Meike Eggers (28.06.2021)

Interview mit Meike Eggers

Literatopia: Hallo, Meike! Kürzlich ist bei Polarise Dein SF-Roman „Cybionic – Der unabwendbare Anfang“ erschienen. Was erwartet Student Sala auf der Suche nach seiner Schwester?

meikeeggersswMeike Eggers: Sala macht eine beängstigende und gleichzeitig auch befreiende Entdeckung: Nichts ist so, wie es scheint. Beängstigend, weil er vorübergehend seinen einzigen Halt verliert. Seine Schwester und wichtigste emotionale Stütze verschwindet spurlos. Während er sie sucht, wächst in ihm das Gefühl, dass er verfolgt und beobachtet wird. Schließlich manifestiert sich dieses zunächst noch subtile Gefühl in bedrohlichen Ereignissen und lässt sich nicht mehr leugnen. Die Realität, an die alle glauben, bricht in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Dass wiederum ist für Sala auch eine Befreiung, denn seit seiner Kindheit ist er ein Außenseiter und Zweifler. Endlich ist er sich sicher, seine Berufung und seinen Lebenssinn gefunden zu haben.

Literatopia: Was ist Sala für ein Mensch? Und wie war die Beziehung zu seiner Schwester vor ihrem Verschwinden?

Meike Eggers: Sala ist als Kind mit seiner Familie aus dem vom Krieg verwüsteten Grosny nach Bonn geflüchtet. In Bonn kämpft er mit Integrationsproblemen und erlebt, wie seine Eltern es nicht schaffen, ein neues Leben aufzubauen. Sein Vater kehrt nach einem Morgengebet in einer Bonner Vorortmoschee nicht nach Hause zurück und seine Mutter verfällt dem Alkohol.

Sala ist davon überzeugt, dass "die Tradition des Verschwindens" sein Leben geißelt. Trotzdem scheint erst einmal alles gut zu gehen. Nach der Schule folgt er seiner Schwester nach Berlin und studiert Architektur. An der Oberfläche ist er inzwischen gut integriert. Aber das Gefühl, dass er den anderen nur beim Leben zusieht, kann er nie ganz abschütteln. Seine Schwester Ksen ist genau das Gegenteil von ihm. Sie ist immer voller Pläne und weiß genau, was sie will. Ihr Tatendrang und ihre Energie reißen ihn mit. Bis sie eines Nachts verschwindet und Sala auf einmal alleine zurecht kommen muss.

Literatopia: Das Thema Künstliche Intelligenz ist in der SF sehr beliebt. Was fasziniert Dich persönlich daran? Und gibt es in „Cybionic“ echte Künstliche Intelligenzen oder „nur“ selbstlernende Algorithmen?

Meike Eggers: Ich habe selbst sehr viele Fragen an die rasanten Entwicklungen, die neue Technologien derzeit durchmachen. Dass sich unsere Gesellschaft gerade in einer Umbruchphase befindet, können wir wohl mit Sicherheit sagen. Aber was genau bedeutet das alles? Wie verändert es unser Menschsein? Unser Miteinander? Unsere Identität oder unser Sozialverhalten? In meinen Büchern bin ich auf der Suche nach Antworten. Ich habe also vor allem viele Fragen. Wie verändern Algorithmen unsere Selbstwahrnehmung und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit? Welchen Einfluss haben Algorithmen und eine durch Algorithmen gesteuerte Realität auf unsere Gesellschaft? Wem geben sie Macht? Wie manipulieren sie uns, oder gibt es so etwas wie Manipulation eigentlich gar nicht, da es auch so etwas sie Realität eigentlich gar nicht gibt? Und was, wenn der Mensch unter Umständen die Regie eines Tages verliert und Algorithmen intelligenter und cleverer werden, als uns lieb ist? Wie weit sind wir ihnen bereits ausgeliefert? Diese Fragen versuche ich in der „Cybionic“-Trilogie durchzuspielen.

Eine meiner Leserinnen beschrieb „Cybionic – Der unabwendbare Anfang“ als Grenzwanderung zwischen Realität und Science Fiction. Das finde ich sehr passend. Ich arbeite sehr viel mit realen Gegebenheiten. Mit theoretisch realistischen Szenarios. Science Fiction hilft uns die Gegenwart durch die Lupe der Zukunft genauer zu betrachten und besser zu verstehen. Aber natürlich ist in meiner Geschichte technisch mehr möglich als in der Welt, in der wir gerade leben. Ich treibe es auf die Spitze und hoffe, dass meine Geschichte nicht unsere Realität wird. Um zur Ausgangsfrage zurückzukommen, der Leser trifft also nicht nur auf „selbstlernende Algorithmen“.

Literatopia: Kommen wir zur Biologie in „Cybionic“ – inwiefern verschmelzen Mensch und Maschine? Und spielt dabei Gentechnologie eine Rolle?

Meike Eggers: Das Thema Biologie spielt vor allem im zweiten „Cybionic“-Band „Die unaufhaltsame Einheit“ eine Rolle. Ich will natürlich nicht zu viel verraten, aber in der Evolution gibt es ein paar wichtige Prinzipien durch die Arten erfolgreicher überleben. Eine davon ist der Zusammenschluss innerhalb eines symbiotischen Systems. Organismen verschiedener Arten leben in Koexistenz zusammen und sind dabei voneinander abhängig. Sie überleben durch diese Symbiose. In unserem Darm leben zum Beispiel Bakterien, ohne die unsere Verdauung nicht funktionieren würde. Die Symbiose kann letztendlich zu einer Verschmelzung der beiden Arten führen, was als Symbiogenese bezeichnet wird. Oft führt diese Verschmelzung zu einem evolutionären Sprung. Die neue Art ist komplexer und erfolgreicher als die beiden ursprünglichen Arten alleine waren. Die Verschmelzung hat also viele Vorteile. Es kommt zu Entwicklungs- und Intelligenzsprüngen.

Die Idee dieser Symbiogenese spielt eine wichtige Rolle in der „Cybionic“-Trilogie. Gentechnologie und die Möglichkeit lebende Zellen als Hardware umzufunktionieren, sind Themen und Szenarien, die ich gedanklich durchgespielt habe. Mich interessiert vor allem die „mentale“ Verbindung zu Netzwerken, die wir jetzt ja auch schon fast rund um die Uhr herstellen können, wenn wir wollen, mit Hilfe von Hardware, z. B. unseren Handys. Wir verlagern unsere Wahrnehmung und unsere Erfahrungen, unseren Geist, wenn man es so nennen will, dadurch zu einem Teil ins Virtuelle. Die Grenze zwischen dem virtuellen Raum und unsere realen Existenz verschmilzt. Noch können wir einloggen und ausloggen, aber was, wenn unser Geist permanent mit dem virtuellen Raum verbunden wäre? Wie würde das unsere Identität, unser Mensch-Sein, beeinflussen oder gar verändern? Angenommen, wir können uns eines Tages nicht mehr aussuchen, ob wir "datengefilterte" Informationen wahrnehmen wollen, und vor allem welche Informationen in unser Gehirn fließen, wie würde das unsere Gefühle, unsere Ideale, unser Miteinander beeinflussen?

Literatopia: Warum hast Du Berlin als Setting für „Cybionic“ gewählt? Was macht die Stadt zur perfekten Kulisse für Science Fiction?

Meike Eggers: Die Schauplätze meiner Bücher sind immer Orte, die mich selbst in ihren Bann ziehen. Die Berge Transsilvaniens, Rotterdam und natürlich Berlin. Keine andere Stadt hat so viele unterschiedliche Realitäten in einem so kurzen Zeitraum durchlebt, so viele abrupte Umbrüche ertragen und sich jedesmal wieder neu erfunden. Berlin verkörpert alle Themen, die mich interessieren: Wirklichkeit, Macht, Manipulation, Medien. Die Stadt ist der perfekte Ort für den Anfang der „Cybionic“-Geschichte.

Außerdem hat Berlin einen festen Platz in meinem Herzen, seit ich in den 1990er Jahren dort leben durfte: Straßen ohne Namen, Universitätsbibliotheken, deren Inhalt von einem Tag zum nächsten komplett auf dem Bürgersteig lag, da die alte Weltanschauung ausgedient hatte. Illegale Clubs in verfallenen Kellern. Die Zukunft war weit weg, die Vergangenheit wurde gerade gelöscht und die besten Partys fanden auf den Dächern hoch über der Stadt statt. Die Berliner Geschichte ist ein perfekter Spiegel für den Anfang meiner Geschichte. Denn sogar in Sci-Fi ist die Vergangenheit wichtig - das Neue wächst immer aus dem, was vorher war.

Literatopia: Inwiefern beeinflusst die Vergangenheit, z.B. der Zweite Weltkrieg, Salas Gegenwart?

Meike Eggers: Wie bei jedem Menschen spielt seine eigene Vergangenheit eine große Rolle in der Prägung seines Charakters. Vor allem der Krieg in Tschetschenien, dem er als Kind entflohen ist. Ebenso die Integration in eine neue Kultur, die er nach eigenem Gefühl nie wirklich geschafft hat. Das alles ist eine der Hauptquellen seiner Ängste, die sein Handeln und seine Entscheidungen bestimmen. Den Zweiten Weltkrieg hat er natürlich nicht selbst erlebt, aber die Spuren der Vergangenheit haben unsere Umgebung geformt. Ebenso unsere Ethik und Umgangsformen. Oft sind wir uns gar nicht bewusst, wie stark die Vergangenheit in der Gegenwart anwesend ist. Gerade große traumatische Ereignisse, wie Kriege, beeinflussen auch spätere Generationen zum Teil noch sehr grundlegend. Bestimmen sogar Jahrzehnte später noch, was man sagen oder gar denken darf. Die Realität der Vergangenheit steuert einen Teil der Gegenwart, bis sie irgendwann so weit weg ist, dass sie für die neuen Generationen abstrakt oder sogar unverständlich wird.

Durch das alte Portraitfoto, dass Sala im Zimmer seiner Schwester findet, taucht er in die Geschichte der Informatik ein und erkennt, wie sehr sich die Gegenwart aus der Vergangenheit ergibt. Der Grundstein für viele der Techniken mit denen wir heute leben, wurde zum Teil schon vor Jahrzehnten gelegt.

Literatopia: „Cybionic“ ist eine erweiterte Ausgabe Deines Tech-Thrillers „Die Dekodierung“ – wie stark unterscheiden sich die beiden Romane? Und wie kam es dazu, dass Du „Die Dekodierung“ nochmal überarbeitet und erweitert hast?

cybionic die unaufhaltsame einheitMeike Eggers: „Die Dekodierung“ war der erste Roman, den ich geschrieben habe, und das war tatsächlich so etwas wie ein Unfall. Auf jeden Fall nicht geplant. Als ich vor ungefähr zehn Jahren die ersten Zeilen für ein neues Projekt auf Papier gebracht hatte, hatte ich nicht den blassesten Schimmer, dass daraus ein Roman entstehen würde. Und schon gar nicht eine SciFi-Trilogie. Eigentlich wollte ich an dem Drehbuch einer Videoinstallation arbeiten. Dafür hatte ich Datenspuren von Personen gesammelt, u.a. auch Fotos, die die Leute im Laufe des Tages mit ihrem Handy gemacht hatten. Die Bilder hatte ich in ihre Hexadezimal-Codierung umgesetzt und animiert und dazu fiktive Personen erfunden. Nach und nach fingen die Figuren aus meiner Installation ein Eigenleben an und ich konnte einfach nicht mehr aufhören zu schreiben. Zwei Jahren später hielt ich dann die erste Version eines Roman Manuskripts in meinen Händen.

Danach habe ich mich erst einmal bewusst mit dem Roman-Schreiben beschäftigt. Denn die erste Version war natürlich alles andere als rund. Ich habe z.B. einen Roman-Kurs bei Rainer Weckwerth belegt. Zwar hatte ich bereits Schreiberfahrung und auch schon etwas veröffentlicht, aber nicht im fiktiven Bereich. Und auch nicht auf Deutsch. Da ich seit über 20 Jahren in Holland lebe, davor noch ein paar Jahre in England, schreibe ich vor allem Englisch oder Holländisch. Als meine Kinder geboren wurden, wollte ich sie zweisprachig erziehen und da ist mir erst einmal bewusst geworden, wie weit mir die Sprache schon abhanden gekommen war. Ein Projekt in Berlin war die Chance mein Deutsch etwas aufzupolieren.

„Die Dekodierung“ habe ich schließlich als Self- Publisher veröffentlicht. Danach hat mich die Geschichte aber noch immer nicht losgelassen und ich habe eigentlich nahtlos an meinem zweiten Manuskript weitergeschrieben. Damals kam zum ersten Mal die Idee einer Trilogie in mir auf. Zur gleichen Zeit entstand der Kontakt mit meinem heutigen Verlag Polarise, die Buchschnipsel aus „Die Dekodierung“ auf Instagram gesehen hatten. Während der Zusammenarbeit mit Polarise ist dann die erste unscharfe Idee einer Trilogie zu einem handfesten Konzept ausgewachsen. Inhaltlich hat sich einiges geändert, in „Cybionic“ gibt es zum Beispiel mehr Erzählperspektiven als in „Die Dekodierung“. Dadurch kann ich unterschiedliche Aspekte beleuchten, was meinem oft philosophischen Interesse an diesen Themen sehr zugutekommt. Ein eindeutiges „gut“ oder „böse“ gibt es in meiner Geschichte nicht. Ich liebe gerade die Komplexität der im Buch behandelten Themen.

Literatopia: Du hast Medien, Fotografie und Film studiert. Inwiefern haben Deine Erfahrungen aus dem Studium „Cybionic“ beeinflusst?

Meike Eggers: Die Themen in "Cybionic" sind dieselben Themen, mit denen ich mich auch in meinen visuellen und künstlerischen Projekten beschäftige. Meine Faszination für neue Techniken, vor allem in den Bereichen Medien, Fotografie und Videos wurde während meiner Arbeit am "Centre of Applied Research for Art, Design and Technology" der Kunsthochschule AKV St.Joost in Breda geweckt. Damals habe ich mich damit beschäftigt wie Kamerabilder die Wahrnehmung der Realität beeinflussen, und vor allem seit der Entstehung des Internets und der Möglichkeit, dass jeder Bild- und Videomaterial im Internet veröffentlichen kann. Später sind dann noch Bereiche wie Fake-News, Realitäts-Bubbles und Algorithmen dazugekommen, um nur ein paar Stichwörter zu nennen. Mit diesen Themen beschäftige ich mich jetzt seit dreizehn Jahren in den unterschiedlichsten Projekten.

Da ich ursprünglich aus der Bilderwelt komme, arbeite ich auch als Schreiber am liebsten wie eine Kamerafrau. Ich besuche alle Orte über die ich schreibe. Ich will einen Ort fühlen, riechen, hören. Sehen wie die Menschen sich dort verhalten. Ob sie schnell die Straße entlang eilen oder in der Umgebung aufgehen. Mir bringt es einfach wahnsinnig viel Spaß kleine Details zu entdecken, die meine Phantasie anregen. Spuren der Vergangenheit, die Bedeutung haben, obwohl sie vielleicht auf den ersten Blick total unscheinbar sind. Da ich auch an mehreren Dokumentar-Projekten mitgearbeitet habe, recherchiere ich meistens viel und vor allem sehr gerne. Auch die Schauplätze meiner Bücher, die in der Zukunft liegen, haben ihre Wurzeln eigentlich immer in der Gegenwart und neuesten Entwicklungen. An der Rotterdamer Fachhochschule wird zum Beispiel gerade eine schwimmende Stadt entwickelt, die inzwischen auch teilweise in den stillgelegten Hafenbecken des Rotterdamer Hafens getestet wird. Diese schwimmende Stadt war Inspiration für einen Schauplatz im dritten „Cybionic“-Band, das im Jahre 2058 spielt. Das Schöne an Science-Fiction ist natürlich, dass ich die Beschränkungen der Realität verlassen kann. Aber der Bezug ist immer vorhanden.

Literatopia: Du bist Mitgründerin von „Mindstory Hacking“ – was bietet Ihr in Euren Seminaren, Publikationen und Webinars?

Meike Eggers: Ich unterrichte auch an Kunsthochschulen. Der kreative Prozess und die Entwicklung, die ein Künstler durchläuft, bis er oder sie die eigenen Bildsprache, das passende Genre und eine unverwechselbare Handschrift gefunden hat, fasziniert mich schon seit Jahren. In den Mindstory-Hacking-Seminaren bieten wir Masterclasses und Seminare an, in denen die Teilnehmer genau an diesen Punkten arbeiten. Das Ziel ist es eine starke Zukunftsvision, ein neues Geschäftskonzept oder die eigene künstlerische Handschrift weiter zu entwickeln. Während der letzten 1,5 Jahre haben wir aufgrund von Corona fast nur Webinars gegeben. So ein Online-Kurs dauert in der Regel 6-8 Wochen und hat ca. 10 Teilnehmer, von denen die meisten einen kreativen Beruf haben. Designer, Grafiker, bildende Künstler, Autoren. Immer öfter arbeiten wir aber auch mit Menschen, die sich selbst erst einmal gar nicht als kreativ bezeichnen würden. Aber im Endeffekt sind wir alle kreativ und brauchen alle starke Zukunftsvisionen, um uns mit der sich immer schneller verändernden Welt mitzuentwickeln. Ein Bäcker genauso wie ein Wissenschaftler oder eine Managerin.

Das besondere in unseren Seminaren ist, dass jeder Teilnehmer eine „Mindbox“ erhält, in der sich ein Arbeitsbuch und die Übungen und Aufgaben befindet. Vor allem aber ist in diesen „Mindboxen" viel Platz, so dass die Teilnehmer alles sammeln und ausarbeiten können, was ihre Visionen, Talente und Pläne ausmacht und verstärkt. Natürlich beschäftigen wir uns auch mit den Stolpersteinen, dem inneren Kritiker und Blockaden, aber unser Ansatz baut auf den Stärken auf, die jeder hat. Wir suchen den roten Faden, der sich durch die Vergangenheit und Gegenwart zieht und dadurch auch die Zukunft sichtbarer macht. Am Ende des Seminars haben die Teilnehmer eine individuelle Zukunftsvision entwickelt und eine Strategie, um diese in die Realität umzusetzen. Sobald Corona es zulässt, werden wir auch wieder analoge Masterclasses vor Ort geben. Ein mehrtägiges Seminar in einem Dorf in Transsilvanien steht ganz oben auf unserer Wunschliste. Und wir hoffen, dass wir das im Herbst 2021 noch realisieren können.

Literatopia: Als Inspirationsquelle für „Mindstory Hacking“ gibst Du den Französischen Philosophen Paul Ricoeur und seine Theorie der ’narrativen Identität‘ an – kannst Du das für unsere Leser*innen näher erläutern?

Meike Eggers: Als wir Paul Ricoeur entdeckt haben, hatten wir bereits einige Monate an unserem Programm gearbeitet. Seine Gedanken und Bücher haben alles auf den richtigen Platz gerückt. Seine Theorie, dass Menschen eine „narrative Identität“ besitzen, trifft genau das, womit wir uns bereits beschäftigt hatten, ohne einen Namen dafür zu kennen. Ganz kurz zusammengefasst: Wir Menschen erzählen uns, wer wir sind. Unsere Identität ist eine Selbst-Erzählung. Wir ordnen das Chaos der Welt durch Geschichten. Diese inneren Geschichten laufen, wie ein Film, ununterbrochen vor unserem geistigen Auge ab. Alles, was in unserem Leben passiert, versuchen wir mehr oder weniger bewusst in diesen Film zu integrieren. Manchmal klappt das aber auch einfach nicht, dann kommt es zu einem radikalen Bruch im Plot, um in der Geschichten-Terminologie zu bleiben. Im echten Leben nehmen wir so einen Plot-Bruch als Krise war. Sie werfen uns aus der Bahn, lassen uns zweifeln. Manchmal vielleicht sogar verzweifeln. Aber diese Momente sind auch eine große Chance, obwohl sie uns erst einmal aus dem Gleichgewicht bringen.

Als Autoren kennen wir das: Ohne Probleme entsteht oft keine Handlung und die Geschichte kommt nicht richtig in Fahrt. Mit diesen „inneren Geschichten“, die Paul Ricoeur beschreibt, arbeiten wir in unseren Workshops. Es geht also auch viel um Techniken des Storytellings und Kreativitätstechniken. Außerdem sind Geschichten einfach etwas Wunderbares und in vielen Bereichen wichtig. Sie verbinden uns miteinander und helfen uns Ereignisse zu erinnern. Durch sie können wir die Zukunft visualisieren, Pläne schmieden und miteinander kooperieren. Erst wenn wir eine deutliche Vision, also eine in sich logische Geschichte, in unserem Kopf kreiert haben, kann sich die Welt dementsprechend verändern.

cybionic der unaufloesbare restLiteratopia: Wie erfindet man eine glaubwürdige und interessante Geschichte für eine Romanfigur? Wie wurde z.B. aus Sala in „Cybionic“ ein facettenreicher Charakter?

Meike Eggers: Sala ist die Hauptfigur des ersten „Cybionic“-Buches. Im zweiten Band wird die Leserin / der Leser Fleur als Hauptperson kennenlernen und im dritten Buch eine junge Frau namens Liv. Sala kommt in den beiden anderen Büchern auch wieder vor, aber nur noch als Nebenfigur. Ich fand es interessant, diese Geschichte durch drei unterschiedliche Perspektiven zu erzählen. Eigentlich sind es ja sogar noch mehr, da jedes Buch zwei oder drei Erzählperspektiven hat. Die gesamte Geschichte zieht sich über zwei Generationen und auch hierin sieht man, wie die Zeit die Wahrnehmung und die Realität der Menschen verändert.

Die Diskrepanzen zwischen der Innen- und der Außenwelt einer Hauptperson liefern meistens den Schlüssel für einen interessanten Charakter. Wenn man die Innenwelt einer Person kennt, weiss man warum er oder sie auf eine bestimmte Art reagiert. Meistens kämpft die Hauptperson mit einem Konflikt, der sich aus der Diskrepanz zwischen der Innen- und Außenwelt ergibt. Dieser Konflikt motiviert das Handeln der Hauptperson und treibt dadurch auch die Geschichte voran. Ein interessanter Charakter hat also irgendwo ein Problem und entwickelt sich im Laufe der Geschichte, um dieses Problem zu lösen. Manchmal gelingt das, manchmal auch nicht. Die Art und Weise, wie die Hauptperson probiert diesen Konflikt zu lösen, bestimmt die Glaubwürdigkeit. Wenn jemandem zum Beispiel eine Tafel Schokolade gestohlen wird, wird er oder sie danach normalerweise keinen Amok laufen, um die Schokolade zurückzubekommen. Außer, es gibt einen sehr wichtigen Grund weshalb diese Tafel Schokolade so wichtig für die Person war. Vielleicht verleiht sie Zauberkräfte, die die Hauptperson braucht, um seine oder ihre große Liebe zu retten. Das Handeln der Hauptperson braucht also eine glaubwürdige und interessante Logik.

Sala hat ganz sicher Probleme, die sich aus seiner Vergangenheit ergeben. Durch seine Erfahrungen mit Krieg und Emigration hat er Probleme sich in die 'Realität der anderen zu fügen', wie er es nennt. Dabei ist er keine passive Person, die sich seinem Schicksal ergibt, sondern er handelt. Er hat Idealismus, will die Welt verstehen und sein Problem lösen. Da die gesamte Welt bald mit einem ähnlichen Realitätsproblem zu kämpfen hat, wie er, scheint er der perfekte Held um diese Aufgabe zu bewältigen. Dennoch entpuppt sich Sala am Ende des dritten Buch als tragische Hauptperson, soviel kann ich schon einmal verraten.

Literatopia: Auf Deiner Website schreibst Du, dass Du Science Fiction schreibst, um die Gegenwart zu verstehen. Was zum Beispiel erzählt uns Science Fiction über unsere Gegenwart?

Meike Eggers: Wir betrachten die Welt immer durch einen subjektiven Filter. Auch unsere Ängste und Visionen werden durch diesen Filter geprägt. Wenn man sich heute ältere Science-Fiction-Filme ansieht, fällt einem schnell auf, dass sie vor allem ein Spiegel der Zeit sind, in der sie geschrieben wurden. Gleichzeitig beeinflusst Science Fiction aber auch unsere Erwartungen an die Zukunft und öffnet Türen für Diskussionen oder sogar neue Erfindungen. Für mich ist gerade die Near-Future-SciFi, in der sich auch meine Geschichten bewegen, ein Genre, das die Gegenwart sehr stark reflektiert und uns hilft, die schnellen und grundlegenden Veränderungen unserer Zeit zu verstehen. Mich persönlich interessieren vor allem die Kommunikationstechnologien, die im Moment einen sehr starken Einfluss auf unsere Gesellschaft und unsere individuelle Identität haben. Das Internet, Social Media, die Tatsache, dass in allen Handys heutzutage eine Kamera eingebaut ist. Mit denen alle großen Ereignisse, aber auch ganz banale alltägliche Handlungen, gefilmt und in Realtime mit der ganzen Welt geteilt werden können. Nicht nur die Ästhetik verändert sich hierdurch, wir haben auch neue Umgangsformen entwickelt und unser Selbstbild wird zu einem immer größeren Teil online geformt. Kommunikation in scheinbarer Anonymität, die bei nicht wenigen ungefilterte Charakterzüge ans Licht bringt, fern von Ethik oder Empathie. Das alles beeinflusst auch, wie wir uns in der realen Welt fühlen und benehmen. Emojis statt Körpersprache. Heute formen Zeichen- und Zeitbegrenzungen den Inhalt und bestimmen Algorithmen und Klicks den Grad der Sichtbarkeit und damit auch der Wichtigkeit.

All diese Entwicklungen verändern die Welt, unser Mensch-Sein, unser Miteinander. Vor ein paar Jahren war der Begriff „Grassroots Media“ noch in aller Munde. Der Begriff beschreibt die neuen Medien, die keine klassischen „Gatekeeper“ haben. Keine Redaktionen, die auswählen, über welche Themen berichtet wird und über welche nicht. Wer zu Wort kommt oder wer nicht. Bis vor kurzem galt noch: Wer Realität macht, hat Macht. Jetzt fällt diese Regie der alten Mächte immer stärker weg. Die einst säuberlich inszenierten Realitäten werden, sozusagen, in einen übervollen digitalen Eintopf geschmissen und dann rühren ein paar Algorithmen kräftig um. Befreiung und Chaos zugleich. Demokratisierung und Selbstbestimmung oder Manipulation und geistige Verarmung durch z.B. Realitätsblasen?

Nichts ist mehr eindeutig. Jeder fischt seine eigene Wahrheit aus dem großen Topf. Eine allgemeingültige, von der Mehrheit akzeptierte Realität und damit auch unser Denken und Handeln gerät ins Schwanken. Im Alltag sehen wir das in der Gestalt von Fake News, Deepfakes oder Fake-Profilen. Alles ist plötzlich Fake. Welchen Einfluss hat das auf unsere analoge Realität? Die es im absoluten Sinne vielleicht auch niemals gab, aber an die wir früher noch glauben konnten. Seit Menschen in Gemeinschaften zusammen gelebt haben, hatten sie klare Vereinbarungen und Regeln, die dieses Miteinander steuerten. Religionen, Moral, Wissenschaft, Ideologien, Propaganda, redaktionelle Medien. Die Welt wurde für uns vorsortieren: richtig oder falsch, gut oder böse, Feind oder Freund. Das Internet und neue Kommunikationstechnologie haben das innerhalb weniger Jahre verändert. Für mich ist das eines der wichtigsten und interessanten Themen dieser Zeit, obwohl es natürlich noch sehr viele andere extrem wichtige Themen gibt. Das Klima zum Beispiel. Seit meinem Master-Studium sind Kommunikationstechnologien der Mittelpunkt meiner Arbeit und ich habe inzwischen viel Wissen angesammelt. Welche Konsequenzen diese Entwicklungen mit sich bringen werden, kann ich trotzdem nicht vorhersagen. Aber verschiedene Szenarios gedanklich durchzuspielen, ist eine gute Möglichkeit sich besser zu orientieren und ein deutlicheres Bild zu erschaffen. Und dafür eignet sich SciFi hervorragend.

Literatopia: Aktuell schauen wir oft auf die negativen Seiten des Internets, den Hass auf Social Media, Fake News, etc. … Wo siehst Du persönlich die positiven Seiten?

Meike Eggers: Ich persönlich sehe viele positive Seiten des Internets. Eine Demokratisierung des Wissens, neue Möglichkeiten der Kommunikation. Ich denke auch nicht, dass Menschen einsamer werden. Durch soziale Medien können wir uns ortsunabhängig mit Menschen verbinden. Am Leben alter Freunde teilhaben, die inzwischen vielleicht tausende Kilometer weit weg wohnen. Ortsunabhängig arbeiten. In der kreativen Branche bietet das Internet so viele Möglichkeiten. Self-publishing zum Beispiel, viele Autoren haben durch das Internet die Chance ihre Leser direkt zu erreichen. Früher hätten sie ihre Manuskripte unter Umständen niemals veröffentlicht können. Das gleiche gilt für die Musik- , Kunst- und Filmbranche. Das Internet bietet Platz für eine viel grössere Diversität. Die Erfindung des Internets ist auf jeden Fall auch eine spannende und hoffnungsvolle Zeit.

Literatopia: Liest Du auch überwiegend Science Fiction? Welche Romane haben Dich hier so richtig begeistert?

Meike Eggers: Ich lese ganz verschiedene Genres. Ich bin ein großer Fan von Haruki Murakami, John Irving und Milan Kundera. Von denen habe fast alles gelesen.

Stephen King hat mich als Teenager an die Bücher gefesselt, durch ihn habe ich das Lesen entdeckt. Mein erstes Buch, das ich nicht mehr aus der Hand legen konnte, und von dem ich bis heute noch Szenen vor meinem geistigen Auge sehe, war „Friedhof der Kuscheltiere“.

Bei SciFi lese ich gerne im Near Future Bereich. Vor allem Geschichten, bei denen die menschliche Psyche zentral steht und die eine eigene Poesie haben. „Never Let Me Go“ von Kazuo Ishiguro zum Beispiel. Aber auch SciFi Klassiker wie z.B. „1984”, oder „Do Androids Dream Of Electric Sheep?“ Oder „The Circle” von Dave Eggers.

Außerdem sehe ich SciFi gerne auf der Leinwand: „Ex_Machina” hat mir sehr gut gefallen, ebenso „Inception” und natürlich “The Matrix” oder Serien wie z.B. „Black Mirror” auf Netflix.

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!


Autorenfoto: Copyright by Meike Eggers

Autoren-Website: https://meikeeggers.com

Rezension zu "Cybionic - Der unabwendbare Anfang"


Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.

Tags: Meike Eggers, Cybionic