Das Zeitalter der Kröte. Fairytale Gone Bad 3 (Faye Hell)

hell zeitalter

Amrûn, 2020
Taschenbuch, 150 Seiten
€ 8,00 [D] | € 8,50 [A] | CHF 11,90
ISBN 978-3-95869-389-0

Genre: Horror, Dystopie


Rezension

In einem totalitären System, das Reich genannt, gibt es keine „unerträglich freigeistigen Bildenden Künste“ mehr. Die wurden vom Komitee vor Jahrzehnten abgeschafft. Bis zur öffentlichen Wahrnehmung dieser Veränderung dauerte es sieben Jahre. Der letzte Musiker und der letzte Schauspieler sind tot. Jacob Toad ist der letzte Schriftsteller, sein 3000 Seiten umfangreiches Werk „Die Geschichte unserer Welt – ein Märchen?“ das letzte Buch. Es gibt Widerstands-Buchgruppen, die illegal lesen, vor allem Klassiker.

Im Reich sind alle Felder amtlich besetzt, Blogs, Vlogs, Interlogs, eine freie Presse, die keine ist. Besetzt sind sie mit Leuten wie Steven_Plautze28 oder Das junge Literatrio. Wir kennen das aus der Politik, junge Wilde genannte Menschen, die mit viel Aufwand den Eindruck erwecken wollen, sie seien junge Wilde, realiter aber nur den Status quo erhalten wollen. Toads temporär systemrelevante Aufgabe ist es, „der letzte Rebell zu sein“.

Das Zeitalter der Kröte ist, nach Michaela Harichs Die Nacht der Blumen und Stephanie Kempins Der Flug der Krähen, der dritte Band in der Reihe "Fairytale Gone Bad", die seit 2019 im Amrûn Verlag erscheint. Der Reihentitel weist auf Märchen hin. Das Zeitalter der Kröte ist weniger ein Märchen als eine Horrorstory oder eine Dystopie. Horror, in dem der Märchenbezug gesucht werden muss. Nahe liegt es, wegen der Kröte im Titel an den Grimmschen Froschkönig zu denken, eins der ältesten und beliebtesten Märchen. In Kapitel 5 lernt Toad Nicole kennen, holt ihr Smarter Phone aus dem Wasser und wird mit einem Kuss belohnt. Im sechsten Kapitel gibt es eine Passage mit Märchenreferenzen. An späterer Stelle wird ein Teil des Festa-Verlagsprogramms aufgezählt.

Wichtigere Bezüge sind drei Dystopien. Das Zeitalter der Kröte amalgamiert George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Schöne neue Welt (eine Zeitschrift in Hells Roman heißt "Schönes neues Wohnen"), es gibt Zutaten aus Ray Bradburys Fahrenheit 451. Das Zeitalter der Kröte ist der erste Titel der Reihe "Fairytale Gone Bad", der mit den Content Notes: „Nicht geeignet für jüngere Leser. #gewalt #sexuelle Sprache“ versehen ist. Faye Hell schreibt auf ihrer Website, sie sei Horrorautorin und ein Leben ohne Horror sei für sie undenkbar.

In Inhalt und Stil provoziert Faye Hell. Ein Buch, das Reaktionen hervorruft, dessen Lektüre nicht gleichgültig lassen dürfte. Eine Autorin, die gerne die dunklen Zimmer des House of Horror ausleuchtet, dies oftmals recht grell, satirisch und unterhaltsam. Das Zeitalter der Kröte ist eine sprachlich abwechslungsreiche Horror-Dystopie. Auf dem High-Faye to Hell werden in hoher Geschwindigkeit wie beim professionellen Häuten einer Zwiebel mit einem schönen Messer Obszönitäten freigelegt, die zwingend in der dargestellten Welt wirken.

Der Protagonist ist ein Junkie und Kotzbrocken, naturgemäß schwer zugänglich, leichter abzulehnen, auf den man sich aber dennoch einlassen muss. Weil er die Perspektive vorgibt und man nur so Zugang zur Krötenwelt bekommt. Toad fragt sich nach einem Traum, warum der Teufel ihn hasst. An anderer Stelle sagt er einmal, im Paradies sei er immerhin die Schlange gewesen und hätte einen Ruf zu verlieren gehabt. In Miltons Paradise Lost sitzt Satan nachts bei der schlafenden Eva, um ihr Verlangen zu wecken – als Kröte. Morgens erzählt Eva Adam ihren Traum, in dem sie von der verbotenen Frucht gekostet hat. Die Kröte als Bild für die Rebellion gegen ein übermächtiges System.

Toad scheint kein ideologischer, sondern ein opportunistischer Vertreter des Systems zu sein. Er zieht aus seinem Status und seiner Rolle viele Vorteile, bildet seine negativen Charaktereigenschaften gewinnbringend intensiv aus und ist irgendwann gezwungen, einen Blick auf die Rechnung zu werfen. Toad gerät in eine Situation, in der er sein Werk negieren soll, um anschließend ein besseres Leben führen zu können. Der Autor muss sich die Frage stellen, ob er hinter seinem Buch steht, was es ihm bedeutet, abgesehen von den Vorteilen, die es ihm im Reich bietet, schließlich: wer er überhaupt ist. Ist der Tod des Werkes besser als der Tod des Autors? Da Toad triebgesteuert ist, kam ihm sein Status als Reichsautor entgegen. War sein Buch nur Instrument?

Der letzte Schauspieler bot bis zu seinem Tod in einer Endlosschleife aus Aufführungen und Schlaf sein Stück „Liebe das Reich“ und die Zusicherung, von seiner „Liebe für das Reich“ zu träumen. Sein Schlaf war dadurch Bestandteil der Aufführung. Toad wird einmal beschrieben als Platzhalter der Menschen für die Rebellion. All dies und einiges mehr wird in einer obszönen Story erzählt, in der sich auch noch so schöne Begriffe finden wie: Bewunderungsfront, Wohnungsverdichtungseinheit, Messias-Mäßigkeit und Selbstunkenntlichkeit. Am Ende schickt Faye Hell in einer bösen Szenenfolge noch eine Grußkarte an den Zombie-Produzenten Jeffrey Dahmer.


Fazit

Faye Hell präsentiert in ihrem Roman Das Zeitalter der Kröte ein totalitäres Marionettentheater als Spiel mit Illusionen in einem Netz lebhafter Bilder. Dystopischer Horror, in der Darstellung reduziert auf Aspekte des Kulturbetriebes, aber in der Wirkung umfassender.


Pro und Kontra

+ anspruchsvoll und gewagt
+ kein nährstoffarmes Lesefutter
+ interessante Erzählperspektive
+ Alternative zum Mainstream

Wertung:sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 5/5


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