Blanvalet (April 2015)
Originaltitel: „Midnight Tides“
Aus dem Englischen von Tim Straetmann
Taschenbuch
512 Seiten, 12,00 EUR
ISBN: 978-3-7341-6039-4
Blanvalet (Juli 2015)
Originaltitel: „Midnight Tides“
Aus dem Englischen von Tim Straetmann
Taschenbuch
640 Seiten, 12,00 EUR
ISBN: 978-3-7341-6040-0
Genre: Fantasy
Klappentexte
„Kinder des Schattens“
Trull Sengar vom Volk der Tiste Edur entdeckt als Erster, dass das Reich Lether die Grenzen seines Volkes verletzt hat. Ihm ist sofort klar, dass diese Missachtung der alten Verträge Krieg für die Kinder des Schattens bedeutet. Das Reich Lether beherrscht bereits den gesamten übrigen Kontinent, und sein Eroberungswille ist ungebrochen. Doch die Edur sind nicht die leichte Beute, die sie einst waren, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Kinder des Schattens sind die sechs Stämme unter einem einzigen Herrscher vereint – dem Hexerkönig!
„Gezeiten der Nacht“
Ezgara Diskanar, der Herrscher des Reiches von Lether, ist es gewohnt zu siegen. Doch seit er sich entschlossen hat, die Länder der Tiste Edur zu erobern, erleiden seine Heere eine Niederlage nach der anderen. Und auch an seinem eigenen Hof steht es nicht zum Besten, haben sich doch seine Königin und sein Kanzler gegen ihn verbündet. Da erwachen uralte finstere Mächte in seiner Hauptstadt Letheras zu neuem Leben, und Diskanar sieht nur noch eine Möglichkeit, sein Reich vor der Eroberung zu bewahren – er muss sich mit ihnen verbünden.
Rezension
„Midnight Tides“, auf Deutsch auf die beiden Bände „Kinder des Schattens“ und „Gezeiten der Nacht“ aufgeteilt, ist der fünfte (bzw. im Deutschen der achte und neunte) Band der Reihe „Malazan Book of the Fallen“ (dt.: „Das Spiel der Götter“) und nimmt eine interessante Position in dieser ein: Nachdem die ersten 4 Bücher Figuren auf den beiden Kontinenten Genabackis und Seven Cities folgten, spielt „Midnight Tides“ auf einem anderen Kontinent und führt eine Vielzahl neuer Figuren und einen ganz neuen Konflikt ein, auch wenn es natürlich Verbindungen zum Rest der Serie und vor allem zu „House of Chains“ gibt – denn her sehen wir mehr von den Tiste Edur, die dort mehr oder weniger aus dem Nichts oder aus der Vergangenheit zu kommen schienen, und wird die Vorgeschichte von Trull Sengar erzählt. Autor Steven Erikson bezeichnete den Roman in einem sehr hörenswerten Interview im Podcast „Ten very big books“ als „Brücke“ zwischen der ersten und der zweiten Hälfte der zehnbändigen Reihe.
Tatsächlich könnte „Midnight Tides“ wahrscheinlich für sich stehen, denn auch wenn man die volle Bedeutung einiger Ereignisse erst vor dem Hintergrund der anderen Bände versteht, ist ein Großteil des Buches eine in sich geschlossene, ebenso tragische wie kathartische Geschichte, die wenig Vorwissen voraussetzt.
Die Geschichte beginnt mit zwei Imperien, die einander belauern. Auf der einen Seite ist Lether, das zuvor die meisten anderen ethnischen Gruppen der Umgebung unterworfen hat und sich immer weiter ausdehnt. Auf der anderen Seite steht das Reich der Tiste Edur, der „Kinder von Vater Schatten“, deren Stämme zum ersten Mal unter dem Hexerkönig Hannan Mosag vereint sind und die über ebenso mächtige wie zerstörerische Magie gebieten. Keine der beiden Kulturen kommt besonders gut weg. Lether ist ein auf Gier und Ausbeutung erbautes Imperium und die Tiste Edur haben nicht nur eine Tradition der Sklaverei, sondern verlieren sich mehr und mehr auf einem Pfad, der vermeintlich zur Macht, aber tatsächlich eher steil abwärts führt. „Midnight Tides“ erzählt, wie der Konflikt zwischen beiden sich erst schleichend und dann schneller und schneller zuspitzt. Es ist eine echte Bereicherung, einen tieferen Einblick in die Kultur und Motivation beider Parteien zu haben, was z.B. in „Deadhouse Gates“, Band 2, nicht der Fall war.
Die Geschichte wird aus der Perspektive vieler Figuren auf beiden Seiten erzählt. Die Tiste Edur sehen wir vor allem aus der Perspektive Trull Sengars, eines pflichtbewussten, aber unabhängig denkenden und von Zweifeln geplagten Mannes, der beobachtet, wie sich seine Familie mehr und mehr in den aufziehenden Konflikt, aber auch in die Manipulationen eines zerstörerischen Gottes verstrickt. Dabei werden Trull und seine Brüder teilweise in Rollen gezwungen, die sie so nie wollten. Eine weitere Perspektive auf die Edur bietet das Erzählen aus dem Blickwinkel des letherischen Sklaven Udinaas, der seit einer Begegnung mit einem drachenartigen Wyval Visionen hat, die ihm die tief in die Vergangenheit reichenden Wurzeln des aktuellen Konflikts zeigen.
Unter den letherischen Figuren, die wir kennen lernen, ist der ebenso exzentrische wie geniale Tehol Beddict, der begeistert den Auftrag annimmt, den letherischen Finanzmarkt ins Chaos zu stürzen. Tehol und die Figuren um ihn herum sind eine der wichtigsten Quellen von Humor in diesem Buch. Da sind Tehols temporeiche Dialoge mit seinem Diener Bugg (der Malazan-typisch natürlich nicht ganz ist, wer er zu sein vorgibt), aber einiger Humor kommt auch von den skurrilen Gestalten, mit denen sie es zu tun haben. Seren Pedac, die immer wieder Händler*innen und Botschafter*innen zu den Edur begleitet, ist in seinen älteren Bruder, den von Schuld zerfressenen Hull Beddict, verliebt und macht sich wenige Illusionen darüber, was in Lether falsch läuft. Und Brys Beddict, der jüngste der Beddict-Brüder, der als königlicher Champion einem ritterlichen Ideal nachzustreben scheint, das wenig nach Letheras passt, bekommt aus nächster Nähe mit, wie gespalten der Hof des Königs ist.
In Letheras, der Hauptstadt des Imperiums, sind noch einige weitere merkwürdige Dinge los: Unter anderem sind sehr viele Untote unterwegs – einige davon arbeiten für Tehol – und einige sehr alte Wesen drohen, ihrem sterbenden übernatürlichen Gefängnis zu entkommen. Vergangenheit und Gegenwart, die Sphären der Sterblichen und der Götter sind hier eng miteinander verflochten. Der Roman zeigt auch wieder den spannenden Weltenbau und die komplexe Mythologie der Serie und Lesende sehen hier besonders viel Magie, deren zerstörerische Wirkung und hoher Preis eindrucksvoll beschrieben werden. Wenn Kämpfe und für Figuren traumatische Ereignisse beschrieben werden, ergeht sich der Roman nicht endlosen blutigen Schilderungen, aber vermittelt dennoch, wie verstörend das Geschehen ist.
„Midnight Tides“ hat einen gemächlichen Beginn und bewirft die Lesenden mit einer Vielzahl von Namen und Konzepten, von denen viele auch nicht in den Vorgängerbänden eingeführt wurden. Es dauert eine Weile, mit den Figuren vertraut zu werden und auch wenn sie alle ihre eigenen Stimmen haben, tendieren ihre Dialoge dazu, sehr reflektiert und beinahe förmlich zu sein – ein wenig zu geschliffen, um sich komplett in der Geschichte zu verlieren. Aber gerade dieser reflektierte Stil, der Blick auf die großen Zusammenhänge von Systemen und den Menschen darin, die trotz ihrer eigenen Gefühle und Prinzipien von Entwicklungen mitgerissen werden können, ist auch eine der Stärken des Buchs. Und zum Ende hin schließlich wecken die Schicksale der Figuren aufrichtige Sorge, Mitgefühl oder Triumph. „Midnight Tides“ ist kein hoffnungsloses, aber dennoch oft tragisches Buch. Ein trauriges Element kommt dadurch ins Spiel, dass viele Figuren, die wichtige Informationen, Gefühle oder Zweifel teilen, nicht miteinander reden – das fühlt sich hier aber nicht wie etwas an, das im Dienst des Plots steht, sondern vielmehr wie ein bewusstes thematisches Element. Es unterstreicht die Isolation von Figuren, die von den Gezeiten struktureller Gegebenheiten oder Veränderungen mitgerissen werden.
Auch wenn mich „Midnight Tides“ im Großen und Ganzen sehr überzeugen konnte, habe ich ein paar Kritikpunkte: Im Vergleich dazu, wie viel Zeit sich Erikson genommen hat, alles vorzubereiten und immer neue Schichten von Rätseln und Konflikten einzuführen, ist der Showdown beinahe ein wenig zu kurz. Ein weiteres Detail, das mir unangenehm aufgefallen ist, ist, dass Objektifizierung und sogar sexualisierter Gewalt nicht mit dem sonst in der Serie bei diesen Themen vorherrschenden Ernst präsentiert werden, wenn sie sich gegen Männer richten.
Dennoch halte ich „Midnight Tides“ für einen ausgezeichneten Roman, der nicht nur das Malazan-Universum noch einmal auf spannende Weise erweitert und interessante Figuren mit sich entwickelnden Beziehungen einführt, sondern auch Themen wie Herrschaft, Verantwortung, Familie, Gier und Imperialismus erkundet. Die Balance zwischen Melancholie und Humor ist gelungen und ich bin gespannt, wie sich der Lether-Handlungsstrang schließlich ins Gesamtbild der Serie einfügen wird. Da ich das Original gelesen habe, kann ich leider nichts dazu sagen, wie sich die Übersetzung und die Teilung des Buches auf das Leseerlebnis auswirken.
Fazit
Mit „Midnight Tides“ bzw. „Kinder des Schattens” und „Gezeiten der Nacht“ hat Steven Erikson wieder einen sehr komplexen, bei aller Tragik befriedigenden Malazan-Roman abgeliefert, der die investierte Aufmerksamkeit und Geduld absolut belohnt.
Pro und Contra:
+ interessante Figuren, die Anteilnahme wecken
+ origineller, vielschichtiger Weltenbau
+ kluge Beobachtungen
+ starke Themes
+ Humor
o sehr komplex, führt sehr viele Figuren, Begrifflichkeiten und Konflikte ein, die es im Kopf zu behalten gilt
o langsamer Einstieg
o keine direkte Fortsetzung der bisherigen Bücher, Schauplatz und Figurenensemble wechseln nahezu komplett
-Anfang und Ende nicht ganz im Gleichgewicht
-Doppelmoral in Darstellung sexueller Übergriffe
Wertung:
Handlung: 4,5/5
Figuren: 4,5/5
Lesespaß: 4/5
Preis-Leistung: 3,5/5
Rezension zu "Die Gärten des Mondes" (Bd. 1)
Rezension zu "Rejoice, a Knife to the Heart"