Eleanor Bardilac (07.07.2021)

Interview mit Eleanor Bardilac 

eleanor bardilac2021Literatopia: Hallo, Eleanor! Kürzlich ist bei Droemer Knaur Dein düsterer Fantasyroman „Knochenblumen welken nicht“ erschienen – was erwartet die Leser*innen in der prächtigen Stadt Vhindona?

Eleanor Bardilac: Vhindona ist eine stolze, lebendige Hauptstadt, die natürlich auch ihre Schattenseiten hat. So kämpfen Magiebegabte mit schweren Restriktionen: Sie werden etwa nach Sichtbarwerdung ihrer Magie in der Jugend von ihren Familien getrennt, können nur in einem Bezirk leben und haben auch keine Möglichkeit, sich gegen den Frontdienst zu wehren, wo sie oft bis aufs Letzte ausgequetscht werden. All das ist Teil der Kulisse, vor der sich die Charaktere entwickeln und die Handlung sich entfaltet; es brodelt in Vhindona und soziale Veränderungen sind spürbar nicht mehr aufzuhalten.

Aurelia als Person, die lange Jahre unter der nichtmagischen Bevölkerung lebt und dann in die magische Community kommt, kennt das Beste und Schlechteste aus beiden Welten. Sie führt die Lesenden durch die Stadt, die sie trotz ihrer Fehler liebt, und kommt in Kontakt mit vielen Leuten, die gute Dinge aus den falschen Motivationen und falsche Dinge aus den richtigen Motivationen heraus zu bewirken versuchen.

Literatopia: Vhindona erinnert an das Wien im Jahr 1900 – was fasziniert Dich an dieser historischen Epoche? Und gibt es auch moderne Elemente in Vhindona?

Eleanor Bardilac: Ich liebe den Jugendstil in seiner ganzen Ästhetik und Bedeutung! Ich wohne ja selbst in Wien und bin sehr glücklich, dass noch so viele Gebäude und Kunstwerke aus dieser Zeit erhalten sind und der Stadt ihren ganz eigenen Charme verleihen. Darüber hinaus finde ich die Jahrhundertwende in vielerlei Hinsicht sehr spannend. Es haben sich um diese Zeit interessante soziale und politische Dinge abgespielt, die Kunst hat in Literatur, Musik, Architektur etc. neue Blüten getrieben, die bis heute faszinieren und inspirieren.

In Vhindona gibt es insofern moderne Elemente, als dass die Stromversorgung der Haushalte weiter fortgeschritten ist, als es um 1900 der Fall war. Da gab es zwar schon Elektrizität auf der Straße und in öffentlichen Gebäuden, aber nicht unbedingt in Privathaushalten. Außerdem gibt es hier eine Verbindung mit kleinen Steampunkelementen, indem etwa die Kutschen und viele Lichter bzw. andere Einrichtungen mit Dampf betrieben werden.

Literatopia: Wie können wir uns die Nekromant*innen in „Knochenblumen welken nicht“ vorstellen?

Eleanor Bardilac: Die Dienenden der Herrin, wie sie im Knochenblumen-Universum genannt werden, haben sehr vielseitige Aufgaben, die auch ein bisschen von kulturellen und sozialen Komponenten abhängen. Erst einmal funktionieren sie ein wenig anders als andere Magiebegabte, denn sie sind alle schon mindestens einmal gestorben und von der Herrin, der Göttin des Todes und der Schwellen, zurückgebracht worden, wodurch ihre magischen Kräfte aktiviert wurden. Grundsätzlich begleiten sie Geister in die nächste Welt, können sie aber unter Umständen auch an Gegenstände binden, um ihre Existenz im Diesseits zu stärken. Sie reinigen die Knochen magiebegabter Toter von Restmagie, können Untote erschaffen und kümmern sich um aufgewühlte tote Seelen. Dazu verwenden sie Blutmagie, das Blut ist allerdings ihr eigenes – zumindest meistens. Es gibt Ausnahmen, die auch für die Vorhandlung des Romans eine Rolle spielen und grundsätzlich verpönt sind.

Der einzige Dienende der Herrin, der im ersten Band erscheint, ist Marius, und er bringt eine positive, konfrontierende Haltung zum Tod und den Toten mit, die seinen Umgang damit maßgeblich beeinflussen. In Mistras ist es üblich, dass die Dienenden der Herrin auch palliativ arbeiten und dabei nicht nur die Sterbenden, sondern auch die Angehörigen begleiten. Das gibt es in Vhindona so nicht, weil hier eine ganz andere, verdrängende Einstellung zum Tod herrscht. Es war mir auf jeden Fall wichtig, weg vom Klischee der bösen, blutrünstigen Nekromant*innen zu kommen.

Literatopia: Aurelia ist eine wissbegierige junge Frau – was zeichnet ihren Charakter außerdem aus? Wo liegen ihre Stärken und Schwächen?

Eleanor Bardilac: Aurelia ist still, findet im Lauf der Handlung aber immer mehr zu einem gewissen trockenen Humor, woran Marius sicher nicht unschuldig ist. Sie hat eine soziale Natur, hört Leuten zu und geht mit ihnen auf Augenhöhe. Wenn sie etwas nicht weiß, gibt sie es auch zu und ist sich nicht zu schade, von anderen zu lernen. Hat sie jemanden gerne, ist sie bedingungslos – aber dabei durchaus nicht unkritisch – loyal. In vielen Belangen ist sie recht unsicher und besitzt mangelndes Selbstvertrauen, was sie wiederum öfters ängstlich sein lässt.

Das Trauma, das sie durch jahrelanges Verstecktwerden und Unterdrücken eines Teils ihrer Selbst erlitten hat, beschert ihr in mental geschwächten Phasen auch Angst vor weiten Räumen, was es ihr manchmal nicht leicht macht, sich fortzubewegen. Aber sie findet nach und nach genug innere Stärke und Unterstützung, um ihre Ängste zu überwinden, denn vor allem will sie eines: Lernen und Wachsen.

Literatopia: Würdest Du uns die „detailreiche Götterwelt“ aus „Knochenblumen welken nicht“ genauer vorstellen?

Eleanor Bardilac: Wir haben es mit einem polytheistischen System zu tun. Das rührt daher, dass die Göttlichen in diesem Universum tatsächlich auf der Welt wandeln. Sie sind riesig, können sich aber auch ganz klein machen, wenn sie wollen (meistens wollen sie halt nicht). Es gibt die sogenannten Alten Gottheiten, die beim Ersten Sternenfall auf die Welt kamen, und die Neuen Gottheiten, die beim Zweiten Sternenfall erschienen. Viele Göttliche kamen durch innergöttliche Kämpfe um. So gibt es von den Alten Gottheiten nur noch einige wenige, deren Existenz wirklich bewiesen ist. Dazu zählen die Herrin, die Naturgottheit Inar, die Zukunftsgottheit Janum und einige andere. Auch von den Neuen Gottheiten starben einige. In Vhindona betet man unter anderem zur Neuen Gottheit Garia, die ebenfalls eine Totengöttin ist, aber auch zur Schutzgöttin Dyna.

Viele Magiebegabte hängen den Alten Gottheiten an, was auch mit bestimmten Ausbildungsrichtungen zu tun hat, die in einigen Kulturen unter dem Schutz gewisser Göttlicher verläuft.

Die Herrin ist übrigens auch in dieser Hinsicht ein Sonderfall: Sie weilt nicht im Diesseits, sondern an einem Ort jenseits der Schwellenwelt, von dem die mistrischen Dienenden der Herrin glauben, dass er das wahre Endziel toter Seelen ist.

Literatopia: Es soll eine Fortsetzung von „Knochenblumen welken nicht“ geben. Warum hast Du Dich für eine Dilogie entschieden? Und wird es nahtlos weitergehen oder erzählt der zweite Band eine neue Geschichte mit neuen Figuren?

Eleanor Bardilac: Es war ganz ursprünglich sogar eine Trilogie geplant, die Idee ist aber sehr rasch wieder verworfen worden. Zwei Teile sind erst einmal hinsichtlich der örtlichen Verankerung sehr schön: Mit Vhindona und Bycaea gibt es zwei Städte, die immer wieder miteinander in Verbindung gebracht werden, und es war in meinen Augen strukturell ansprechend, den ersten Band in der einen und den zweiten Band in der anderen Stadt spielen zu lassen.

Der Hauptgrund für zwei Bände ist allerdings, dass ich eher langsam und charakterfokussiert erzähle, was Platz benötigt, den ein Einzelband meiner Meinung nach besonders im Hinblick auf die Figurenentwicklung nicht gehabt hätte. Deswegen geht es im zweiten Band tatsächlich nahtlos weiter. Es kommen einige neue Figuren dazu, aber Aurelia und Marius bleiben mit an Bord, und auch mit einigen anderen Charakteren wird es ein Wiedersehen geben. Mir war aber auch wichtig, dass der erste Band notfalls in sich geschlossen gelesen werden kann, was mir hoffentlich gelungen ist.

Literatopia: „Knochenblumen welken nicht“ ist Dein Debütroman – wie viele unveröffentlichte hast Du davor geschrieben?

Eleanor Bardilac: Tatsächlich nur einen, und es ist für alle besser, dass der in der Schublade geblieben ist!

Literatopia: Du hast unter Deinem Klarnamen bereits einige Gedichte veröffentlicht. Was zeichnet gelungene Lyrik für Dich aus?

Eleanor Bardilac: Lyrik ist für mich die Spielwiese der Literatur, wo alles möglich ist und auch sehr abstrakt werden kann – und je abstrakter etwas ist, desto schwieriger ist es, nach irgendwelchen Maßstäben zu beurteilen. Gelungene Lyrik ist für mich persönlich allerdings jede Lyrik, die etwas mit den Leuten macht. Wenn sie einen zum Weinen bringt, zum Nachdenken, zum Lachen, wenn sie einfach auf irgendeine Weise berührt, dann hat sie es geschafft.

eleanor bardilac mit buch2021Literatopia: Du hast als Kind das Lesen gehasst – warum? Und wie hast Du dann doch noch Deine Liebe zum geschriebenen Wort entdeckt?

Eleanor Bardilac: Es fiel mir anfangs sehr schwer, das Lesen zu erlernen. Ich biss mir die Zähne daran aus, einzelne Buchstaben zu Wörtern zusammenzufügen, und meine Mutter verbrachte Stunden damit, mit mir das Lesen zu üben, was uns beiden wenig Freude machte: Mir, weil das Lesen anstrengend und frustrierend war, und ihr, weil ich anstrengend (und vermutlich auch frustrierend) war.

Irgendwann ging dann aber der Knopf auf und ich begann, das klassische Volksschullesebuch mit seinen kurzen, bebilderten Geschichten zu verschlingen. Danach gab es eigentlich kein Halten mehr. Ich war immer schon introvertiert und Lesen ist eine Sache, die man still und für sich selbst machen kann, was mir auch als Kind schnell Freude bereitete, sobald ich es gelernt hatte. Wie und warum ich zu schreiben begonnen habe, weiß ich gar nicht mehr so genau. Aber ich war immer schon recht kreativ und dachte mir Figuren und Geschichten aus, irgendwann begann ich dann eben damit, diese auch aufzuschreiben. Seitdem habe ich nicht mehr damit aufgehört!

Literatopia: Welche Genres liest Du am liebsten? Und welche (aktuellen) Bücher würdest Du unseren Leser*innen ans Herz legen?

Eleanor Bardilac: Ich lese wild durcheinander, und das noch dazu in mehreren Sprachen (Deutsch, Englisch, Italienisch, leichte Texte auf Russisch): Fantasy mit (fast) all ihren Untergruppen; russische Literatur aus dem Goldenen und Silbernen Zeitalter, aber auch modernere Werke; Gesellschaftsromane; Familienromane; die sogenannte Belletristik; Lyrik; haufenweise Sachbücher. Was mich nicht ganz so abholt, sind Krimis und Thriller, auch reinen Horror muss ich nicht haben.

Ich empfehle jetzt mal ohne spezielle Reihung drei Bücher, die ich 2021 gelesen habe und die bisher zu meinen Jahreshighlights gehören:

- „On Earth We’re Briefly Gorgeous” von Ocean Vuong, erschienen 2020. Es ist schwierig, in Worte zu fassen, worum es geht, aber ganz knapp gesagt geht es um einen jungen Mann, der einen Brief an seine Mutter schreibt und dabei seine eigene Geschichte und Verwurzelung zwischen vietnamesischer und US-amerikanischer Herkunft und Kultur reflektiert. Sprachlich einfach gewaltig, deswegen empfehle ich in diesem Fall auch das englische Original.

- „Eisschmelze“ von Robert von Cube, erschienen 2021. Um meine Goodreads-Rezension zu zitieren: Worum geht es? Um Henry, der eigentlich aus einem von Umweltkatastrophen und anderen schlimmen, menschenverursachten Dingen aus Berlin in einem Spaceshuttle in den Weltall fliehen will und stattdessen hunderte Jahre später aus dem Kryoschlaf aufwacht, um festzustellen, dass er die Erde nie verlassen hat. Um Arnia, die Henry bald kennen und lieben lernt und mehr kann, als viele um sie herum. Um die Blaue Gnade, die Dunkle Bitterkeit und Politik in einer Welt, die vom Eis geprägt ist. Definitiv eine gelungene Verschränkung von Science-Fiction und Fantasy, die einen Blick lohnt.

- „The House at the Cerulean Sea” (dt. “Mr. Parnassus’ Heim für magisch Begabte) von T.J. Klune, erschienen 2020 (dt. Fassung 2021). Der 40-Jährige Linus Baker erhält von seinem Amt den Auftrag, ein besonderes Waisenhaus für magisch Begabte zu untersuchen, das auf einer Insel liegt und unter die höchste Sicherheitsstufe fällt. Während sich Linus und der Leiter des Heims, Arthur Parnassus, langsam näher kommen, werden so einige Geheimnisse enthüllt, und Linus muss Entscheidungen treffen. Dieses Buch fühlt sich einfach an wie eine Umarmung, ist wundervoll queer und fantastisch und behandelt perfekt mein vielgeliebtes Found-Family-Trope.

Literatopia: Du schreibst Deine Masterarbeit über Ältere Deutsche Literatur. Über welche Epoche(n) sprechen wir da? Und wie passen da die „bunten Ritter“, die Du auf Instagram erwähnst, hinein? 

Eleanor Bardilac: Ich untersuche Hartmanns von Aue „Erec“ (12. Jahrhundert), Wolframs von Eschenbach „Parzival“ (frühes 13. Jahrhundert) und „Sir Gawain and the Green Knight (Mitte 14. Jahrhundert), wir haben es also mit höfischen Romanen zu tun.

In allen drei Texten gibt es Schlüsselstellen, wo der titelgebende Held auf einen Ritter trifft, der ein komplett monochromes Auftreten hat: Bei Parzival ist es ein roter Ritter (dessen Rüstung er später selbst trägt), bei Erec ebenfalls und bei Sir Gawain wenig überraschend ein grüner Ritter. Ich verfolge die These, dass diese bunten Ritter nur eine Manifestation der inneren Konflikte des betreffenden Protagonisten sind und ihre Bedeutung dementsprechend nur festgestellt werden kann, indem man sich ansieht, zu welchem Zeitpunkt der Protagonistenentwicklung sie erscheinen – und welchen Konflikt sie widerspiegeln.

Leider wurde diese Arbeit in letzter Zeit sträflich von mir vernachlässigt, aber die akademische Arbeit ist ja ein Marathon und kein Sprint, oder so. ;-)

Literatopia: Demnächst erscheint eine Kurzgeschichte von Dir in der Anthologie „Urban Fantasy going queer“. Würdest Du uns schon einmal verraten, um was es in Deiner Story geht?

Eleanor Bardilac: Es geht um den Corvinx (man denke Schwanenjungfer, aber die Raben-Version davon) Raphael, der sich von einer schweren Phase in seinem Leben erholt und darum kämpft, sich selbst wiederzufinden und zu heilen. Nicht unwesentlich für diesen Prozess ist ein geheimnisvolles Bild, das ihm in die Hände fällt …

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!

Eleanor Bardilac: Vielen Dank für diese schöne Gelegenheit und die gedankenvollen Fragen!


Autorenfoto: Copyright by Daniel Pold (oben) und Eleanor Bardilac (unten)

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https://twitter.com/EleanorBardilac

Rezension zu "Knochenblumen welken nicht"


Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.