch für eingefleischte Genrefans sind die groben Abläufe absehbar – weil sich „Singularity“ wie ein wilder Mix bekannter SF-Romane und -Filme liest. Trotzdem stellt Joshua Tree viele spannende Fragen über die Natur der Wirklichkeit und des Menschen, über die technologische Singularität, von der man nicht weiß, ob sie in seinem Roman schon eingetreten ist oder nicht. Philosophische Gedankenspiele wie z.B. die Simulationstheorie verpackt der Autor in Dialoge und lässt Stuart James die technischen Hintergründe seines Romans erklären. Dieser kommt dabei nicht immer mit und der Leserschaft dürfte es ähnlich gehen – zumal selbst die Verbesserten teilweise nicht mehr mitkommen, da KIs längst eigenständig neue Erfindungen machen.
Auf der technischen Seite ist „Singularity“ stark und bietet viele spannende Ansätze, doch der Zukunftsentwurf hat einige Lücken und Schwächen. Adams Welt im Zug erscheint wie ein Jugenddystopiesetting gepaart mit SF-Horror, in dem Maschinen sich gegen Menschen wenden und diese niedermetzeln. Seine Geschichte ist ein langer Leidensweg voller Grauen. Auf seinem Weg durch Nordamerika durchquert er zerstörte Landschaften. Durch den Klimawandel ziehen regelmäßig Superstürme übers Land, während Wüsten sich immer weiter ausbreiten. Außer verrosteten Autos sieht Adam jedoch keine Zeugnisse einstiger Zivilisation und die Folgen des Klimawandels entsprechen den gängigen Horrorvorstellungen.
New York dagegen ist eine hochtechnisierte Stadt voller Licht und Wolkenkratzer, vollkommen künstlich und leer. Zumindest sieht man kaum andere Menschen außer den wenigen Verbesserten, mit denen James zu tun hat. Über Europa liest man in Nebensätzen, dass es dort nur „Überflussmenschen“ gäbe und der Kontinent einen anderen Weg gewählt hat – mehr erfährt man jedoch nicht. Auch nicht über den Rest der Welt und man wundert sich, dass Nordamerika regelrecht isoliert ist. Die Handlung begrenzt sich stark auf wenige Schauplätze, was auch daran liegt, dass es nur wenige handlungsrelevante Figuren gibt und Nebencharaktere nur Funktionen ausfüllen.
Nach einem Hackerangriff sind die Menschen in New York zeitweise vom allgegenwärtigen Deepnet getrennt, was insbesondere die Frauen in Panik versetzt (leider sind die meisten weiblichen Figuren wandelnde Klischees). So auch Stuarts Frau, die in einer Gruppentherapie mit anderen Frauen darüber spricht, sich nicht mehr nützlich zu fühlen. Der technologische Fortschritt hat sich so beschleunigt, dass sie alle paar Jahre neue Berufe lernen müssen, die bald nicht mehr gebraucht werden – ein spannender Aspekt, auf den Joshua Tree nicht näher eingeht. Die Figuren erfüllen in der Szene ihre Rollen, treten jedoch nicht als eigenständige Persönlichkeiten hervor.
Selbst den Protagonist*innen mangelt es an individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, die sie greifbar und interessant machen. All ihre Handlungen sind auf ihre jeweiligen Ziele ausgerichtet. Es bleibt kaum Raum für Träume, Sehnsüchte oder auch nur alltägliche Bedürfnisse und Gewohnheiten – so wie es in der Zukunft keinen Raum für Kultur gibt, für Musik, Literatur oder Kunst. Zumindest erzählt uns Joshua Tree nichts davon. Und weil seine Figuren rein an ihre Funktionen innerhalb der Geschichte gebunden sind, wird man auch nicht mitgerissen. James und Rhea sind in ihren Bestrebungen durchaus glaubhaft, Adam allerdings ist als kindlicher Charakter nicht gelungen. Er wirkt meistens viel jünger als er ist, ab und an aber auch älter. Immerhin gelingt dem Autor zum Ende noch eine große Überraschung, die die Tür zur Fortsetzung aufstößt.
Fazit
„Singularity“ ist ein spannendes Gedankenspiel, das sich intensiv mit der Natur der Wirklichkeit und des Menschen beschäftigt. Joshua Tree zeichnet ein bedrückendes Szenario, in dem Ressourcen extrem ungleich verteilt sind, sodass die Reichen die Armen endgültig abgehängt und dabei ihre Menschlichkeit größtenteils eingebüßt haben. Die Figuren sind meist auf ihre Funktion reduziert und bleiben blasse Akteure in einer Welt, in der der technologische Fortschritt grenzenlos scheint und in der sich alles und jeder simulieren lässt.
Pro und Contra
+ spannende Gedanken zur technologischen Singularität
+ beschäftigt sich mit der Natur der Wirklichkeit und des Menschen
+ James‘ Vorgehen bei der Suche nach Luise
+ interessanter Aufbau der Kolonie auf Proxima b
+ gelungene Überraschung am Ende
- blasse Figuren / Adam wirkt meist viel jünger als er ist
- lückenhafter, auf Nordamerika begrenzter Zukunftsentwurf
Wertung:
Handlung: 3,5/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 3/5