Crow Kingdom (Tino Falke)

Amrûn (September 2021)
Klappenbroschur, 200 Seiten, 12,90 EUR
ISBN: 9783958694675

Genre: Thriller


Klappentext

In einem Vergnügungspark zu arbeiten war für Jessica immer ein Traum, doch nach über zehn Jahren zwischen Achterbahnen und Fast-Food-Restaurants ist sie es leid, im Rabenkostüm zu tanzen und den Gästen mit aufgesetztem Lächeln eine heile Welt vorzugaukeln. Wie die anderen Angestellten hasst sie ihre Arbeit, den Park und den Besitzer – so sehr, dass sie beschließen, den schönsten Ort der Welt in Schutt und Asche zu legen.

Während die Planung für den Tag der Zerstörung läuft, wird Jessica nicht nur unerwartet mit der Rückkehr einer Ex-Freundin und eines Jugendfreundes konfrontiert, sondern auch mit ihrer ganz persönlichen Verbindung zum Park. Denn wer für eine bessere Zukunft sorgen will, muss sich früher oder später der eigenen Vergangenheit stellen.


Rezension

Jessicas Traumjob hat sich über die Jahre in einen Alptraum verwandelt. Der Vergnügungspark Corona Kingdom besteht für sie fast nur noch aus Schattenseiten und das täglich erzwungene strahlende Lächeln schmerzt im Gesicht. Da ist Jessica fast froh, wenn sie mal im Rabekostüm arbeitet, weil sie darunter nicht lächeln muss – dafür bekommt sie kaum Luft unter der Konstruktion, was den Parkbesitzer wenig kümmert. Ihn interessiert nur, dass jeder mit sichtbarer Freude seinem Job nachgeht, auch wenn diese nur gespielt ist. Hauptsache, die Besucher merken nicht, wie unmenschlich die Arbeitsbedingungen in Corona Kingdom sind, schließlich sollen sie Spaß haben und möglichst viel Geld dabei ausgeben. Alles auf Kosten der psychischen und physischen Gesundheit der Mitarbeiter, deren Verträge eine Kündigung nahezu unmöglich machen. Als Jessicas Kollege Aram die Geburt seines dritten Kindes verpasst, weil er im Froschkostüm gute Laune verbreiten soll, läuft das Fass über. Jessica, Mechaniker Donnie, Aram und einige andere Mitarbeiter tun sich zusammen und beschließen, den Park dem Erdboden gleich zu machen …

„Crow Kingdom“ nimmt den Ausgang der Zerstörungsmission teilweise vorweg und beginnt mit einer Szene, in der Jessica durch den brennenden Park rennt, der noch voller Menschen ist. Etwas scheint gewaltig schief gelaufen zu sein. Aus der Frage, was genau schief gelaufen ist, zieht der Roman sofort Spannung, ebenso aus der Frage, wie es soweit kommen konnte, dass Mitarbeiter den Vergnügungspark zerstören. Die folgenden Kapitel beleuchten die Tage vor dem Tag X und teilen sich jeweils in eine gegenwärtige Handlung und Rückblicke. Meist erlebt man Jessica bei der alltäglichen Arbeit im Park, teilweise auch ihre Selbstmordversuche (Content Notes finden sich vorne im Buch), während gleichzeitig verschiedene Ereignisse in der Vergangenheit beleuchtet werden, die stückchenweise erklären, warum Jessica so sehr unter ihrer Arbeit im Park leidet und warum sie ihrem Leben ein Ende setzen will. Tino Falke zeigt jedoch auch, was Jessica ursprünglich für den Park begeistert hat und wie ihre Kindheit mit der Entstehung von Corona Kingdom verwoben ist.

Wer Vergnügungsparks liebt, wird hier gründlich ernüchtert, und das nicht nur aufgrund der ausufernden Aufzählung von Unfällen, vor allem durch Mechaniker Donnie. Denn auch wenn man weiß, dass hinter den Kulissen nicht alles so perfekt ist, wie es scheint, und dass es vor allem ums nackte Geld verdienen geht, verfällt man leicht der Illusion einer heilen Traumwelt. Um diese Illusion aufrecht zu erhalten, ist Parkbesitzer Bellmore jedes Mittel recht. Die Mitarbeiter sind verpflichtet, stets freundlich und fröhlich zu sein, was auf vielfältige Weise kontrolliert wird. Die Kontrolle reicht bis in das Privatleben der Mitarbeiter hinein, die keinen Ausweg sehen, da ihre Verträge sie regelrecht knebeln, indem sie z. B. Kündigungsfristen von einem Jahr sowie Gehaltkürzungen bei Kündigung beinhalten. Vor einem Arbeitsgericht würden diese Verträge natürlich nicht bestehen, aber wir befinden uns in der Welt eines Romans, der den Kapitalismus und die Industrialisierung des Spaßes auf die Spitze treibt. Und so sehen die Mitarbeiter keinen anderen Ausweg als den, Corona Kingdom in Flammen aufgehen zu lassen.

Ein echter Lichtblick in Jessicas Leben ist ihre Freundin Sonja, die ebenfalls von zahlreichen seelischen Narben gezeichnet ist. Jessica hat bereits jedes ihrer zahlreichen Tattoos mit Fingern und Zunge erkundet und kennt auch von nahezu jedem die Geschichte. Die beiden sind sich sehr nah, haben jedoch auch Geheimnisse voreinander. Kompliziert wird es, als Jessicas Jugendfreund Noah im Park auftaucht und dann auch noch ihre Ex-Freundin. Denn auch diese beiden haben ihre Geheimnisse, die Tino Falke nach und nach miteinander verbindet, zudem lenken sie Jessica von Sonja ab, die die Katastrophe vielleicht noch hätte verhindern können. Die Figuren sind überwiegend vielschichtig ausgearbeitet, insbesondere Jessica und Sonja, aber auch Nebenfiguren wie Aram, der für seine Kinder schuftet und dabei ihre Kindheit verpasst. Einzig Bellmore bleibt eindimensional und erfüllt das Klischee des skrupellosen Kapitalisten, das Tino Falke auch nicht mit Einblicken in seine Beweggründe brechen kann, weil am Ende schlicht die Zeit fehlt.

„Crow Kingdom“ ist kein phantastischer Roman, wirkt aber durch das Setting im Vergnügungspark oft phantastisch. Tino Falke hat sich zudem viel Mühe mit der Hintergrundgeschichte des Parks gemacht und streut immer wieder die Geschichte des Raben ein, der in der immer hellen Stadt Corona ein zu Hause findet. Aus den Kinderbüchern mit dem Raben entwickelte sich irgendwann der Park und die ursprünglich schöne Geschichte, bei der man auch noch etwas über die Tiere und den Wald lernt, verkommt zu reinem Kommerz. „Crow Kingdom“ steckt voller offensichtlicher und versteckter Kapitalismus- und Gesellschaftskritik und zeigt gnadenlos die Mechanismen auf, mit denen den Parkbesuchern das Geld aus der Tasche gezogen wird. Der Name Corona Kingdom mag in Anbetracht der Pandemie etwas unglücklich wirken, bezieht sich jedoch eindeutig auf die fiktiven Kinderbücher über den Raben.


Fazit

Tino Falke treibt in „Crow Kingdom“ die Industrialisierung des Spaßes auf die Spitze und erzählt einen rasanten Vergnügungspark-Thriller, der veranschaulicht, wie aus einem Traumjob ein Alptraum wird. Der verzweifelte Versuch der Parkmitarbeiter, sich aus diesem zu befreien, endet in einer Katastrophe, deren Verlauf man mit Entsetzen und morbider Faszination verfolgt.


Pro und Contra

+ Kapitalismus- und Gesellschaftskritik
+ zeigt gnadenlos die Schattenseiten der Vergnügungsindustrie auf
+ die Beziehung zwischen Jessica und Sonja
+ überwiegend vielschichtige Figuren
+ geschickter Handlungsaufbau mit Überraschungen
+ spannend von der ersten bis zur letzten Seite
+ detailreiche Hintergrundgeschichte um die Rabebücher

- Bellmore erfüllt zu viele Klischees
- Handlung erscheint am Ende etwas zurechtgebogen

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Tino Falke, Vergnügungsparks, queere Figuren