Der Sterne Zahl (Kameron Hurley)

Panini (September 2021)
Originaltitel: The Stars are Legion
Paperback, 391 Seiten, 17,00 EUR

ISBN: 978-3833241048

Genre: Science Fiction / Space Opera / feministische SF


Klappentext

Die Legion - eine Armada von zerfallenden Weltenschiffen – bahnt sich ihren Weg durch die Leere. Seit Generationen tobt ein Krieg um die Vormacht über die gewaltige Flotte, ohne dass es einen klaren Sieger gibt. Als immer mehr der gigantischen Schiffe vergehen, wird ein verzweifelter Plan in die Tat umgesetzt. Zan erwacht ohne Erinnerung als Gefangene eines Volkes, das sich als ihre Familie bezeichnet. Man erzählt ihr, dass sie die einzige Person sei, die in der Lage dazu ist, an Bord der Mokshi zu gehen. Dabei handelt es sich um eines der Weltenschiffe, das als einziges die Macht haben soll, die Legion zu verlassen.

Doch Zans neue Familie ist nicht die einzige, die verzweifelt versucht, die Kontrolle über das kostbare Schiff zu erlangen. Zan muss sich nun in einem völkermörderischen Feldzug für eine der Seiten entscheiden und sich ihrem Schicksal stellen. Denn sie trägt sie Saat für die Zerstörung der Legion in sich – und für deren mögliche Rettung …


Rezension

“Ich fürchte nichts mehr als jemanden ohne Gedächtnis. Eine Person ohne Gedächtnis hat die Freiheit, alles zu tun, was sie will.“ (Seite 9)

Soldatin Zan erwacht ohne Erinnerungen an Bord des Weltenschiffs Katazyrna, das sich verzweifelt darum bemüht, die Mokshi einzunehmen. Dieses Weltenschiff stammt aus dem Kern der Legion, einem Verband unzähliger, planetenähnlicher Schiffe, die überwiegend aus organischem Material bestehen. Früher haben sich die Welten selbst versorgt, doch auf immer mehr von ihnen breitet sich eine Fäulnis wie Krebs aus. In den Randregionen der Legion tobt daher ein erbitterter Kampf um Ressourcen, insbesondere organisches Material, und die Weltenschiffe schlachten sich gegenseitig aus. Bisher ist es noch niemandem gelungen, die Verteidigungssysteme der Mokshi zu überwinden – niemandem außer Zan. Sie war schon mehrmals dort und kehrt jedes Mal ohne Erinnerungen zurück. Zan wird erneut in den Kampf geschickt, doch dieses Mal könnte es das letzte Mal sein, dass sie neu anfangen und ihre Erinnerungen einem verzweifelten Plan opfern muss …

„Der Sterne Zahl“ von Kameron Hurley fasziniert mit einem kreativen Worldbuilding, in dem Technologie und Biologie miteinander verschmelzen bzw. die Biologie die Technologie überwuchert. Die Weltenschiffe bestehen überwiegend aus organischem Material und in ihren Eingeweiden verbergen sich wiederum ganze Welten, die teilweise nichts von der Legion und den anderen Weltenschiffen wissen. Hin und wieder stößt man im Inneren auf Metall, selten und äußerst kostbar – und offenbar ein Relikt einer fernen Vergangenheit, über die sich nur Mutmaßungen anstellen lassen. Zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, ist die Legion bereits uralt und die komplexen Ökosysteme sind krank und im Verfall begriffen. Es gibt immer mehr Mutanten und immer weniger Kindgebärende, während die meisten Frauen Dinge gebären, die die Schiffe brauchen, z. B. organische Bauteile. Es ist allerdings möglich, dass Frauen ihre Gebärmütter tauschen, was für sie eine Chance auf Selbstbestimmung ist.

“Erschreckt es sie nicht alle, denke ich, keine Kontrolle darüber zu haben, wann und was sie gebären? Aber hier ist das normal, nicht wahr? So normal wie das Fressen der Gefährten …“ (Seite 255)

Die Frauen der Legion werden in regelmäßigen Abständen (von selbst) schwanger, entsprechend gibt es keine Männer und damit keine gesellschaftliche Hierarchie, die nach Geschlechtern trennt. Aber es gibt Anführerinnen, allen voran die Lords der Welten, Soldatinnen, Hexen, Entdeckerinnen und Dienerinnen. Die Frauen sind in Familien organisiert und bezeichnen sich oftmals als Schwestern, wobei die wirklichen verwandtschaftlichen Beziehungen nicht durchschaubar sind. Hier ist ohnehin jeder mit jedem und alles mit allem verbunden, wie Zan erfahren muss, als sie recycelt wird und vom Mittelpunkt des Weltenschiffs aus eine beschwerliche Reise zurück zur Oberfläche antritt. „Der Sterne Zahl“ liest sich über weite Teile wie eine umgedrehte Version der „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, nur dass sich Zan hier durch die Eingeweide eines organischen Weltenschiffs hinaus zur Oberfläche kämpft. Dabei trifft auf verschiedene Völker, die nichts von der Oberfläche und der Legion wissen und ihr Wahrvorstellungen unterstellen.

„Der Sterne Zahl“ ist ein blutiges, zuweilen schleimiges Abenteuer voller bizarrer Wunder und Monster. In den Eingeweiden der Welt Katazyrna gibt es lumineszierende Pilze und Pflanzen, warme, dickflüssige Meere, allerhand merkwürdige Tiere und verschiedenste Völker mit eigenen Kulturen und Mythen. Auf ihrer Reise gewinnt Zan Verbündete, die ihr zunächst aus Eigeninteresse und Schuld helfen, später aber zu Freundinnen werden, die ihre Differenzen überwinden und so zu einer starken Gemeinschaft zusammenwachsen. Zans Reisebegleiterinnen sind facettenreiche Charaktere mit eigenen Geheimnissen, während die Antagonistinnen oftmals zu eindimensional geraten sind. Sie sind überwiegend skrupellos, machtbesessen und wahnhaft. Auch lassen sie sich oftmals zu leicht überrumpeln, wobei sie zuvor die Protagonistinnen ausführlich gequält haben.

“Für die Menschen da unten gibt es keine Oberfläche, keine anderen Welten, keine Legion. Für die Menschen da unten sind wir Götter und Monster.“ (Seite 323)

Spannung zieht der Roman insbesondere aus Zans Erinnerungsverlust, wodurch sie die Weltenschiffe gemeinsam mit den Leser*innen neuentdeckt. Auch fragt man sich natürlich, warum Zan ihre Erinnerungen verloren hat und was passiert, wenn sie sie zurückbekommt. Zans Komplizin Jayd erinnert sich an alles, offenbart jedoch immer nur Bruchstücke ihres komplizierten Plans, der beide Frauen durch verschiedene Höllen schickt. Jayds Teil des Plans beinhaltet unter anderem die Hochzeit mit dem Lord der Bhavajas, ihrer Feindin Rasida. Die hat ihre ganz eigenen Pläne, die sie mit äußerster Brutalität verfolgt. Nach und nach setzen sich die Puzzlestücke zusammen und bald zweifelt Zan daran, dass sie wirklich wissen will, was passiert ist – und ob sie das für das Gelingen ihres Plans überhaupt wissen muss. Die Liebesgeschichte zwischen Zan und Jayd, die in Erinnerungen aufflackert, wird zwischen Lügen und schrecklichen Taten zerrieben.

Leider erfährt man abseits der Welten Katazyrna, Bhavaja und Mokshi nichts über die unzähligen anderen Schiffe der Legion, was wohl den Rahmen des Romans gesprengt hätte. Auch ist die Legion in einem so schlechten Zustand, dass wohl schlicht viel Wissen verloren gegangen ist. Jede Welt ist so sehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt, dass sie die anderen Welten nur als Quellen von Ressourcen betrachten. Etwas wundert man sich darüber, wie schnell die anderen Weltenschiffe zu erreichen sind, wo doch die Legion inmitten der Leere des Universums schwebt und die Dunkelheit zwischen all den Welten deutlich zu erkennen ist. Auch erreicht das Licht der künstlichen Sonne im Zentrum alle Welten, auch am Rand, dabei müsste dieses von den vielen anderen Welten verdeckt werden. Doch angesichts des überaus faszinierenden Worldbuildings sieht man über solche Ungenauigkeiten hinweg, insbesondere da sonst alles, so bizarr es auch erscheinen mag, im Kontext der organischen Weltenschiffe Sinn ergibt.

“Ich habe versucht, mir dort unten, in der Dunkelheit, ein Leben aufzubauen, das auf dem Schmerz basiert, den ich ertragen habe. Aber das kann man nicht tun, oder? Man muss es … neu erschaffen. Umgestalten. Wir sind mehr als die Summe dessen, was uns widerfahren ist, nicht wahr?“ (Seite 338)


Fazit

„Der Sterne Zahl“ ist ein ungemein faszinierender SF-Roman über eine Legion von zerfallenden Weltenschiffen, die sich im Kampf ums Überleben gegenseitig ausbeuten und vernichten. Zan und Jayd kämpfen, jede auf ihre Art, für einen Neuanfang, ohne zu wissen, ob ihr komplizierter und verzweifelter Plan gelingen kann. Geburt, Tod und Liebe bestimmen die Handlung, ebenso die Frage, was Freiheit und Selbstbestimmung bedeuten und wie viel man bereit ist, dafür zu geben. Ein beeindruckender Roman, der nachdenklich stimmt, manchmal Ekel heraufbeschwört und letztlich zu der Erkenntnis führt, dass eine Gemeinschaft stärker ist als die Einzelne.


Pro und Contra

+ faszinierendes Worldbuilding
+ organische Weltenschiffe, die wiederum aus Welten bestehen
+ Frauen füllen alle gesellschaftlichen Positionen aus (weil es keine Männer gibt)
+ beschäftigt sich intensiv mit der Frage nach Freiheit und Selbstbestimmung
+ Zans Reise durch die Eingeweide der Welt Katazyrna
+ zieht viel Spannung aus Zans Erinnerungsverlust
+ Zans Reisegefährtinnen
+ Jayds Kompromisslosigkeit
+ Verwendung des atmosphärischen Original-Covers

o teils sehr blutig und brutal

- kleine Ungenauigkeiten
- Antagonistinnen sind recht eindimensional

Wertungsterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5

Tags: Space Opera, SF-Autorinnen, feministische Science Fiction , Kameron Hurley, queere Figuren