Flüchtiges Begehren (Donna Leon)

leon flchtiges begehren

Diogenes, 2021
Originaltitel: Transient Desires (2021)
Übersetzung von Werner Schmitz
Gebunden, 314 Seiten
€ 24,00 [D] | € 24,70 [A] | CHF 35,90
ISBN 978-3-257-07120-7

Genre: Kriminalroman


Rezension

Zwei junge Frauen werden in den frühen Morgenstunden schwer verletzt und bewusstlos auf der Ambulanz-Anlegestelle hinter dem Ospedale Civile zufällig von einem Wachmann gefunden. Das Überwachungsvideo des Hospitals zeigt, wie sie von zwei Männern aus einem Boot gehievt und abgeladen werden. Die beiden US-amerikanischen Touristinnen JoJo Peterson und Lucy Watson hatten die jungen Venezianer auf dem Campo Santa Margherita kennengelernt und sich zu einer nächtlichen Bootstour durch die Lagune einladen lassen.

Anhand des Überwachungsvideos werden die Männer als Marcello Vio und Filiberto Duso identifiziert. Sie geben an, mit dem Boot einen Gegenstand in der Lagune gerammt zu haben. Wenn es ein Unfall war, warum haben sie die hilflosen Frauen einfach abgeladen und ihn nicht vorschriftsmäßig der Polizei gemeldet? Vio und Duso sind trotz unterschiedlicher Herkunft seit der Schulzeit beste Freunde, die in ihrer Freizeit gerne in der Lagune segeln. Duso aus dem venezianischen Stadtteil Dorsoduro arbeitet als Anwalt in der renommierten Kanzlei seines Vaters, Vio von der Insel Giudecca ist Bootsführer im dortigen Transportunternehmen seines Onkels Pietro Borgato.

Für die Carabinieri von Giudecca sind Vio und Borgato persons of interest. Vio ist durch Bagatellen aufgefallen, sein Onkel durch diverse Gewalttaten, bevor er für mehrere Jahre aus Italien verschwand. Trotz Wirtschaftskrise floriert Borgatos Unternehmen. Gerüchten zufolge schmuggelt er Zigaretten oder Muscheln. Für die Untersuchung des Unfalls sind Brunetti und seine Kollegin Claudia Griffoni auf die Hilfe der Carabinieri von Giudecca und der für die nationalen Gewässer der Adria zuständigen Guardia Costiera angewiesen. Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der unbekannten Kollegen erschweren ihre Arbeit zusätzlich zu der Verschwiegenheit der beiden Freunde Vio und Duso.

Der Roman beginnt elegisch mit einem Tag im Spätherbst. Brunetti hatte am Vorabend sein jährliches Klassentreffen, eine freudlose Angelegenheit, weil zwei seiner Freunde vorzeitig in Ruhestand getreten sind und nur noch über die lustigen Eskapaden ihrer Enkel reden. Das, zuviel Grappa, Paolas Abwesenheit, eine unangenehme Begegnung mit seinem Vorgesetzten, Vice Questore Patta, Zeitungsberichte über die Ermordung einer Frau durch ihren Ehemann und einen Bootsunfall mit zwei verletzten US-Amerikanerinnen verstärken seinen Blues.

Noch interessiert ihn der Unfall nicht. Er sehnt sich nach positiven Meldungen. Der Roman verströmt eine Atmosphäre von Trauer über die Schattenseiten Venedigs und der conditio humana. Brunetti hat beschlossen, nicht mehr über den Niedergang der Stadt zu lamentieren, registriert fatalistisch, dass der Touristenstrom so unaufhaltsam und zerstörerisch ist wie das Acqua alta. Wenn er glaubt, alles gesehen zu haben, irrt er. Mit atemberaubender Wucht trifft ihn die Begegnung mit einem Kreuzfahrtschiff aus nächster Nähe und ungewöhnlicher Perspektive.

Noch schockierender ist sein neuer Fall. Dabei geht es anfangs nur um einen nicht gemeldeten Bootsunfall mit zwei Verletzten. Da ihn menschliches Verhalten grundsätzlich interessiert, will er wissen, warum sich die Männer so seltsam verhalten haben. Seine Hartnäckigkeit führt ihn zu einem Mann mit engsten Kontakten zur nigerianischen Mafia, der weder Moral noch Skrupel kennt und den alle fürchten.

Da in diesem Fall selbst Chefsekretärin Signorina Elettra an ihre Grenzen stößt, lässt Leon ihren Commissario zu einer ungewöhnlichen Methode greifen, um der Wahrheit näher zu kommen. Ebenso ungewöhnlich setzt sie das Ende in Szene mit einem Brunetti, wie er sich selbst (und auch wir ihn) noch nie erlebt haben. Immer wieder droht sich Brunetti in einem Netz aus Lügen und Gerüchten zu verirren.

Um zwischen Wahrheit und Gerücht zu unterscheiden, zieht er Tacitus, einen seiner Lieblingsautoren, heran. Der Historiker warnt davor, nicht den Geschichten zu glauben, die erzählt werden, auch wenn viele sie glauben, sondern nur die ungeschminkte Wahrheit. Doch was ist im Zeitalter des Fernsehens und der sozialen Medien die ungeschminkte Wahrheit?, fragt sich Brunetti. Die Wahrheitssuche gestaltet sich mühsam.

Brunetti muss nicht nur genau hinhören und hinsehen, sondern alle Partikel sorgfältig prüfen. So hört er sich die Beobachtungen des Müllmanns Cesco an - eines Architekten übrigens, der keinen Vater hat, der ihm über Beziehungen einen „richtigen“ Job verschaffen konnte – und überzeugt sich dann persönlich, ob die örtlichen Bedingungen diese Beobachtungen ermöglichen.

Auch Capitano Alaimo von der Guardia Costiera wird einer Überprüfung unterzogen, durch Claudia Griffoni, die wie er aus Neapel stammt und jemanden kennt, der jemanden kennt… In seinem Misstrauen geht Brunetti soweit, dass er selbst Griffoni nicht mehr vertraut. Dadurch setzt er ihre Freundschaft aufs Spiel und gerät in eine ethisch-moralische Krise, muss sich mit eigenen Vorurteilen und Schwächen auseinandersetzen.


Fazit

Nach unspektakulärem Auftakt entwickelt Donna Leon in ihrem 30. Brunetti-Roman eine starke Kriminalgeschichte um ein besonders grausames Verbrechen, dessen Drahtzieher gut organisiert sind und das bekannte Geschäftsmodell des Menschenhandels betreiben. Die italienische Mafia hat Konkurrenz bekommen. Die Geschichte ist fiktiv, doch die beschriebenen Zustände sind es nicht. Einmal mehr verweist Leon darauf, dass es keine noch so aktuelle Grundsatzfrage gibt, mit der sich nicht schon in der Antike ein Denker befasst hätte.


Pro und Kontra

+ wichtiges Thema
+ stilsicher und unterhaltsam erzählt
+ glaubwürdige Figuren
+ scharfsinnige Dialoge über Logik, Wahrheit und Lüge
+ kritischer Blick auf die Probleme von Italien/Venedig

Wertung:sterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 5/5


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Tags: italienischer Kriminalroman, Donna Leon, Menschenhandel