Daheim (Judith Hermann)

hermann daheim

Fischer, 2021
Gebunden, 190 Seiten
€ 21,00 [D] | € 21,60 [A] | CHF 31,90
ISBN 978-3-10-397035-7

Genre: Belletristik


Rezension

Judith Hermann wurde geboren in Berlin, sie hat in ihrem Debüt Sommerhaus, später eine Generation von Figuren aus Berlin in ihr Werk eingeführt. Ihr neues Buch heißt Daheim. Die namentlich nicht bezeichnete Ich-Erzählerin lebt seit fast einem Jahr an der Nordseeküste, nicht weit von Wangerooge. Dort gibt es ein Seegatt, Blaue Balje genannt und im Roman eine der wenigen konkreten Ortsangaben. Die Protagonistin arbeitet in der Touristenkneipe Shell ihres Bruders Sascha. Eine liebevolle Geschwisterbeziehung scheint dies nicht zu sein. Sascha ist Nike verfallen, einer 21-jährigen psychisch instabilen Frau, die eine harte Kindheit mit üblen Eltern hinter sich hat und Sascha dominiert. Vor einiger Zeit hatte Sascha eine Kurzbeziehung mit der Künstlerin Mimi, einer Nachbarin der Erzählerin. Die beiden Frauen freunden sich an.

Die Erzählerin ist geschieden von Otis. Sie telefonieren und schreiben einander Briefe. Beider Tochter Ann hat mit 18 Jahren ihre Eltern und ihr Zuhause verlassen und zieht seitdem durch die Welt. Sie schickt ihrer Mutter per Satellitentelefon Standortkoordinaten. Einmal versucht die Mutter – erfolglos - ihre Tochter über Skype zu kontaktieren. Ann ruft einige Wochen später zurück und fragt, ob was Wichtiges gewesen wäre. Ein Arzt sagt, die Familie sei das Wichtigste. In zwei parallelen, gelegentlich ineinander gespiegelten Geschwisterbeziehungen scheint die Autorin dies vorsichtig zu bestätigen: im Heilen wie im Unheilen.

Mit dem Herkunfts- und dem Zielort der Protagonistin sowie dem Buchtitel, Daheim ist ein Begriff für das Zuhause in der Schweiz, in Österreich und Süddeutschland, sind eine Ost-, eine West- und eine Südkoordinate grob erkennbar, die ein großes Dreieck über Deutschland beschreiben. Im geografischen Profiling ergäbe sich über die drei Koordinaten und deren Verbindungslinien die Komfortzone eines Menschen. Aufgrund der Größe des Dreiecks und der Krise der Protagonistin ist eine mögliche Implikation, dass Daheim ein anderer Planet ist, zu dem es keine Verbindung gibt, allenfalls die Sehnsucht, ihn irgendwann vielleicht einmal erreichen zu können. Die Protagonistin liest Bücher. Zuerst Gerbrand Bakker (Norden), danach Heimito von Doderer (Süden), schließlich Turgenjew (Osten). Auch hier ergeben geografische Koordinaten wieder ein großes, dem ersten vergleichbares Dreieck.

Daheim handelt auch von der möglichen Existenz und dem Hinterfragen von Lebenskoordinaten, mehr aber von der fundamentalen Veränderung des Blickes auf die eigene Welt. Bisweilen geschehen seltsame Dinge. Mimi badet (nackt) im Hafenbecken, das vermutlich nicht zu den sauberen Orten gehört. Ein Mensch kommt zu Tode, vielleicht durch ein Verbrechen. In einer Marderfalle werden Nicht-Marder gefangen und wieder freigelassen. Am Ende gerät dort vielleicht ein Marder hinein, wir erfahren es im Gegensatz zu den ersten Fällen nicht, um welche Tierart es sich handelt, aber die Erzählerin lässt auch dieses Tier frei. Die Seltsamkeiten erhalten eine Bedeutung im Zusammenhang unzuverlässiger Erinnerungen und deren Relativierung, wie auch der schwierigen Konstruktion von Gegenwart.

Wir beobachten Irritationen der Ich-Erzählerin und anderer Figuren, Widersprüche in Erzählungen und Gedanken, von denen unklar ist, ob sie unzuverlässig sind oder Farbtupfer im Selbstbildnis. Inkonsistente Altersangaben sind nur ein Hinweis auf die geringe Zuverlässigkeit. Die beiden Versionen der Situation, in der die Ich-Erzählerin an einem wichtigen Scheideweg stand, sind ein stärkerer Hinweis. Sie gibt an, vor rund dreißig Jahren in einer Zigarettenfabrik am Fließband gearbeitet zu haben. Otis sagt, dass sie auch organisierte Besucherführungen gemacht hat. Die relativ lange und damit signifikante Geschichte von der Begegnung mit einem Zauberer und der Mitarbeit an der Nummer mit der zersägten Jungfrau, einer möglichen Kreuzfahrt mit mehreren Auftritten und der sich daraus ergebenden Entscheidungssituation für den weiteren Lebensweg, zwischen einem vielleicht spannenden und einem eher langweiligen, wird ebenfalls anders von ihr und Otis erzählt.

Die Vorstellungen vom Leben, die früher einmal existierten, die sich als in der Realisierung unmöglich erweisenden Träume entmutigen im Alltag, der im Vergleich zurückfällt und desto mehr der Erzeugung von Erträglichkeit bedarf. Das Leben der Figuren, ihre Existenz, ist statisch ein Verharren, sobald Dynamik hineinspielt, ein Abschied. Jedenfalls ist es keine klassische Bildungsreise. Der Zufall ist relevante Entscheidungsgröße. Soll er in ein glückliches, ein anderes Leben führen? Mindestens die Hälfte des Lebens ist vorbei. Das Bedürfnis zur Selbstfindung mag einmal dagewesen sein. Ob es das heute noch ist? Man ist nicht fast sechzig Jahre alt, gerade einmal Mitte fünfzig. Hat also noch Zeit genug für weiteres Verharren im Status quo? Die Künstlerin ist frei. Frei zur Nacktheit im Garten, frei zur Nacktheit im Hafenbecken, frei, der Ich-Erzählerin Vorgaben zu machen.

Ich liebe Judith Hermanns Bücher. Sie erscheinen mir auf eine seltsame Weise ehrlich. Ich finde die Vorstellung verlockend, dass die Autorin vom ersten Erzählungsband an über eine stellvertretende Gruppe von Menschen schreibt, in denen sich nicht unbedingt eine ganze Generation wiederfindet, aber eine Anzahl Menschen, die es tatsächlich gibt. Einer Gruppe, von der Hermann vielleicht abstrahiert auf ein Konstrukt, das sich Generation XY nennen lässt. Hermann begleitet diese Menschen buchweise durch deren Leben und vielleicht auch ihr eigenes.


Fazit

Judith Hermanns Daheim erzählt von einer Frau die weggeht, um anzukommen, in einem Beziehungsgefüge, in dem Menschen mit sich selbst und allenfalls noch ihrem sehr engen Umfeld beschäftigt sind. Die Figuren schleppen ihre Vergangenheit und ihre Vorstellungen vom Leben mit sich herum. Sie halten sich alle für unterschiedlich und suchen in behutsamen Annäherungen nach Gemeinsamkeiten. Die größere Welt spielt nur für Ann, die Tochter der Erzählerin, eine Rolle.


Pro und Kontra

+ eine ruhige, meditative Erzählung
+ durch Erinnerungen verbundene Menschen

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5