Das Bildnis des Dorian Gray. Nach Oscar Wilde (Amálie Kovářová, Petr Šrédl)

kovarova doriangray

Knesebeck, 2021
Originaltitel: The Picture of Dorian Gray (2021)
Übersetzung von Anja Kootz
Gebunden, 156 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-95728-545-4

Genre: Graphic Novel


Rezension

Als der Maler Basil Hallward ein Ganzkörperportrait von Dorian Gray anfertigt, einem jungen Adligen von faszinierender Schönheit und Reinheit, gelingt ihm ein Meisterwerk. Sein Freund, der geistreich-zynische Dandy Lord Henry Wotton, drängt darauf, Dorian kennen zu lernen, verführt ihn zum Hedonismus und weckt in ihm den Wunsch nach ewiger Jugend und Schönheit. Das Porträt solle an seiner Stelle altern, sagt Dorian, dafür würde er sogar seine Seele geben. Basil, der das Bild zunächst zerstören wollte, schenkt es ihm.

In einem schäbigen Theater begegnet Dorian der jungen Schauspielerin Sibyl Vane, die mit ihrem Genie und ihrer Schönheit alle verzaubert. Sie verlieben sich und wollen heiraten. Basil Hallward und Lord Henry sind entsetzt. Um sie umzustimmen, nimmt Dorian sie mit in die nächste Vorstellung. Sibyl spielt schlecht. Sie hat ihre Gabe als Schauspielerin verloren, weil sie die Liebe gefunden hat. Dorian fühlt sich verraten und bricht mit ihr. Als er nach Hause kommt, bemerkt er beim Betrachten des Bildes ein grausames Lächeln. Er erkennt, dass sein Wunsch erfüllt wurde. Aus Missfallen über den Anblick seiner hässlichen Seele will er Sibyl nun doch heiraten. Es ist zu spät. Sibyl hat Selbstmord begangen.

Dorians Reaktion ist blanker Zynismus. Fortan ist er wie verwandelt und kennt keine Skrupel mehr. In den nächsten achtzehn Jahren führt er ein ausschweifendes Leben mit Sex, Alkohol, Drogen, verdirbt Frauen und junge Männer. Immer wieder vergleicht er sich mit dem Porträt, das seinen seelischen und körperlichen Verfall spiegelt und an sein lasterhaftes Leben erinnert. Eine Wende tritt ein, als Basil Hallward ihn mit den Gerüchten konfrontiert, die in der feinen Gesellschaft über ihn kursieren. Immer tiefer sinkt Dorian in den Sumpf einer schuldhaften, kriminellen Existenz, bis er sich seinem Gewissen stellen muss.

Der Comic von Amálie Kovářová (Text) und Petr Šrédl (Illustrationen) basiert auf Oscar Wildes einzigem Roman (1891), der zuerst 1890 im Magazin Lippincott’s erschienen war. Es ist die schrecklich-schillernde Geschichte über das Doppelleben eines viktorianischen Gentleman im Fin de siècle, über Schein und Wirklichkeit, Dekadenz und Moral. Trotz der Veränderungen, die Wilde vornahm, markierte die Veröffentlichung den Beginn seines langen Niedergangs vom öffentlichen Skandal bis zum Prozess 1895, der mit seiner Verurteilung zu zwei Jahren Zuchthaus endete.

Das Bildnis des Dorian Gray wurde als Affront gegen die herrschenden Werte empfunden. Das eigentlich Skandalöse war jedoch, dass es in indirekter Weise das Doppelleben als Familienvater und Homosexueller, das Wilde zu jener Zeit führte, abbildete. Einige Kritiker haben Wilde mit Wotton und/oder Dorian Gray identifiziert. Wilde hatte, wie Dorian, sein Leben in Kunst verwandelt. Wilde selbst bemerkte dazu: „Basil Hallward ist der, der ich glaube zu sein; Lord Henry der, für den die Welt mich hält; Dorian ist der, der ich gerne sein würde – in anderen Zeiten, vielleicht.“ Dorian Grays schönes Gesicht ist eine Maske, mit der er die Gesellschaft über seinen verdorbenen Charakter hinwegtäuscht, so wie Oscar Wilde seine Homosexualität vor der Welt verbergen musste.

Der Comic erzählt den Romanklassiker in ausdrucksstarken Tuschezeichnungen nach. Er hält sich an die Vorlage, verzichtet auf die eher langatmigen Ausführungen zu Dorians Sammelleidenschaft und Gesellschaftskritik. Die düstere, schicksalhafte Geschichte wechselt zwischen zwei Erzähltönen, der sentimentalen Tragödie und provozierenden Epigrammen. Dem entsprechen zwei Farbtöne - kräftige Rot- und Orangetöne für die Romanze mit Sibyl und die Rachegeschichte, verwaschenes Grau, luzide, neblig verschwommene Bilder für die narkotische Welt der Gedankenbilder, Traumbilder, Rückblenden. Immer düsterer werden die Bilder, verkanten, fallen übereinander wie Gedankenfetzen, verbildlichen so die seelischen Qualen und die Zerrissenheit einer dualen Identität.

Die geistreichen, epigrammatisch zugespitzten Dialoge nehmen einen breiten Raum ein. Doch während Lord Henry, Sprachakrobat, Ideenjongleur und Experimentalpsychologe, es bei reizenden, pikanten Aphorismen wie „Um eine Versuchung loszuwerden, muss man ihr nachgeben“ belässt und den Triumph des Individualismus nur verbal feiert, verwandelt sich der Narzisst Dorian Gray in ein lebendes, amoralisches Kunstwerk. Dorian Gray und Sibyl Vane scheitern daran, dass sie Kunst mit Realität verwechseln. Sie leben in einer Fantasiewelt. Dorian ist nicht der Märchenprinz, Sibyl nicht Shakespeares Julia. Beide gehen an ihrem Irrtum zugrunde, wobei Dorian sich an seiner Zerstörung aktiv beteiligt. „Es gibt kein moralisches oder unmoralisches Buch“, schreibt Wilde. „Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben.“ Das Bildnis des Dorian Gray hat eine Moral.

Die Geschichte zeigt nicht nur das Doppelleben eines Viktorianers, sondern ist auch eine Reise durch ein gespaltenes London. Dorian bewegt sich zwischen den Dinnerpartys der Reichen in Knightsbridge oder Kensington und den Slums, Opiumhöhlen und Hafenkneipen von Whitechapel oder Limehouse. Die deutsche Übertragung von Anja Kootz verwendet die Übersetzung von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer aus dem Jahr 1909. Im dreiseitigen Anhang liefert Mícheál Úa Séaghdha Wissenswertes zu Oscar Wilde, Ästhetizismus und Fin de Siècle.


Fazit

Gelungene Adaption eines Klassikers, die den morbid-dekadenten Geist der Vorlage erfasst und stilsicher in Szene setzt.


Pro und Kontra

+ ausdrucksstarke Zeichnungen
+ düstere, unheimliche Atmosphäre
+ aktuell angesichts von Jugend- und Schönheitswahn, Selfies und Beauty Filtern, Selbststilisierung und Partykultur

Wertung:sterne4.5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5