The Upper World - Ein Hauch Zukunft (Femi Fadugba)

cbj (September 2021)
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Hardcover mit Schutzumschlag, 384 Seiten, 20,00 EUR

ISBN: 978-3-570-16622-2

Genre: Jugendbuch mit SF-Elementen


Klappentext

“Es braucht schon eine beeindruckende Mischung aus Dämlichkeit und Pech, um mitten in einen Bandenkrieg zu geraten, obwohl man nicht einmal Mitglied einer Gang ist. Ich schaffte das in weniger als einer Woche. Und das war noch vor der Sache mit den Zeitreisen.“

Esso, ein schwarzer Teenager aus der Londoner Südstadt, verliert bei einem Autounfall das Bewusstsein und sieht plötzlich Szenen aus der Zukunft. Darin ist sein Leben in Gefahr, das seiner Freunde – und das Leben seiner großen Liebe Nadia. Das will er um jeden Preis verhindern. Doch dazu braucht er die Hilfe eines Mädchens aus der Zukunft …


Rezension

Esso ist ein junger Schwarzer, den innere und äußere Einflüsse in eine Abwärtsspirale treiben. Die Pubertät macht ihm zu schaffen, vor allem seine Gefühle für Nadia, die klug und wunderschön ist und vor der er sich regelmäßig blamiert. Sie sind gute Freunde und irgendwie auch schon ein bisschen mehr. Doch Esso hat noch ganz andere Probleme, zum Beispiel sacken seine Noten immer weiter ab und er hat eine Begabung dafür, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein. Als er mit einem Kumpel unterwegs ist, wird er in einen Gangkonflikt hineingezogen und sieht mit an, wie ein Mitschüler zusammengeschlagen wird. Dieser erkennt Esso, sodass er fortan auf der Abschussliste steht. Als er kurz darauf in einen Autounfall verwickelt wird, erwacht er kurzzeitig in einer fremdartigen Welt, in der sein ganzes Leben in einer Abfolge von Momenten abgebildet zu sein scheint. Er sieht dort Szenen aus der Zukunft, schöne, aber auch verstörende von einem Bandenkrieg. Als die ersten Visionen Wirklichkeit werden, wird Esso klar, dass er und seine Freunde tatsächlich in Lebensgefahr schweben und dass nur eine Zeitreise sie retten kann …

Fünfzehn Jahre in der Zukunft arbeitet Rhia daran, Fußballprofi zu werden. Ihre Mutter ist früh gestorben, ihr Vater ist unbekannt und seit Jahren wird sie von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht. Doch endlich scheint sie Pflegeeltern gefunden zu haben, bei denen sie bleiben kann, auch wenn diese viele Macken haben. Aber sie bieten ihr ein dauerhaftes Dach über dem Kopf – und eine weitere Pflegetochter, die für Rhia wie eine Schwester ist und mit der sie alle Geheimnisse teilt. Als sie einen neuen Nachhilfelehrer für Physik und Mathe bekommt, spürt Rhia sofort, dass mehr dahinter steckt. Dr. Esso gelingt es, die junge Frau für Naturwissenschaften zu begeistern – und er eröffnet ihr seine Theorie über Zeitreisen und die Obere Welt …

Dass es sich bei dem Teenager Esso und Dr. Esso um dieselbe Person handelt, ist sofort klar. Eher stellt sich die Frage, wie aus dem chaotischen jungen Mann, dessen Leben sich Stück für Stück in einen Alptraum verwandelt, ein ruhiger, physikbegeisterter Lehrer geworden ist und inwiefern sein Leben und Rhias miteinander verwoben sind. Während die Kapitel mit dem jungen Esso unaufhaltsam auf die Katastrophe zusteuern, werden in Rhias Kapiteln nach und nach ihre und Dr. Essos Vergangenheit beleuchtet. Die Welt in fünfzehn Jahren sieht dabei gar nicht so anders aus als unsere, es gibt lediglich ein wenig typische Near-Future-Technologie wie Polizeidrohnen. Rhia lebt ohnehin in armen Verhältnissen und so hat man kaum Einblicke in den neusten Stand der Technik.

Das SF-Thema, die Zeitreise, spielt eher eine theoretische Rolle. Femi Fadugba lässt seine Figuren über physikalische Grundlagen wie die Zeitdilatation diskutieren und macht diese den Leser*innen begreiflich. Dabei lässt er die Frage, ob Zeitreisen möglich sind oder nicht, sehr lange offen und beantwortet sie auch nicht abschließend. Letztlich rückt er von den physikalischen Grundlagen ab und hat mit der Oberen Welt etwas Phantastisches geschaffen, das an das Höhlengleichnis angelehnt ist und dessen magische Besonderheiten man schlicht hinnehmen muss. Schade ist, dass der Autor unzureichend auf Essos Vater eingeht, der diesem immerhin ein Notizbuch über die Obere Welt hinterlässt. Hier hätte man wirklich gerne mehr erfahren.

Kern der Geschichte bzw. beider Geschichten ist die komplexe, harte Lebenswirklichkeit junger Schwarzer Menschen, die Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen ausgesetzt sind, in Armut erleben und zu viele Ungerechtigkeiten ertragen müssen. Der junge Esso hat durchaus Interesse am Lernen, doch in der von Armut geprägten Londoner Südstadt hat er keine wirkliche Perspektive. Er versucht zwar, sich aus allem Ärger herauszuhalten, doch viele Gangmitglieder kennt er noch aus der Grundschule, sieht in ihnen nicht nur Kriminelle, sondern auch Freunde, die es genauso wie er schwer hatten. Seine jugendliche Aufsässigkeit macht es ihm zusätzlich schwer, er zieht den Ärger geradezu magisch an und trifft unter unfairen Bedingungen falsche Entscheidungen, die sich als fatal erweisen.

Rhia hat fünfzehn Jahre später andere, jedoch ähnliche Probleme. Als Schwarze wird sie immer noch diskriminiert und es fällt ihr schwer, sich auf den Fußball zu konzentrieren, da sie zu viel Ballast aus der Vergangenheit mit sich herumträgt. Es mangelt ihr an Unterstützung, zusätzlich reagiert sie oft falsch, da sie ihre Emotionen nicht unter Kontrolle hat. Vor allem staut sich immer mehr Wut in ihr, da sie erkennt, dass es ihr nicht an Talent oder Fleiß mangelt, sondern an Privilegien, die sie als Schwarze und Pflegekind einfach nicht hat. Zudem kann sie den frühen Tod ihrer Mutter nicht akzeptieren, sodass ein Teil von ihr im Trauma ihrer Kindheit gefangen ist.

Sowohl Esso als auch Rhia mache eine enorme Entwicklung durch. Zunächst führen beide aussichtslose Kämpfe, beide leiden unter einem Mangel an Privilegien und glauben, dass sie keine Chance auf die Zukunft, die sie sich wünschen, haben. Doch nach und nach erkennen sie ihre Schwächen und Stärken und fassen den Mut, Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben verändern können.


Fazit

In „The Upper World – Ein Hauch Zukunft“ verbindet Femi Fadugba seine Leidenschaft für Physik mit der komplexen, harten Lebensrealität junger Schwarzer, die zwar von einer besseren Zukunft träumen, sich bei der Verwirklichung dieser aufgrund zu vieler negativer Erfahrungen jedoch selbst im Weg stehen. Die Zeitreise als SF-Element wird eher theoretisch behandelt und die Einblicke in die Obere Welt sind spärlich, doch dieser Roman ist vor allem in Bezug auf die Entwicklung seiner Figuren lesenswert.


Pro und Contra

+ die bittere Lebensrealität junger Schwarzer
+ facettenreiche, glaubwürdige Figuren 
+ eindrückliche Schilderung von Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen
+ Esso ist ein verdammt sympathischer Chaot
+ die enge Beziehung zwischen Rhia und ihrer Pflegeschwester Olivia
+ physikalische Themen einfach erklärt
+ verbindet Physik und Philosophie

o die "Obere Welt" erscheint wie ein magisches Element

- nur spärliche Einblicke in die „Obere Welt“
- zu wenige Informationen über Essos Vater

Wertungsterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 3,5/5

Tags: Femi Fadugba, Schwarze Autor*innen, Near Future, Zeitreisen, Rassismus