Cybionic - Der unabwendbare Anfang (Meike Eggers)

Polarise (Mai 2021)
Taschenbuch, 318 Seiten, 12,95 EUR
ISBN: 978-3-947619-96-2

Genre: SF-Thriller


Klappentext

»Wirklichkeit ist nur eine Möglichkeit« steht auf einem Bierdeckel, den Sala auf dem Schreibtisch seiner verschwundenen Schwester Ksen findet. In diesem Augenblick verändert sich sein scheinbar normales Berliner Studentenleben in eine unheimliche Suche. Seine Schwester, eine hochintelligente Informatikstudentin, hat nur eine verwirrende Spur zurückgelassen: das alte Porträtfoto einer jungen Frau.

Sala rekonstruiert das Leben dieser Frau und erfährt dabei, dass Ksen über KIs und selbstlernende Algorithmen geforscht hat, bevor sie verschwand. Wieso hat sie ihre Arbeit vor ihm verheimlicht?

Je mehr Sala herausfindet, desto unheimlicher wird es: ein Handy explodiert in seiner Hand, seine U-Bahn entgleist und er bekommt anonyme Drohnachrichten, die sich selbst löschen. Wer oder was will verhindern, dass Sala Ksen findet und die Wahrheit erfährt?


Rezension

Student Sala hat seit Tagen nichts von seiner Schwester Ksen gehört und in ihrer WG findet er nichts außer einen Bierdeckel mit einem merkwürdigen Spruch („Wirklichkeit ist nur eine Möglichkeit“) und ein altes Porträtfoto aus dem letzten Jahrhundert. Abgebildet ist eine junge Frau, die, wie Sala herausfindet, früher im Haus gelebt hat und spurlos verschwunden ist. Sala ahnt, dass es zwischen ihr und seiner Schwester eine Verbindung gibt und fragt die anderen Hausbewohner nach ihr. Eine alte Dame war mit der Frau auf dem Foto einst befreundet und erzählt ihm zunächst bereitwillig davon, doch dann spricht sie plötzlich wirres Zeug und verschließt sich. Sala hört sich daraufhin bei Ksens Kommilitonen um und erfährt, dass sie sich mit Philosophie und Ethik rund um Künstliche Intelligenz beschäftigt hat. War seine Schwester also in einen Vorfall mit intelligenten Algorithmen verstrickt? Warum wusste Sala nichts davon, dass sie sich intensiv mit KI beschäftigt, obwohl sie ein sehr enges Verhältnis haben? Will Ksen sich etwa nicht mehr bei ihm melden – oder schwebt sie in Gefahr?

„Cybionic – Der unabwendbare Anfang“ beginnt mit einer ausgedehnten Spurensuche, bei der Sala Stück für Stück Teile eines riesiges Puzzles findet und zusammenfügt. Dabei sieht man Teile von Berlin und ergründet die Lebensgeschichte einer Frau, die im Zweiten Weltkrieg für die Alliierten gearbeitet hat und offenbar nach England gegangen ist, um in Bletchley Park bei der Entschlüsselung von Nazi-Codes zu helfen. Die Einblicke in die Vergangenheit dieser Frau sowie in die Anfänge der Informationstechnologie sind spannend, insbesondere da hier die Rolle von Frauen hervorgehoben wird. Im weiteren Verlauf folgen verschiedene Gedanken zum Wesen Künstlicher Intelligenz und Transhumanismus, wobei die Entstehung echter KI das Ende der Menschheit bedeutet. Nicht, weil Künstliche Intelligenzen die Menschen vernichten, sondern weil Biologie und Technologie zu einer neuen Spezies verschmelzen würden.

Davon ist „Cybionic – Der unabwendbare Anfang“ jedoch weit entfernt. Die Ideen zum Transhumanismus sind nicht mehr als Gedankenspiele, mit denen Sala sich aufgrund der Informationshäppchen, die er bei seiner Suche aufschnappt, beschäftigt. Sala steht zunehmend unter Druck, da er seine Schwester nicht finden kann. Zu seiner Sorge kommt die besondere Beziehung der Geschwister, in der Ksen eigentlich die jüngere, für Sala aber eher eine ältere Schwester ist. Die beiden sind mit ihrer Familie vor dem Krieg in Tschetschenien nach Deutschland geflüchtet und während sich Ksen schnell eingelebt und die deutsche Sprache gelernt hat, hat sich Sala stets fehl am Platz gefühlt. Während Ksen in der Schule mit sehr guten Leistungen glänzte, hat er sich durchgekämpft. Sala hängt sehr an seiner Schwester - und er scheint empfänglich für Verschwörungsmythen. Zumindest reagiert er bald sehr ablehnend auf Computertechnologie und ist überzeugt, dass intelligente Algorithmen eine große Gefahr darstellen. 

Auf seiner Suche nach Ksen findet er tatsächlich Spuren einer Künstlichen Intelligenz und fühlt sich zunehmend verfolgt. Knapp überlebt er zwei Unfälle, die tatsächlich Unfälle sein könnten – oder auch Angriffe einer KI, die ihn zum Schweigen bringen will. Es könnte auch schlicht ein Mensch dahinterstecken. Sala fokussiert sich jedoch auf die Gefahr, die von einer echten KI ausgehen würde, und wird zunehmend paranoid. Er nimmt mehr und mehr die Position eines harten Gegners moderner Informationstechnologie ein, während andere Figuren eine gegenteilige Meinung vertreten und mit ihm lange Diskussionen führen. Auch über die Frage, ob die Entstehung echter KI möglich ist oder nicht. Dabei ist es Meike Eggers leider nicht gelungen, den verschiedenen Figuren jeweils eine eigene Stimme zu geben. Oft scheinen sie repräsentativ für ein „Pro“ oder „Contra“ zu stehen und nur ihre vorgesehenen Funktionen in der Handlung zu erfüllen.

Aus der Spurensuche wird in der zweiten Romanhälfte ein blutiger SF-Thriller mit einem klischeehaften Antagonisten: ein einsamer Nerd, der eine KI zur reinen und unschuldigen Partnerin überhöht. Die KI hingegen, deren Existenz man mit Spannung entdeckt hat, verblasst neben dem Thrillerplot. Bei „Cybionic – Der unabwendbare Anfang“ handelt es sich tatsächlich nur um einen Anfang, in dem eine KI zwar erstmals auftaucht, ihr Erscheinen aber zunächst nur persönliche Konsequenzen für die beteiligten Figuren hat. Man wundert sich, dass offenbar sonst niemand die Existenz der KI bemerkt – zumindest erzählt uns Meike Eggers nichts davon. Vermutlich wird die Autorin in den anderen beiden Bänden ihrer Trilogie näher auf die KI-Thematik eingehen, andernfalls würde der Titel „Cybionic“ keinen Sinn machen. Es bleibt zu hoffen, dass sie ihre durchaus faszinierenden Ideen nächstes Mal entsprechend umsetzt.


Fazit

„Cybionic – Der unabwendbare Anfang“ beginnt mit einer ausgiebigen Spurensuche, die spannende Details über die Historik der Informationstechnologie und die Rolle von Frauen enthüllt, und endet in einem blutigen SF-Thriller, der aus durchaus interessanten philosophischen Gedanken zu Künstlicher Intelligenz leider nur SF-Klischees macht.


Pro und Contra

+ spannende Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart
+ die Rolle von Frauen in der frühen Informationstechnologie
+ spannende Spurensuche in Berlin
+ Salas enge Bindung zu seiner Schwester
+ philosophische Fragen zur Entstehung und Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz

- platter, unnötig blutiger Thrillerplot in der zweiten Romanhälfte
- klischeehafter, psychopathischer Antagonist
- Sala wird übertrieben technologiefeindlich

Wertungsterne3.5

Handlung: 3/5
Charaktere: 3/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 3/5


Interview mit Meike Eggers (2021)

Tags: Künstliche Intelligenz, SF-Autorinnen, Meike Eggers, deutschsprachige SF, Near Future