Am Fluss der Sterne (Guy Gavriel Kay)

Fischer Tor (Oktober 2017)
Originaltitel: River of Stars
Übersetzerin: Ulrike Brauns
Taschenbuch
720 Seiten, 16,99 EUR
ISBN: 978-3-596-03572-4

Genre: Historisch inspirierte Fantasy

Gelesen wurde die englischsprachige Originalausgabe


Klappentext

Einst galt Xi'an als schönste Stadt der zivilisierten Welt, der Kaiserhof als Hort des Luxus und der Kultur. Doch seit Kitai in weiten Teilen an die Barbaren aus dem Norden gefallen ist, herrscht Angst auf den Straßen, und das Heulen der Wölfe hallt durch verfallene Gemäuer.

Nur einem Mann scheint es möglich, das Reich der Mitte wieder zu neuer Größe zu führen: Ren Daiyan, Heerführer, ehemaliger Geächteter, Bogenschütze von fast mythischer Gestalt. An seiner Seite: die geheimnisvolle Lin Shan, vielleicht die klügste, auf jeden Fall aber die faszinierendste Frau ihrer Zeit ...


Rezension

Der Klappentext von „Am Fluss der Sterne“ lässt den Inhalt des Romas gradlinig wirken: Ren Daiyan und Lin Shan, Seite an Seite auf dem Weg zu einem großen Schicksal. Aber die Geschichte ist alles andere als das, denn „Am Fluss der Sterne“ präsentiert sich als ein Mosaik von Figurenschicksalen, vor dem Hintergrund eines Konflikts, bei dem zahlreiche Fraktionen involviert sind und sich Fronten und Bündnisse jederzeit verschieben können. Immer wieder müssen Figuren improvisieren, neue Allianzen eingehen und Entscheidungen treffen.

Ren Daiyan – ein charismatischer junger Mann, der es aus den Reihen der Gesetzlosen in die Gunst des Kaisers schafft –, scheint auserwählt, den Niedergang Kitais aufzuhalten. Doch im Verlauf des Buches begegnen uns noch andere Figuren, denen ein großes Schicksal bestimmt zu sein scheint – bis ein Pfeil aus dem Hinterhalt oder ähnliches dem ein jähes Ende macht. Daher ist schnell klar, dass es nicht so einfach sein wird. Und auch die furchtlose Lin Shan, die ihrem bescheidenen, doch unkonventionell denkenden Vater (einer sehr sympathischen Nebenfigur) eine ausgezeichnete Bildung verdankt, muss sich immer wieder fragen, ob sie das letztlich nur zu Unzufriedenheit prädestiniert.

Ren Daiyan und Lin Shan sind das, was Protagonist*innen am nächsten kommt, aber tatsächlich teilen sich hier viele Figuren die Aufmerksamkeit der Erzählinstanz. (Wahrscheinlich werden so einige Lesende das Figurenverzeichnis am Anfang des Buches zu schätzen wissen, da einige Namen recht ähnlich klingen.)

Einige von ihnen haben nur einen kurzen Auftritt, während dessen wir ihre Gedanken und Gefühle dennoch gut kennenlernen, wieder andere jedoch treten immer wieder auf, wie die Dichter-Brüder Lu Chao und Lu Chen oder der Minister Hang Dejin, der versucht, nach dramatischen Niederlagen weitere Desaster von Kitai abzuwenden. Guy Gavriel Kay präsentiert Lesenden ein großes Figurenensemble und zahlreiche Handlungsstränge, aber es gelingt ihm, das Buch nicht „ausfransen“ zu lassen, indem er die Pfade der wichtigsten Figuren immer wieder zueinander führt. Immer wieder werden Figuren und Ereignisse wieder aufgegriffen.

Einige wenige Abschnitte jedoch fühlen sich tatsächlich wie Abschweifungen an – hier habe ich die Vermutung, dass der Autor spannende Dinge zeigen wollte, auf die er bei der Recherche für das Buch gestoßen ist, denn auch wenn es sich bei „Am Fluss der Sterne“ um einen Fantasy-Roman handelt, der die historischen Ereignisse komprimiert und Begegnungen zwischen Figuren zeigt, deren Vorbilder sich nicht gekannt haben dürften, ist das Buch stark von der Geschichte und Kultur des Chinas der Song-Dynastie inspiriert – im Nachwort nennt Kay einige seiner Quellen.

„Am Fluss der Sterne“ bietet ein eher gemächliches Leseerlebnis und auch wenn das Buch sehr spannende Momente hat, gibt es nicht den einen zentralen Konflikt, der die Handlung vorantreibt und auf dessen Auflösung man beim Lesen hibbelig wartet. Wann immer ich gerade beim Lesen war, habe ich das Buch sehr genossen, aber wenn ich es zur Seite gelegt habe, habe ich nicht darauf gefiebert, weiterzulesen. Dennoch hatte ich eine Menge Freude an dem Buch, da es seinen allwissenden Erzähler gekonnt einsetzt, um eine Geschichte über einprägsame Figuren zu erzählen (teilweise fand ich einige der Nebenfiguren noch plastischer und überzeugender als z.B. Ren Daiyan, der etwas zu gelassen-heldenhaft erscheint), aber auch darüber zu philosophieren, wie Geschichte und Geschichtsschreibung funktionieren und welche Rolle Individuen darin einnehmen.

Es ist eine gleichzeitig hochkultivierte und gnadenlose Welt, durch die sich die Figuren bewegen und öfters erfahren wir fast nebenbei, dass wieder eine Figur ein ebenso unerwartetes wie unangenehmes Ende gefunden hat. Die Erzählinstanz zoomt herein und heraus, blickt auch mal in die Zukunft. Figuren werden mal mit unterschwelliger Zuneigung, mal mit einer Prise Ironie geschildert, und es ist interessant, zu verfolgen, wie sich ihre Beziehungen mit der Zeit ändern. „Am Fluss der Sterne“ spielt lange nach „Im Schatten des Himmels“ und hier und da wird auf Ereignisse aus „Im Schatten des Himmels“ angespielt.


Fazit

In „River of Stars“ entfaltet sich vor dem Hintergrund eines von der Song-Dynastie inspirierten Settings und Konflikts eine komplexe Handlung. Das Buch nimmt sich viel Zeit, um das Schicksal einzelner Figuren, aber auch ihren Platz in größeren historischen Kontexten und Geschichte im Allgemeinen zu erkunden, und liefert so ein schönes, melancholisches Epos, das nicht mit atemloser Spannung aufwartet, aber aus anderen Gründen sehr lesenswert ist.


Pro und Contra

+ spannende historische Inspirationsquelle und viel eingeflossene Recherche
+ gekonnter Einsatz des allwissenden Erzählers
+ auch Nebenfiguren sind einprägsam
+ Auseinandersetzung mit Schicksal, Geschichte, Mythenbildung

o eher gemächlich
o mehr Mosaik aus Geschichten

-Längen am Anfang und Ende

Wertung

Handlung: 4/5
Figuren: 5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis-Leistung: 3,5/5

Rezension zu „Im Schatten des Himmels“

Tags: Guy Gavriel Kay, historische Fantasy, China