Billy Summers (Stephen King)

King Billy Summers

Heyne, 2021
Originaltitel: Billy Summers (2021)
Übersetzung von Bernhard Kleinschmidt
Gebunden, 720 Seiten
€ 26,00 [D] | € 26,80 [A] | CHF 39,90
ISBN 978-3-453-27359-7

Genre: Krimi


Rezension

Mit Billy Summers begibt sich Stephen King noch weiter in die Gefilde des Kriminalromans. Er hat hier zwar häufiger in den vergangenen Jahrzehnten veröffentlicht, aber nie ohne phantastische Einschläge. Sehen wir einmal ab von einem Hinweis auf ein verwunschenes Gebäude aus einem seiner bekanntesten Horrorromane, ist Billy Summers ein reiner Kriminalroman. King bewegt sich auf durchgehend realistischem Terrain.

Protagonist ist Billy Summers, ein 44-jähriger Scharfschütze und Irak-Veteran, der als Profikiller arbeitet. Billy folgt dem Leitsatz, nur die Bösen für Geld zu töten. Er sieht sich als Müllmann. Die Jahre als Killer haben ihn in die Selbstisolation gebracht, worin er zu verkümmern droht. Deshalb und weil er der Gewalt überdrüssig ist will er noch einen letzten Auftrag übernehmen und sich dann zur Ruhe setzen. Auch hat er keine Lust mehr, für die Menschen, mit denen er beruflich zu schaffen hat, den leicht Tumben zu spielen. Er tut so, als würde er nur Comics lesen, dabei ist seine heimliche Leidenschaft anspruchsvolle Literatur. Derzeit beschäftigt er sich mit Émile Zola und liest Thérèse Raquin.

Sein Auftragsvermittler bietet ihm einen Job an, bei dem er zwei Millionen Dollar verdienen kann. Für diesen Auftrag soll er sich in Red Bluff, einem Provinzort in den Südstaaten, auf unbestimmte Zeit niederlassen. Ihm wird ein Haus zur Verfügung gestellt, und er mietet sich in ein Bürogebäude ein, als Schriftsteller, der seinen ersten Roman beenden will. Dies und der hohe Geldbetrag sind ausschlaggebend dafür, dass er den Auftrag annimmt, obwohl der einen seltsamen Beigeschmack hat. Die Zielperson ist ein Krimineller, den ein Anwalt aus der Haft zu bekommen versucht.

Billy will die Gelegenheit nutzen seine eigene Geschichte zu erzählen. Er schreibt über seine gewalttätige Kindheit und seine Kriegserfahrungen. Ihm gefällt seine fiktive Persona Dave, als er Bekanntschaften im Bürokomplex schließt und sich mit Nachbarn zum Essen trifft, Monopoly mit deren Kindern spielt und ein soziales Leben entwickelt. Ungefähr die erste Hälfte des Buches verwendet King darauf, uns einen Menschen zu zeigen, der in einer ihm fremden Umgebung sein Leben um eine falsche Identität anlegt, aus der Isolation herauskommt, indem er Teil einer Gemeinschaft wird, Freundschaften schließt, schließlich Probleme damit bekommt, dass er diese Menschen täuscht und belügt. Während all dies geschieht, wartet er auf den Termin zur Durchführung seines Auftrags und hat gelegentlich Kontakt mit seinem kriminellen „Makler“.

King verbaut in seinem Text viele Bezüge zur zeitgenössischen Popkultur, zum Fernsehen und zur Musik. Auch in Billy Summers nutzt er die Gelegenheit, sich wiederholt gegen Donald Trump zu positionieren. Weiter finden sich mehrere Motive aus Kings Werk, darunter eine Hauptfigur, die zwecks Zielerreichung in eine zuvor fremde Gemeinschaft kommt und diese täuscht. In 11/23/63 geschieht dies zur Verhinderung und hier zur Durchführung eines Attentats. King verwendet das Motiv des letzten Jobs, der die finanziellen Mittel für einen angenehmen Ruhestand liefern soll. Einen vermeintlich einfachen Job, der sich aber als ziemlich vertrackt erweist.

Langsam und detailreich konstruiert King den Weg Billys bis zur Durchführung des Mordauftrages. Nach ungefähr der Hälfte der Geschichte nimmt die Handlung eine unerwartete Wendung, dies nicht nur im Kleinen. Mit Alice, Opfer einer Gruppenvergewaltigung, wird eine zweite Hauptfigur eingeführt. Diese Begegnung bringt Billys Leben durcheinander und verändert den Charakter des Romans. Zugleich verengt sich der Erzählkanal. Billy und Alice finden langsam zueinander. Billy kümmert sich um sie, kauft für sie ein und hilft ihr Panikattacken durchzustehen. Dabei greift er zurück auf eine Erfahrung aus dem Irakkrieg. Das Kinderlied Ein Männlein steht im Walde, in der Originalfassung Teddy Bear‘s Picnic, hat er dort einem Kameraden vorgesungen. Dies macht er auch bei Alice. Später kommt Billys einziger Freund Bucky dazu und freundet sich ebenfalls mit Alice an.

Nicht zuletzt ist Billy in der Kontinuität des schreibenden Protagonisten in Kings Werk zu sehen. King lässt uns teilhaben an Billys Schreiben, wir bekommen die Entstehung eines Buches (im Buch) zu lesen. Zugleich bietet er uns zwei ineinandergreifende Ebenen zum besseren Verständnis der Hauptfigur. Mit zu den besten Einfällen gehört, dass Billy im Zuge seines Schreibens das autobiografische Narrativ hinterfragt. So entsteht ein Roman, der in Form und Inhalt meditative Momente aufweist. In Billy Summers befindet sich der Protagonist nicht, wie so oft bei King (Shining, Sie, Stark – The Dark Half, die Novelle Ratte in Blutige Nachrichten) in einer existenziellen Krise. Die Auseinandersetzung des Schreibenden mit sich selbst kann Selbstheilungskräfte aktivieren und substanzielle Beiträge zur Selbstfindung leisten.

Der Protagonist als Schriftsteller erkundet die Freiheiten, die diese Tätigkeit bietet, die Möglichkeit, sich nicht nur mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen, sondern sie auch ein Stück weit zu fiktionalisieren. Weiter lebt Billy temporär eine selbstinszenierte Identität, die nicht ohne Rückkopplungen auf ihn bleibt. Wie King die zwei Ebenen ineinander verschränkt und zu welchen Einsichten er dabei kommt, das ist schon sehr gut gemacht.

Interessant ist die Erzählinstanz. King verwendet die dritte Person Singular, nicht in der allwissenden Form, sondern nahe beim Protagonisten. Nur ist der Erzähler so nahe bei Billy, dass die dritte Person kaum darüber hinwegtäuschen kann, dass es sich um einen verdeckten Ich-Erzähler handelt, in dem sich die Zweifel und das Zögern Billys ebenso äußern wie die spontane Korrektur eines Gedankens oder einer Handlung.

Abschließend noch ein Hinweis. Billy Summers ist auch ein Horrorroman. Der völkerrechtswidrige Krieg der USA und der Koalition der Willigen im Irak, die Operationen Phantom Fury und Vigilant Resolve, die Schlacht um Falludscha, deren traumatisiertes Opfer Billy ist, schließlich Alice als Opfer einer Gruppenvergewaltigung – alles im Buch ausgebreiteter reiner Horror, frei von übernatürlichen Phänomenen.


Fazit

Stephen King erzählt in Billy Summers die Geschichte eines Irak-Veteranen, der als Profikiller einen letzten Job erledigen will, dabei in große Gefahr gerät und mit einer jungen Frau zusammenkommt, die Opfer eines Gewaltverbrechens ist. King versteckt einige Selbstreferenzen in der Handlung, der man aber problemlos folgen kann.


Pro und Kontra

+ Horror ohne Phantastik
+ zwei sehr gut entwickelte Hauptfiguren
+ interessante Erzählperspektive
+ intensiver Einblick in das Denken und die Gedankenwelt des Protagonisten

Wertung:sterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Stephen King, Irakkrieg