duotincta (Juli 2019)
Taschenbuch, 264 Seiten, 17,00 EUR
ISBN: 9783946086512
Genre: Historik (erste Hälfte 20. Jahrhundert)
Klappentext
Die Schwarze Reichswehr – illegale Truppen, offiziell geleugnet, aber während der Weimarer Republik heimlich von Teilen der Reichswehr und der Regierung unterstützt.
1923 planen die paramilitärischen Einheiten dann den Marsch auf Berlin. Im Zentrum der Ereignisse findet sich Rosa wieder, deren Verlobter Paul Schulz Organisator der Schwarzen Reichswehr ist und ihren Bruder Erich tief in deren Machenschaften verwickelt.
Wie konnte es dazu kommen? Rabisch schildert einfühlsam, wie aus der lernbegierigen Tochter einer armen Weberfamilie eine junge Frau wird, die den nationalistischen Welterklärungen ihres Verlobten verfällt und die schließlich sogar die Fememorde ihres Bruders rechtfertigt. Ein Roman, der zu einer persönlichen Aufarbeitung wurde, denn die Schwarze Rosa war Birgit Rabischs geliebte Großmutter, von deren Vergangenheit sie erst nach deren Ableben erfuhr:
„Mein familiärer Abgrund liegt im Vorher, in der vermeintlich harmlosen Zeit der Weimarer Republik. Aus diesem Vorher ist das monströse Nachher erwachsen.“
Rezension
In „Die Schwarze Rosa“ arbeitet Birgit Rabisch das Leben ihrer Großmutter auf, bei der sie aufgewachsen ist und die sie stets als herzliche, schweigsame Frau, die sich um Familie und Nachbarn kümmerte, erlebt hat. Erst nach ihrem Tod erkannte Rabisch, welche Schatten in der Vergangenheit ihrer Großmutter lagen und begab sich auf Spurensuche. Die Geschichte ihres Romans ist fiktiv, enthält jedoch historische Persönlichkeiten und Ereignisse, die eindrucksvoll zeigen, wie tief die Verwerfungen in der Weimarer Republik waren und dass die Ressentiments, die in den Nationalsozialismus mündeten, lange zuvor in großen Teilen der Bevölkerung verankert waren:
Rosa wächst in einer armen Weberfamilie auf. Die fortschreitende Industrialisierung drückt die Löhne und die harte Arbeit der Eltern reicht gerade so zum Überleben. Ihr ältester Bruder überredet den Vater 1910 nach Posen umzusiedeln, wo die Familie mit Unterstützung des Ostmarkenvereins einen kleinen Bauernhof aufbaut und einige glückliche Jahre verbringt. Zwar schwelen weiterhin die historischen Konflikte, doch nach und nach nähern sich Deutsche und Polen im Dorf an und wachsen zu einer Gemeinschaft zusammen – bis der Krieg alles zu Nichte macht. Alte Konflikte brechen auf, Rosas Familie verliert den Hof und siedelt gezwungenermaßen erneut um.
In der Weimarer Republik hält sich die Familie mit einer Gaststätte über Wasser. Der älteste Bruder kehrt aus der Kriegsgefangenschaft in Asien als glühender Faschist zurück, während der andere Bruder, der im Westen gekämpft hat, vom Krieg gebrochen ist. Rosa fühlt sich von ihren polnischen Freunden und Nachbarn verraten, ebenso von der neuen Republik, die ihre Familie als von den Westmächten aufgezwungen und somit illegitim betrachtet. Als Rosa den charismatischen Oberleutnant a. D. Paul Schulz kennenlernt, erkennt sie, dass sie viele Ideale teilen und verliebt sich. Sie unterstützt ihren einfühlsamen Liebhaber bei seiner Arbeit in der Schwarzen Reichswehr, die aus ihrer Sicht das deutsche Vaterland verteidigt …
Birgit Rabisch umreißt auf knapp 220 Seiten Rosas Leben von der Kindheit bis zur Geburt ihres zweiten Kindes und zeigt anhand ihrer Familiengeschichte, dass die Täter*innen im Nationalsozialismus keine bösartige Minderheit waren, die ihre Gräueltaten ohne Mitwissen der „normalen“ deutschen Bürger verübte. Das Gegenteil war der Fall und jene, die vor und während der NS-Zeit die schlimmsten Verbrechen verübten, waren Eltern, Geschwister, Freunde und Nachbarn. Wie der große Bruder, zu dem man aufschaute, weil er sich stets für die Familie einsetzte und Stärke ausstrahlte – und bei dem man darüber hinwegsah, dass er mordete, denn schließlich tötete er nur die Verräter, die, die dem deutschen Vaterland schaden wollten. Oder der Verlobte, der seine Liebste mit besten Manieren beeindruckte, mit ihr Gespräche auf Augenhöhe führte und sie im Bett verwöhnte – und vom Schreibtisch aus Morde befahl.
„Die Schwarze Rosa“ beschreibt einfühlsam und gleichzeitig mit angemessener Distanz, wie aus Menschen, die eigentlich nur in Ruhe und Frieden leben wollen, Täter*innen und Mitwisser*innen werden. Der Glaube, dass sie als Deutsche anderen Völkern überlegen sind, ist tief in den Menschen des späten 19. / früheren 20. Jahrhundert verwurzelt (so wie auch andere Kolonialmächte sich damals für überlegen hielten). Bei manchen mehr, bei manchen weniger, doch dieser Überlegenheitsglaube führt in den Grenzgebieten, wo verschiedene Völker zusammenleben, zu Verletzungen und Enttäuschungen. In Posen gelingt es für kurze Zeit, Brücken zu bauen, doch der Erste Weltkrieg bringt die Ressentiments zurück. Rachegefühle vergiften Nachbarschaften, traumatische Kriegserlebnisse trennen einst verliebte Paare und zur Vertreibung aus der neuen Heimat gesellt sich die Enttäuschung über den Verrat einstiger Freunde.
Rosa wächst in einer Familie auf, die fest an die Überlegenheit des Deutschen Kaiserreichs glaubt und die den Versailler Vertrag als Schande betrachtet – so wie die Mehrheit der Deutschen und die Reichswehr, die ihren Abkömmling, die Schwarze Reichswehr, nicht nur duldet, sondern aktiv unterstützt. Getarnt als Arbeitskommandos finden sich hier kampfbereite Männer zusammen, die Waffen und Munition horten und sich auf die Machtübernahme vorbereiten. Dass eines Tages Hitler und die NSDAP die Macht ergreifen werden, ist in der Weimarer Republik lange nicht abzusehen, aber es gibt viele andere, die auf das gleiche Ziel hinarbeiten. Zwar werden durchaus viele Straftaten dieser Zeit angeklagt, doch zu viele Gerichte sind auf dem rechten Auge blind und sprechen Täter*innen oft aus fadenscheinigen Gründen frei, weil sie die rechte Gesinnung teilen. Rabisch gelingt es dabei, anhand der individuellen Schicksale in Rosas Umfeld die komplexe und gefährliche politische Situation darzustellen, die zum Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg führte.
Bemerkenswert ist, welche Rolle das Patriarchat einnimmt. Rosa ist ein wissbegieriges, selbstbewusstes Kind, das die Natur liebt und alles über Tiere und Pflanzen wissen will. Als Mädchen hat sie einen schlechteren Zugang zu Bildung als Jungs, Eltern und Lehrer erziehen sie in dem Glauben, dass Frauen weniger intelligent seien und das sie sich bemühen müssen, einen guten Mann abzubekommen. Trotz ihres Selbstbewusstseins verinnerlicht Rosa die ihr in der Gesellschaft zugedachte Rolle als Frau, gleichzeitig interessiert sie sich für Jungs und Männer, die sie ernst nehmen und mit ihr auf Augenhöhe sprechen. Dabei macht sie Missbrauchserfahrungen und so verschmelzen erlernte Ressentiments mit schmerzhaften Erfahrungen. All das entschuldigt Rosas Rolle in der Schwarzen Reichswehr nicht, aber die Leser*innen können gut nachvollziehen, warum schließlich alles so kommt, wie es kommt. Doch auch für die Männer ist das Patriarchat toxisch, so ertränken beispielsweise viele ihren Frust, ihre Ängste und ihre Straftaten in Alkohol.
Das damalige Frauenbild dürfte heutigen Leserinnen oftmals aufstoßen, vor allem die Ungleichbehandlung, die dazu führt, dass Rosa ihrem Wissensdurst nicht nachgehen kann. Man fragt sich, was aus ihr hätte werden können, wenn sie ihre Talente hätte entwickeln dürfen? Wenn sie den gleichen Zugang zu Bildung gehabt hätte wie Jungs? Auch fragt man sich, wie man selbst gehandelt hätte, wenn man unter solchen Bedingungen aufgewachsen wäre. Rosa hält treu zu den Menschen, die sie liebt, und sieht über Fehler und Verbrechen hinweg – so wie auch heute noch viele Eltern, Geschwister und Partner*innen bei ihren Liebsten tun. Das entschuldigt nichts, ist aber nachvollziehbar. Auch dass Rosa ihren Sohn über alles liebt, während sie ihre Tochter als Belastung empfindet, ist anhand der Umstände absolut verständlich – doch nicht weniger tragisch, ungerecht und falsch.
Fazit
„Die Schwarze Rosa“ erzählt eindrücklich, wie aus Menschen, die sich nach Wohlstand und Frieden sehnen, Mitwisser*innen und Täter*innen werden, die an der Zerstörung der Weimarer Republik beteiligt sind. Anhand der individuellen Schicksale von Rosa und ihrem Umfeld wird deutlich, dass der Nationalsozialismus lange vor der Machtergreifung Hitlers in weiten Teilen der Bevölkerung angelegt und gewollt war. Birgit Rabisch schildert die Handlungen ihrer Figuren emotional nachvollziehbar, erzeugt Verständnis, entschuldigt jedoch nichts – im Gegenteil, sie zeigt schonungslos, wie faschistisches Gedankengut Leben (das anderer, aber auch das eigene) zerstört.
Pro und Contra
+ erschreckende Einblicke in die Schwarze Reichswehr und die Fememorde
+ zeigt die tiefen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen in der Weimarer Republik
+ die deutsche Geschichte aus Sicht von Mitwisser*innen und Täter*innen
+ historische Persönlichkeiten und Ereignisse
+ einfühlsam und gleichzeitig schonungslos offen erzählt
Wertung:
Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 3,5/5
Interview mit Birgit Rabisch (2020)