Ich bin Harrow (Tamsyn Muir)

Heyne (September 2021)
Aus dem Amerikanischen von Kirsten Borchardt
Originaltitel: Harrow the Ninth – The Locked Tomb, Book 2
Originalverlag: Tor Books
Paperback , Broschur, ca. 640 Seiten, 14,99 EUR
ISBN: 978-3-453-32156-4

Genre: Space Fantasy / Dark Fantasy / Nekropunk


Klappentext

Es herrscht Krieg im Imperium – ein Krieg, von dem die meisten Planeten bislang verschont wurden. Zu verdanken haben sie dies dem aufopfernden Dienst der neun Nekromanten, die dem Imperator im Kampf gegen die Angriffe eines todbringenden Feindes helfen. Harrow Nonagesimus, die Erbin des Neunten Hauses, ist nun eine von ihnen – doch der Dienst, der von ihr verlangt wird, ist so ganz anders als erwartet. Und sie weiß nicht, ob sie ihn überleben wird …


Rezension

Harrowhark Nonagesimus, die Ehrwürdige Tochter des Neunten, hat ihr Ziel erreicht: Sie ist Lyctorin geworden und gehört nun zu den mächtigsten Nekromanten im Dienst des unsterblichen Imperators. Allerdings fühlt sich Harrow gar nicht mächtig: Sie ist ein psychisches Wrack mit Gedächtnislücken und falschen Erinnerungen. Ihr altes Ich hat ihren katastrophalen Zustand vorhergesehen und ihr Briefe mit Anweisungen hinterlassen. Auch der Imperator – ein Mensch, der Gott wurde, und ein Gott, der Mensch wurde – ist so ganz anders, als erwartet. Trotz seiner irritierend legeren Art folgt Harrow ihm bedingungslos, auch wenn sie zunächst kaum zu gebrauchen ist und von den anderen Lyctoren wie eine Invalide, ein Kleinkind oder schlicht wie eine nervige Last behandelt wird. Doch Harrow verfügt auch in ihrem desolaten Zustand über irrsinnige nekromantische Kräfte. Zudem gibt es in den Weiten des Alls weit Schlimmeres als gemeine Lyctoren: Eine Auferstehungsbestie macht Jagd auf den Imperator und sein Gefolge …

Bereits mit „Ich bin Gideon“ bescherte Tamsyn Muir ihrer Leserschaft ein wahrhaft wahnsinniges und blutiges Lesevergnügen mit herrlich schrägen Charakteren, einer derben und knallharten Protagonistin sowie zahlreichen nekromantischen Rätseln. Gideon fehlt hier natürlich, doch die Story ist wieder ausgesprochen rätselhaft, insbesondere in der ersten Romanhälfte, in der man irgendwann zu zweifeln beginnt, ob die Ereignisse aus dem ersten Band wirklich so stattgefunden haben. So wie Harrow glaubt, verrückt zu sein und Realität und Halluzination bald kaum noch unterscheiden kann, so verlieren auch die Leser*innen das Gefühl für die Wirklichkeit. Über allem schwebt stets die Frage, was nach dem dramatischen Ende des ersten Bandes geschehen ist. Warum erinnert sich Harrow nicht mehr an Gideon und hält jemand anderen für ihren toten Kavalier? Wie ist aus der eiskalten Nekromantin mit messerscharfem Verstand eine so unsichere, angsterfüllte junge Frau geworden? Und warum zur Hölle ist ausgerechnet die niederträchtige Ianthe Tridentarius ihre Komplizin?

Ähnlich wie im ersten Band befinden wir uns überwiegend in einem geschlossenen Setting, das die vierzig Milliarden Lichtjahre von den Neun Häusern entfernte Raumstation des Imperators sowie eine ganz andere Version der Ereignisse in Haus Canaan umfasst. Harrow soll mit Hilfe der anderen noch lebenden Lyctoren – es sind lediglich drei – lernen, gegen eine Auferstehungsbestie zu kämpfen. Doch alle bescheinigen ihr einen frühen Tod und halten sie für schwach. Einer von ihnen versucht sogar regelmäßig, Harrow zu töten, was sie noch tiefer in den Wahnsinn treibt (und sie in ihrer Not auf mörderische Weise kreativ werden lässt). Von der durch und durch berechnenden Harrowhark Nonagesimus ist fast nichts mehr übrig, stattdessen lernt man eine verletzliche und zutiefst verstörte Harrow kennen, die in extremer Gefahr ungeahnte Kräfte entfesselt. Es wird früh deutlich, dass ihr Zustand einem Plan ihres früheren Ichs folgt und es ist ungemein spannend zu lesen, wie sich die Puzzleteile zusammenfügen. Dabei gibt es hin und wieder Längen im Text, doch wer Tamsyn Muirs harten, ironischen und emotionalen Stil liebt, wird diese kaum bemerken.

Das Imperium der Neun Häuser liegt mit anderen Kulturen im Krieg, denn die Nekromanten werden für ihre dunkle Magie gehasst. Durch sie sind sie fast unbesiegbar, allerdings müssen sie für ihre Fähigkeiten einen hohen Preis bezahlen. Einst entriss der Imperator das Reich der Apokalypse und wurde zum unsterblichen Wiedergänger. Auch die früheren Lyctoren holte er zurück, welche die Neun nekromantischen Häuser gründeten. Die meisten von ihnen sind tot, im Kampf gegen die Auferstehungsbestien gefallen. Diese sind unvorstellbar scheußliche, tödliche Kreaturen, die jeder Beschreibung spotten und die den schlimmsten Alpträumen Lovecrafts entsprungen sein könnten. Seit zehntausend Jahren jagen diese Bestien den Imperator und seine Lyctoren. Deren hohes Alter erklärt auch ihr oft merkwürdiges und bösartiges Verhalten. Sie sind gezeichnet von unzähligen Schicksalsschlägen, haben Jahrtausende gekämpft und gelitten und kennen sich dabei in- und auswendig, sodass sie wie eine sehr verschrobene Wahlfamilie voller Psychopathen sind. Die Lyctoren streiten, hassen einander und versuchen gelegentlich, sich gegenseitig zu töten, gleichzeitig vertrauen sie einander und schmieden gemeinsame Pläne. Der Imperator hingegen wirkt meist wie ein irritierend normaler, unscheinbarer Mann, freundlich und rücksichtsvoll, wäre da nicht die beängstigende Dunkelheit seiner Augen, die seine wahre Macht erahnen lässt.

“Ich bin Harrow“ ist in zwei verschiedenen Erzählperspektiven verfasst: Für die veränderten Ereignisse in Haus Canaan verwendet Tamsyn Muir die dritte Person, für die Ereignisse auf der Raumstation hingegen die selten genutzte zweite Person. Dieses „Du“ (damit ist Harrow gemeint) liest sich kurz seltsam, dann aber erstaunlich flüssig – vor allem da man sich denken kann, wer dahintersteckt. Das erzeugt zusätzlich Spannung, da man darauf wartet, dass das Geheimnis des Erzählers gelüftet wird. Wie auch „Ich bin Gideon“ sprüht der zweite Band vor düsteren Metaphern, detailverliebten Beschreibungen von spritzenden Gedärmen und zu Waffen umfunktionierten Knochen und derben Beleidigungen. Tamsyn Muir schreibt hart, emotional und hat ihre Erzählstimme definitiv gefunden. Vieles erscheint extrem, passt aber hervorragend zu einer Story über Nekromanten, die so tief mit ihrer finsteren Magie verwoben sind, dass sie kaum noch menschlich sind. Sie sind stets von Tod umgeben, der für sie Quelle ihrer Kräfte ist – zudem ist nicht alles, was tot ist, wirklich tot. Und dann gibt es noch Geister, die aus dem „Fluss“ auftauchen und die Story aufmischen.


Fazit

„Ich bin Harrow“ ist noch eine Spur wahnsinniger als „Ich bin Gideon“ und wartet mit einer äußerst rätselhaften Handlung auf, die diverse Mordversuche, Kämpfe gegen Horrorbestien sowie emotionale und psychische Zusammenbrüche beinhaltet. Tamsyn Muirs herrlich ironischer, blutiger und harter Schreibstil trägt über kleine Längen hinweg, in denen alles ausweglos erscheint – und wieder stellt das Ende alles auf den Kopf, sodass man verzweifelt nach dem finalen Band lechzt.


Pro und Contra

+ rätselhafte, wahnsinnige erste Hälfte
+ Harrow muss sich selbst wiederfinden
+ schräge Charaktere, die einander helfen und versuchen, sich gegenseitig zu töten
+ finstere, brutal atmosphärische Space Fantasy
+ die düsteren Geheimnis des nekromantischen Imperiums
+ spektakuläre Kampffszenen mit jeder Menge Blut und Knochenmasse
+ herrlich bissige Dialoge
+ gelungene Auflösung, die alles auf den Kopf stellt
+ hat nach wie vor das „gewisse Etwas“

- kleine Längen

Wertungsterne5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


Rezension zu "Ich bin Gideon"

Tags: Space Opera, Nekropunk, Tamsyn Muir, Space Fantasy, SF-Autorinnen, Science Fantasy, queere Figuren, Nekromantie