ohne ohren (2021)
Taschenbuch, ca. 250 Seiten, 12,49 EUR
ISBN: 978-3-903296-36-7
Genre: Steampunk-/Steamfantasy-Anthologie
Klappentext
Bunt, laut, leise, gefühlvoll, getanzt, gesungen und über den Äther in die Welt hinausgeschickt – 20 musikalische Steampunk-Geschichten entführen auf Bühnen und in ferne Gefilde.
Wo das Dampfbein geschwungen wird, ist das Leben zu Hause. Tonleitern reichen zu den Sternen und auf den Straßen beginnen Revolutionen oft als Liedchen zwischen Eingeweihten. Gereichte Hände laden zum Tanz und die Herzen schlagen im Takt des dampfbetriebenen Orchesters. Musik wird gelauscht, gefühlt und geatmet, wo auch immer die Reise hinführt. Und die Vorstellung ist noch lange nicht vorbei, wenn der Vorhang fällt.
Rezension
„Das Dampfbein schwingen“ ist eine musikalische Steampunk-Anthologie, die die Ästhetik der Retro-Science-Fiction mit leisen Tönen, magischen Melodien und freudesprühenden Tänzen vereint. Die Leser*innen erwarten zwanzig sehr unterschiedliche Geschichten, die thematisch in sieben Bereiche eingeteilt wurden:
Ferne Melodien
Die Anthologie beginnt mit zwei ihrer faszinierendsten Geschichten, die beide von ihrer besonderen Atmosphäre außerhalb der Erde profitieren. In „Die Entdeckung der Rima Hadley“ von Sarah Malhus lernen wir eine ehrgeizige Aethernautin kennen, die zum Mond aufbricht und alles für den Erstkontakt mit einer fremden Spezies riskiert. Stimmungsvolle, gut durchdachte Retro-SF, die Musik als universelle Sprache nutzt.
Roxane Bicker bietet in „Singender Sand“ atmosphärische Steamfantasy auf dem Mars, inklusive Wüstendrachen und nichtbinären Marsians, die unter irdischer Besatzung stehen. Die Suche nach einem Artefakt in marsianischen Ruinen zieht Parallelen zum Kolonialismus und offenbart, wie die Marsians wirklich zu den Menschen stehen.
Tempo! Tempo!
Zurück auf der Erde erwartet die Leserschaft mit „Der Jungfernflug der Aurora“ eine amüsante Gaunergeschichte. Die Band Clockwork Pirates soll eine Bank ausgeraubt haben und sucht Zuflucht auf dem Luftschiff Aurora, doch Kommissarin Ngo ist ihnen bereits auf den Fersen. Iva Moor erzählt flott und unterhaltsam und zeichnet auf wenigen Seiten einprägsame Figuren. Eine der besten Geschichten der Anthologie.
Tino Falke erfreut die Leser*innen mit einem weiteren Abenteuer der professionellen Verliererin Pina Parasol. Dieses Mal muss sie den Verlobten einer verzweifelten Dame dazu bringen, auf einem Fest beim Glücksspiel zu verlieren. Es folgt ein heikler Tanz mit einer Pina ebenbürtigen Kopfgeldjägerin, während im Hintergrund Mechanische Musiker spielen. Auch diese Geschichte ist äußerst amüsant und bietet eine gelungene Verbindung aus Steampunk-Ästhetik und Musik.
Die „Vollmondnacht in D-Moll“ von Alex Prum hätte mit dem Setting auf dem Mond auch zu den „Fernen Melodien“ gepasst, doch der Tanz der Rebellin und Attentäterin Lumieré ist actionreich und gefährlich. Sie will einen Frieden verhindern, der letztlich nur Unterdrückung und Armut bedeutet. Ihr Tanz zieht sich ein wenig in die Länge, doch die Geschichte bietet ein atmosphärisches Setting und stellt auf wenigen Seiten ein komplexes Machtgefüge sowie dessen negativen Auswirkungen auf Menschen wie Lumieré dar.
Der Part „Tempo! Tempo!“ enthält mit „Euphonias Rache – ein Fall für Shirley Houmes und Jane Wadsen“ von Meara Finnegan und „Der Mull des Kanzlers“ von Ramon M. Randle zwei weitere Geschichten. Beide mit einer spannenden Idee, beide jedoch recht vorhersehbar und deutlich schwächer als die anderen Beiträge.
Noten aus Wasser und Nebel
Katja Rocker erfindet in „Die Liebe zur Musik“ steampunkige Instrumente, deren Melodien über den Atlantik geschickt werden. Die Apparatur, die das ermöglicht, hat unerwartete Nebenwirkungen, die eine Musikerin fast in den Wahnsinn treiben. Eine leise Geschichte, die mit empathischen Figuren überzeugt.
In „Das Element Wasser“ zeigt Christina Wermescher die Verzweiflung einer jungen Frau im Rollstuhl, die ihre großen Zukunftspläne beinahe aufgibt. Eine positive, ermutigende Geschichte, die leider kaum Überraschungen bietet.
Julia Winterthal zeichnet in „Nebelsilber“ das düstere Bild einer verarmten, schmutzigen Stadt, aus der die Protagonistin einst flüchtete. Auf wenigen Seiten entsteht eine ganze Welt, die man gerne weiter erkunden würde. Doch es bleibt bei einer eindrucksvollen Szene, die zu den besten in dieser Anthologie gehört.
Atemakte
„Das tönende Herz“ von Anna Zabini handelt von einer zerbrochenen und eine neuen Liebe und setzt das Thema sehr gut um. Ein Hauch des Übernatürlichen rundet den positiven Eindruck dieser queeren Geschichte ab.
In „Das überlebensgroße Orchester“ erzählt Cathrin Kühl dieselbe grausame Geschichte in zwei unterschiedlichen Versionen. Wir lernen den Protagonisten als gebrochenen Mann, der sich vor seinem mörderischen Bruder versteckt, kennen. Doch seine Erinnerungen stimmen nicht mit denen seines Bruders überein. Ein gelungenes Verwirrspiel mit ernster Thematik, doch leider kommt die Musik hier zu kurz.
Lieder von Freiheit
Kornelia Schmid vereint in „Fenice“ den Charme der italienischen Oper mit einer magischen Legende, großen Träume und einer Tragödie. Abgesehen von einem Putzautomaten bietet die Geschichte jedoch zu wenig Steampunkflair.
„Herztakt“ von Tanja Rast ist eine herzerwärmende, queere Liebesgeschichte, die insbesondere von dem respekt- und liebevollen Umgang der beiden Protagonisten lebt. Einer der beiden ist gehörlos, trotzdem bzw. gerade dadurch steht das Thema der Anthologie im Vordergrund.
Über das Notenblatt hinaus
„Androiden können nicht tanzen“ von Cel Silen ist der schwächste Beitrag der Anthologie. Zu kurz und oberflächlich geraten, zu vorhersehbar.
Ähnlich wie Julia Winterthal zeigt Alexa Pukall in „Aufgespielt“ einen kleinen Teil einer größeren Welt, in die man gerne tiefer eintauchen würde. Die zunächst oberflächlichen Szenen gewinnen schnell an Tiefe, wobei hier ein bisschen vom Flair der 1920er mitschwingt.
„Tanz in den Wolken“ von Peter Michael Meurer handelt von einer erzwungenen Adelshochzeit sowie dem Freiheitskampf der Apparatoren. Beiden Themen wird der Autor auf den wenigen Seiten nicht gerecht und reiht hier überwiegend Klischees aneinander.
Vergangene Symphonien
Marius Kuhle bietet in „Chrom und Bronze“ eine Ballettaufführung mit mechanischen Tänzern, die grandios scheitert – was die Protagonistin zufrieden zur Kenntnis nimmt. Ein kleiner Einblick in eine Steampunkwelt, in der es wohl noch eine Weile dauern wird, bis Maschinen zu richtigen Künstlern werden.
Sarah König erzählt in „Die Erinnerung des Grammophonmädchens“ die tragische Geschichte einer Frau, die ein Trauma verdrängt hat und ihren Erinnerungen nachspürt. Der Segen neuer Technologie wandelt sich dabei in einen Fluch.
„Das Mädchen vom Riesenrad“ von Janika Rehak ist ein würdiger, melancholischer Abschluss für die Anthologie. Die Geschichte des alten Mannes, der als junger Zeitungsschreiber dem Zauber eines Geistermädchens verfällt, berührt und ist wunderbar atmosphärisch erzählt.
Die zwanzig Geschichten in „Das Dampfbein schwingen“ sind sehr unterschiedlich und bieten daher viel Abwechslung, allerdings fallen bei so vielen Beiträgen in einer Anthologie meisten ein paar negativ auf. Das ist auch hier der Fall und zwischen überwiegend unterhaltsamen, kreativen und nachdenklichen Geschichten finden sich wenige oberflächliche und klischeehafte, auf die man hätte verzichten können. Andererseits wäre es schön gewesen, wenn manche Geschichten mehr Raum bekommen hätten.
Positiv fällt die Diversität der Figuren auf, wobei der Fokus auf mutmachenden, herzerwärmenden und schlicht wohltuenden Geschichten liegt. Wer Dramatik und Konflikte mag, wird hier einige Beiträge vielleicht langweilig finden, da die meisten Geschichten weniger auf Action, sondern mehr auf respektvollen und empathischen Umgang setzen. Trotzdem stecken genug kreative und steampunkige Ideen in ihnen, um Spannung zu erzeugen, und die Darstellungen queerer Beziehungen, verschiedener Behinderungen und Neurodiversität sind überwiegend sensibel.
Die Gestaltung des kleinen Taschenbuchs ist sehr gelungen. Auch wenn das Cover fast zu schlicht daherkommt, passt es doch zur Anthologie. Die Seitenzahlen sind mit einer kleinen Notengraphik versehen und die Einteilung der Geschichten in Themenblöcke ist sinnvoll – nur leider sind die Seitenzahlen nach sechs Geschichten verrutscht, sodass das Inhaltsverzeichnis seinen Nutzen verliert (Nachtrag: der Fehler im Inhaltsverzeichnis wurde im Nachdruck behoben) .
Fazit
In „Das Dampfbein schwingen“ finden sich einige sehr kreative Steampunkgeschichten, die Musik und Tanz auf vielfältige Weise in die Retro-SF einbinden. Viele der Beiträge überzeugen mit leisen Tönen und Empathie, andere sind amüsant und unterhaltsam – und manche scheitern daran, in der Kürze zu überzeugen.
Pro und Contra
+ sehr unterschiedliche Geschichten
+ leise Töne und viel Empathie
+ viele coole Steampunkideen
+ insbesondere die humorvollen Geschichten überzeugen
+ „Die Entdeckung der Rima Hadley“ und „Der Junfernflug der Aurora
+ „Nebelsilber“ und „Das Mädchen vom Riesenrad“
+ schöne, schlichte Gestaltung
- ein paar auffallend schwache Beiträge
- manchmal zu wenig Steampunkflair
Wertung:
Geschichten: 3,5/5
Auswahl: 3,5/5
Gestaltung: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5
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