Fischer TOR (August 2021)
Paperback, 480 Seiten, 16,99 EUR
ISBN: 978-3-596-00221-4
Genre: historische Urban Fantasy / Science Fantasy
Klappentext
Im Jahr 1927 wird die Magie entdeckt – und alles ändert sich. Ganz vorne mit dabei ist die junge Physikerin Nike Wehner, die an der Friedrich-Wilhelms-Universität über das neue Phänomen promoviert und der Berliner Polizei als wissenschaftliche Beraterin zur Seite steht. Denn auf den Straßen Berlins geschehen immer mehr ungewöhnliche Verbrechen, die nach einer Erklärung verlangen.
Ein kommunistischer Funktionär wird magisch hingerichtet, auf den Varieté-Bühnen der Stadt sind die bizarrsten Spektakel zu bewundern, und eine Vermieterin im Arbeiterviertel Prenzlauer Berg wird in Stein verwandelt. Und dann ist da noch das Gerücht, dass mitten in Berlin ein jüdischer Golem sein Unwesen treibt.
Nike versucht die rätselhaften Phänomene aufzuklären – und gerät dabei in tödliche Gefahr.
Rezension
„Die Welt ist nicht sauber in zwei Teile unterteilt. Das ist die Idealvorstellung, nicht nur hier. Selbst die Zehn besteht nicht nur aus fünf und fünf. Aus zwei Hälften. Du selbst bist mehr als nur die Hälfte eines Ganzen.“ (Seite 264)
Relativitätstheorie und Quantenmechanik haben die Physik gerade erst auf den Kopf gestellt, als ein neues Phänomen die Wissenschaft in Streit versetzt. Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, die Wirklichkeit zu manipulieren und zum Beispiel Dampf zu Figuren zu formen oder Marmor zu verflüssigen. Auch wenn das Phänomen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist, kann man es eigentlich nur als Magie bezeichnen. Die junge Physikerin Nike Wehner beschäftigt sich im Rahmen ihrer Promotion damit und muss sich einiges an Spott anhören. Zwar stehen namhafte Physiker wie Heisenberg hinter ihr, doch die Herren halten sich lieber bedeckt, solange die Experimente (noch) nicht erklärbar sind. Während Nike Grundlagenforschung betreibt, nutzen andere das Phänomen bereits für magische Varieté-Shows mit tanzenden Statuen – und manche gar für tätliche Angriffe und Mord …
„Anarchie Déco“ ist das neuste Werk des Autor*innenduos Judith und Christian Vogt, die hier unter dem offenen Pseudonym J. C. Vogt veröffentlichen. Mit dem Berlin der 1920er haben sie ein unheimlich spannendes und vielschichtiges Setting für ihren Urban-Fantasy-Roman gewählt, der Magie und Wissenschaft auf höchst originelle Art und Weise verbindet. Es gilt für Protagonistin Nike herauszufinden, wie man das magische Phänomen reproduzieren kann und was damit alles möglich ist. Offenbar braucht man neben der Wissenschaft die Kunst, ebenso wie einen Mann und eine Frau, die miteinander harmonieren und so die Magie wirken können. Nike wird der tschechische Künstler Sandor zur Seite gestellt, der wider Erwarten noch nichts über das neue Phänomen weiß und auch charakterlich wenig mit ihr harmoniert.
Während Nike und Sandor daran arbeiten, überhaupt ein erfolgreiches Experiment hinzubekommen, nutzen Kriminelle die Magie längst für sich. Die Polizei nimmt das Phänomen zunächst nicht richtig ernst und setzt lediglich den kurz vor der Pension stehenden Kommissar Seidel darauf an. Der lässt es seinem Alter entsprechend ruhig angehen. Er ist ein erfahrener Polizist, der gelernt hat, dass Geduld manchmal wichtiger ist als Voranzustürmen. Zudem ist er gezeichnet vom Krieg und vom Verlust seiner Frau, über den er nicht spricht. Durch die Zusammenarbeit mit Nike und Sandor blüht er regelrecht auf und entwickelt neues Engagement für seine Arbeit.
Nike ist als junge Physikerin in der damaligen Zeit eine Kuriosität, die stetig gegen die Arroganz ihrer männlichen Kollegen und Vorgesetzten ankämpfen muss. Mit Lise Meitner hat sie an der Universität ein Vorbild, das noch mehr als sie darum kämpfen musste, in der Physik anerkannt zu werden. Trotzdem verzweifelt Nike zunehmend an der Diskriminierung, zumal sie selbst mit der Einordnung als Frau unglücklich ist. Ein Mann will sie aber auch nicht sein – sie will einfach nur sie selbst sein bzw. zunächst einfach nur ihre Arbeit als Physikerin machen und endlich Erfolg haben. Erst als sie die trans Frau Georgette kennenlernt, erkennt Nike, wie unglücklich sie ist und dass es zwischen Mann und Frau ein ganzes Universum an Möglichkeiten gibt. Den Autor*innen ist es sehr gut gelungen, die von der Gesellschaft hochgezogenen Mauern darzustellen, gegen die Nike anrennen muss und sie als facettenreiche Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen zu zeichnen, die ihren Platz in der Welt noch sucht.
Sandor hingegen ist in seinem Charakter schon sehr gefestigt. Der junge Künstler ist Anarchist und führt ein Doppelleben, das nicht ganz so geheim ist, wie er denkt. Er weiß um seine Privilegien und zweifelt daher daran, tatsächlich ein glühender Anarchist zu sein. Dabei geht es ihm um die Ablehnung von Herrschaft und die Selbstorganisation der Gesellschaft – und nicht darum, Chaos und Gewalt zu stiften (wofür der Begriff „Anarchie“ oftmals fälschlicherweise verwendet wird). Sandor hält die Magie zunächst für Humbug und ist von dem schrillen, lauten Berlin irritiert, doch nach und nach verliebt er sich in die Stadt und erkennt, welche Möglichkeiten die Magie bietet. Als junger Mann ist er empfänglich für weibliche Reize und folgt den Verlockungen der reichen Architektin Renée Markov, die mit ihrem Mann ein gigantisches Bauprojekt in Berlin realisiert. Der Größenwahn, der diesem Projekt zu Grunde liegt, entspricht dem eines Albrecht Speer, den die Leser*innen hier als jungen Mann auf einer Feier der Markovs kennenlernen.
In „Anarchie Déco“ interagiert eine ganze Reihe von historischen Persönlichkeiten mit den fiktiven Figuren, die die Handlung tragen. Es sind vor allem bekannte Wissenschaftler, aber auch politische Persönlichkeiten, die die Autor*innen authentisch darstellen – inklusive kleinen Seitenhieben auf die Misogynie mancher Zeitgenossen. In den 1920ern und insbesondere in Berlin erlangten Frauen, aber auch Homosexuelle und trans Menschen gewisse Freiheiten, die Nationalsozialisten und konservativen Christen ein Dorn im Auge waren. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns in „Anarchie Déco“ und lernen die schillernden, aber auch die dunklen Seiten des Berliner Nachtlebens kennen (das sich gar nicht so sehr vom heutigen unterscheidet). Auf den Varieté-Bühnen werden Transvestiten bewundert, während ihnen auf der Straße Spott und Prügel drohen. Georgette, die sich tagsüber als Mann tarnt, weiß besonders gut mit diesen Gegensätzen umzugehen, kennt ihre „safe spaces“ und weiß, wann sie selbst sein kann und wann nicht.
Diversity ist ein selbstverständlicher Bestandteil von „Anarchie Déco“, schlicht indem es mehrere queere Haupt- und Nebenfiguren gibt. Diese sind ebenso wie die meisten anderen Persönlichkeiten mit vielen Facetten, mit Hoffnungen, Träumen und Ängsten. Sie haben ihre guten und schlechten Momente, treffen richtige und falsche Entscheidungen. Einzig die Nazis sind teils klischeehaft geraten, wobei sie damit trotzdem authentisch wirken. Gefährlicher als die Braunhemden sind die Mächtigen, die mit ihnen sympathisieren oder sie für ihre eigenen, überhöhten Zwecke nutzen wollen und so quasi einen Pakt mit dem Teufel schließen. Die Feinde in diesem Roman sind nicht die Nazis, auch wenn diese Angst, Schrecken und Lügen verbreiten, sondern solche, die glauben sich aufgrund ihres Status alles erlauben zu können und für ihre Ziele über Leichen und Existenzen gehen.
„Anarchie Déco“ hat neben einer faszinierenden Handlung über wissenschaftlich erforschbare magische Phänomene und einem spannenden Krimiplot verschiedenste gesellschaftspolitische Themen zu bieten. Kapitalismuskritik, Queerfeminismus und Anarchismus – hinter allem steckt die Botschaft, dass jeder Mensch so leben soll, wie er es möchte und dass jeder dabei mit anderen rücksichts- und respektvoll umgehen sollte. Und dass vor allem jeder die gleichen Möglichkeiten haben sollte und nicht eine reiche Elite macht, was sie will, während den Ärmsten die kaputten Häuser unter dem Arsch wegplaniert werden. Damit zeigen Judith und Christian Vogt offen Haltung und stehen für ihre Überzeugungen ein – etwas, wovor die (deutschsprachige) Phantastik leider oft zurückscheut, das ihr aber mehr Tiefe und Bedeutung verleiht.
Das Cover sticht mit seinem Art-Déco-Design sofort ins Auge, wobei hier ein metallisch schimmernder Druck schöner gewesen wäre. Das Lektorat hat zudem ein paar Fehler zu viel übersehen. Dafür haben die Autor*innen in Bezug auf historische Fakten sehr gut recherchiert. Wenn man glaubt, jemand oder etwas passe nicht in die Zeit und selbst recherchiert, stellt sich meistens heraus, dass es doch richtig ist. Vor allem ist es Judith und Christian Vogt gelungen, komplexe physikalische Zusammenhänge mit guten Vergleichen verständlich zu machen, wie die Verbindung des Höhlengleichnisses mit der Quantenmechanik zeigt:
“Nehmen wir Bohrs und Heisenbergs Deutung der Quantenmechanik: Die Bausteine der Schöpfung sind etwas, das manchmal die Eigenschaften von Wellen besitzt und manchmal die von Teilchen. Je nach Blickwinkel nehmen wir den Schatten, den sie werfen, als Teilchen oder Welle wahr, aber das eigentliche Ding werden wir wohl niemals erfassen können.“ (Seite 55)
Fazit
„Anarchie Déco“ ist erwachsene, höchst originelle Phantastik, die Genregrenzen sprengt und als historische Urban Fantasy mit (Retro-)SF-Elementen glänzt. Berlin gleicht in der Weimarer Republik einem Pulverfass, das Judith und Christian Vogt mit all seinen gesellschaftspolitischen Spannungen als Bühne für magische Physik und ihre facettenreichen Figuren bereiten - inklusive Art-Déco-Charme und Diversity.
Pro und Contra
+ originelles, wissenschaftliches Magiekonzept
+ spannender Krimiplot, der zunehmend phantastischer wird
+ facettenreiche, authentische Figuren mit Ecken und Kanten
+ starke Frauenfiguren und queere Charaktere
+ ungemein spannendes Setting im Berlin der 1920er
+ gute Recherchearbeit
+ progressive, erwachsene Phantastik
+ extravagantes Art-Déco-Cover
- zwischenzeitlich etwas zu wenig Magie
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5
Interview mit Judith und Christian Vogt (Juli 2020)
Interview mit Judith C. Vogt (Januar 2018)
Interview mit Judith und Christian Vogt (November 2013)
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