Das Ende des Fadens. Commissario Montalbano übt sich in Geduld (Andrea Camilleri)

camilleri endedesfadens

Bastei Lübbe, 2022
Originaltitel: L’altro capo del filo (2016)
Übersetzung von Rita Seuß und Walter Kögler
Gebunden, 301 Seiten
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A] | CHF 33,90
ISBN 978-3-7857-2752-2

Genre: Kriminalroman


Rezension

Commissario Montalbano soll sich auf Wunsch seiner Verlobten Livia einen Anzug maßschneidern lassen. Die Idee missfällt ihm, zumal ihm der Anlass recht fragwürdig erscheint. Doch die von Livia empfohlene Schneiderin Elena aus Vigàta überzeugt ihn mit Kompetenz und Charme. In der Nacht nach der ersten Anprobe findet ein Wachmann Elena tot in ihrem Atelier auf. Jemand hat mit einer Schneiderschere zigfach auf sie eingestochen. Anscheinend war es eine Tat im Affekt. Doch warum blieb die Brust des Opfers von der blindwütigen Attacke verschont? Es gibt keine Spuren und keine Zeugen, Handy und Computer sind verschwunden. In Elenas angrenzender Wohnung finden sich Hinweise, dass sie mit dem Mörder zu Abend gegessen und ihm das Gästezimmer vorbereitet hat. Wie konnte der, blutüberströmt wie er gewesen sein musste, entkommen, ohne aufzufallen?

Die Aussagen über Elena sind so widersprüchlich, dass Montalbano sich zunächst kein Bild von ihr machen kann. Einigkeit herrscht nur darüber, dass sie liebenswert war, jedoch nie über ihre früheres Leben sprechen wollte. Elena war erst nach dem Tod ihres Mannes Franco vor vierzehn Jahren aus dem Veneto nach Vigàta gezogen, weil sie keine Verwandten hatte und sich bei der Beerdigung in Vigàta mit ihrer Schwägerin Teresa Messina angefreundet hatte. Verdächtig sind zunächst Elenas heimlicher Verlobter Diego Trupia, mit dem sie sich kurz vor ihrem Tod zerstritten hatte, sowie der junge Schneider Lillo Scotto, der in sie vernarrt war und dem sie wegen seiner Aufdringlichkeit kündigen musste. Montalbanos Ermittlungen stecken fest. Keinen der Verdächtigen hält er für den Mörder.

Das Ende des Fadens ist der 24. Roman in der international erfolgreichen Serie um Commissario Salvo Montalbano aus dem sizilianischen Vigàta. Neben den Romanen gibt es noch fünf Erzählbände. Wie gewohnt thematisiert Andrea Camilleri aktuelle politische Probleme seines Landes. In Das Ende des Fadens wird Montalbano, mittlerweile sechzig Jahre alt (eigentlich fünf Jahre älter, da Jahrgang 1950), in das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer involviert, das buchstäblich bis zu ihm nach Marinella kommt. Die Handlung beginnt damit, dass er die vor seinem Haus im Meer treibende Leiche eines Jugendlichen aus dem Wasser zieht.

Jede Nacht treffen Boote mit Hunderten geretteter Flüchtlinge und Migranten im Hafen von Vigàta ein. Montalbanos Leute sind abgestellt worden, die zuständige Einheit bei der Ausschiffung und den Transport der Menschen zum Erstaufnahmezentrum zu unterstützen. Die tagtägliche Konfrontation mit Leid und Hoffnung, Tod und Gewalt bringt alle an ihre physischen und psychischen Grenzen. Besonders herausgefordert wird Montalbano, als er den Fall eines Mädchens aufklären muss, das auf der Überfahrt vergewaltigt wurde. Er muss die Täter überführen, ohne das Mädchen erneut zu traumatisieren. Bei seiner Flüchtlingsarbeit begegnet Montalbano Vertretern von Politik und Medien, deren Vorurteile und Lügen zu Ungerechtigkeit und Misstrauen mit fatalen Folgen führen können, wie das traurige Beispiel eines Konzertflötisten veranschaulicht. Camilleri zeichnet in nuce das Bild einer Gesellschaft, deren Klima durch das Zusammenspiel der Mächtigen, die jede Verantwortung von sich weisen, zunehmend vergiftet wird.

Sein eigentlicher Fall ereignet sich nach etwa hundert Seiten. Montalbano ist persönlich betroffen, denn für ihn war Elena eine Freundin. Wohl zum ersten Mal hat er es mit einem Opfer zu tun, das alle liebten und verehrten. Er findet niemanden mit einem Motiv oder dem er den Mord zutrauen könnte. Nur Mimì Augello will den Täter gefunden haben. Montalbano weiß, dass niedere Motive seinen Vice Commissario antreiben. Da er niemanden ins Gefängnis schickt, dessen Schuld nicht nachgewiesen ist, bietet sich Mimì als ideale Zielscheibe für einen seiner Rachefeldzüge. Auch einen Journalisten, der eine Falschmeldung verbreiten will, blamiert er gekonnt.

Montalbano ist ein Regisseur, der das Geschehen dirigiert, mal mit ernstem Hintergrund, mal als persönlichen Rachefeldzug. Seine Dauerverlobte Livia wird ebenfalls Ziel seines schier unerschöpflichen und einfallsreichen Repertoires an Tricks, Notlügen und Ausflüchten. Er erzählt von dem Hilfskomitee und fragt, ob sie mithelfen will, weil er hofft, ihre Hilfsbereitschaft für die Leute würden sie das Eheversprechen und den Anzug vergessen machen. Als sie ihn an die Anprobe erinnert, zahlt er es ihr mit einer Bemerkung über Elenas Attraktivität heim. Ein anderes Mal schiebt er, wenn auch beschämt, die Flüchtlingsarbeit vor, um Livia telefonisch kurz abzufertigen. Mimì und Livia bleiben ihm nichts schuldig.

Montalbano kritisiert, dass sich die Polizei nur noch auf die kriminaltechnischen Untersuchungen verlässt und die Intuition verloren hat. Er selbst setzt auf die persönliche Begegnung, vertraut seiner Menschenkenntnis und seinem Instinkt. Mitunter meldet der sich verschlüsselt im Traum, so wenn Kater Rinaldo ein Wollknäuel abrollt und das Ende des Fadens sich als wichtiger Fingerzeig erweist. Montalbano braucht eine Weile, bis er die verhedderten Fäden auseinandergeknotet hat. Am Ende enthüllt er ein klassisches Beziehungsdrama um eine betrogene Ehefrau, eine enttäuschte Geliebte und einen rücksichtslosen Mann. Auch privat befasst sich Montalbano mit dem Verbrechen. Seine Lektüre ist ein Kriminalroman über seinen „Kollegen“ Commissario Rocco Schiavone.


Fazit

Camilleri erzählt die Geschichte eines Mordes, hinter der sich eine menschliche Tragödie aus verschmähter Liebe, Eifersucht und Hass einerseits und menschlicher Güte und Mitgefühl andererseits verbirgt. Es ist die Geschichte eines Menschen, der gut ist und trotzdem sterben muss. Parallel dazu ereignet sich eine Tragödie von weitaus größerem Ausmaß, vor den Augen der Welt und ganz real: das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer, bei dem viele Unschuldige sterben.


Pro und Kontra

+ typischer Montalbano mit sizilianischem Lebensgefühl
+ das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer aus der Nähe, intensiv und sensibel erzählt
+ spannende Geschichte eines Mordes mit überraschender Auflösung
+ ein Protagonist, der entgegen der Zeitströmung an seinen humanistischen Prinzipien festhält
+ aufwendig gestaltetes Buch mit Lesefaden und Leineneinband

Wertung:sterne5

Handlung: 5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Andrea Camilleri, Commissario Montalbano, italienischer Kriminalroman, Sizilien, Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, Beziehungsdrama