Michael Marrak (19.02.2022)

 Interview mit Michael Marrak

Marrak DublinLiteratopia: Hallo, Michael! Du veröffentlichst seit dreißig Jahren Phantastik in verschiedenen Formen, als Kurzgeschichten, Romane und Illustrationen. Wie würdest Du selbst Deinen Stil beschreiben?

Michael Marrak: Hallo Judith, das ist so etwas wie eine fast unmöglich zu beantwortende Einstiegsfrage. Zumindest für mich selbst. Früher fiel in Rezensionen oder Interviews seitens der Schreiber oft und scherzhaft der Begriff „marrakesk“, angelehnt an das in den vergangenen einhundert Jahren in der Sekundärliteratur oft bemühte „kafkaesk“. Der Memoranda Verlag benutzt in meiner Autorenvorstellung ein Zitat von Andreas Eschbach, in dem dieser abschließend vermerkt, „in meinen Werken vermische sich Science Fiction mit Fantastik, Horror und alten Mythen zu einer ebenso unverkennbaren wie unnachahmlichen Mischung“. Mein Stil unterscheidet sich also offenbar von dem des Mainstreams. Mit dem Feedback der Leser im Hinterkopf würde ich ihn vielleicht als dichter, tiefer und intensiver bezeichnen.

Literatopia: Was fasziniert Dich persönlich an der Phantastik?

Michael Marrak: Etwas, das in früher Kindheit geprägt wurde: eine Faszination für den Sense of Wonder. Um 1970 herum liefen gelegentlich Fernsehserien wie „Raumpatrouille Orion“ und „Twilight Zone“, und ich stand, weil ich sie eigentlich nicht sehen durfte, des Abends oft vor dem Wohnzimmer im dunklen Flur und schaute heimlich durch den Türspalt zu. Die für mich als Kind unglaublichen Bilder und Geschehnisse sorgten bei mir für grenzenloses Staunen. Meine Eltern enthielten mir viele Filme wie etwa „Tarantula“ oder „Formicula“ vor, weil ich in ihren Augen noch zu jung dafür war, was mein Bedürfnis, das Wundersame zu sehen und mich mit seiner Welt zu beschäftigen, nur noch verstärkte.

Heute fasziniert mich die Exotik und die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, der Fantasie mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln und Gaben freien Lauf zu lassen, um Gesellschaftssysteme, Welten und Universen zu erschaffen. Die Symbiose von Realität und Imagination, der Spagat zwischen biologischer Wärme und technischer Kälte. Und die Chance, die starren Grenzen verschwimmen und ineinander fließen zu lassen. Damals wie heute fühle ich mich beim Schreiben und Illustrieren in der Enge der Realität und ihrer abgegrenzten Areale nicht besonders wohl.

Literatopia: Im März erscheint Dein neuer Roman „Lex Talionis“ bei Memoranda. Der ehemalige Fallanalyst Alexander „Lex“ Crohn ist ein sogenannter postkognitiver Rekonstruktor – was bedeutet das?

Michael Marrak: Kurz gesagt: Er kann in die Vergangenheit blicken und beobachten, was geschehen ist – aus Sicht des Täters oder gar des getöteten Opfers. Lex ist also eine Art Gegenentwurf zu den Precogs aus dem Film „Minority Report“, die in der Lage sind, zukünftige Morde vorherzusehen. Wobei das, was der Precog Agatha im Film dem Protagonisten zeigt, nämlich den Mord an ihrer Mutter, im Grunde auch eine Art Flashback ist. Allerdings geschieht es für den Protagonisten in LEX TALIONIS nicht aus heiterem Himmel, sondern mithilfe eines Triggers, also eines am Tatort gefunden Gegenstands, der dieses Vergangenheitsecho auslöst.

Aber vielleicht sollte ich Lex selbst zu Wort kommen lassen. Er kann es am besten erklären:

„Ich tauchte mit Vinzenz auf dem Spielfeld auf, sobald, wie Miriam es gegenüber der Presse einmal formuliert hatte, ein paar seltsame Zufälle zu viel im Spiel waren, um die Sache rechtsmedizinisch einfach als ›verhängnisvolle Pechsträhne‹ oder mit dem Vermerk ›Verkettung unglücklicher Umstände‹ abzuhaken. Mein Einsatz erfolgte, nachdem offensichtlich Dinge geschehen waren, die gewöhnliche Menschen ›Ironie des Schicksals‹ nennen oder sie zu Aussagen wie ›da hatte der Teufel seine Hand im Spiel‹ verleiten.

An Kommissar Zufall glaubte ich nicht. Mein Gott war der Kausalnexus, meine Religion das Schmetterlings-Theorem, und mein Tempel ein Gefüge aus morphschen Feldern. Jede lapidar als Zufall abgetane Begebenheit betrachtete ich als Endresultat einer raffinierten verborgenen Ereigniskette. Die Presse hatte die Öffentlichkeit mit Begriffen wie Agent Savant und Korektor beglückt. Letzteres war kein Schreibfehler, sondern stand für ›Kognitiver Rekonstruktor‹, die Kopfgeburt eines vom Gespenst der Moderne heimgesuchten Reporters. Ich hatte dieser verbrämten Titulierung noch nie etwas abgewinnen können. Sperrig wie ein Orgon-Akkumulator, mit einem Nachgeschmack von synthetischer Kaffeesatzleserei.

Meine Rolle für das Dezernat hatte ich der Presse gegenüber seinerzeit meist mit ›konsultierender Ermittler‹ oder ›fallanalytischer Berater‹ umschrieben. Auf der allgemeinen Seriositätsskala rangierte Korektor wahrscheinlich auf einer Höhe mit Hellseher, UFO-Forscher und Voodoopriester.

Laut einer wissenschaftlichen, von einem Kriminalpsychologen verfassten Studie nutzte ich bei meiner Arbeit dieselben Schaltzentralen im Gehirn, die bei Inselbegabten aktiv sind. Doch statt die Menschen mit einem fotografischen Gedächtnis zu beeindrucken, spontan Pianokonzerte nachzuspielen oder innerhalb weniger Sekunden fünfstellige Zahlen zu multiplizieren, agierte ich auf einer anderen metaphysischen Ebene. Ich setzte Puzzleteile zusammen, die gewöhnliche Menschen nicht sehen, verknüpfte Zusammenhänge, die ungeschulte Ermittler nicht erkennen, und sah Spuren, die selbst Forensikern nicht auffallen. Es ist laut besagter Studie keine Vorhersehung, sondern ein Zurücksehen.

Zumindest im Optimalfall.

Es war schwer zu beschreiben, was es mit dem Kausalnexus auf sich hatte. Ich war im Grunde nur der unfreiwillige Benutzer, nicht der verantwortliche Programmierer. Was mir bei meiner Arbeit half, befand sich zwar in meinem Kopf, aber es hatte nichts mit Synapsen, Ganglien und Neuronen zu tun. Darüber hinaus existierte eine geheime Quelle weit jenseits meines Kopfes, von der niemand außer Vinzenz etwas wusste und über die ich Miriam und die ihren überhaupt erst dorthin zu lenken vermochte, wo ihre und meine Arbeit begann.

4Horsemen marrakWas heute Abend in der Saldek-Villa passiert war, geschah, wie es so treffend heißt, regelmäßig unregelmäßig und suchte mich oft in den ungünstigsten Situationen heim. Seit der Splitter in meinem Schädel steckte, hatte ich jedoch das Gefühl, die alte Flashback-Zimmerantenne unfreiwillig gegen ein Radioteleskop ausgetauscht zu haben. Er verstärkte die ungefilterten Echos um ein Vielfaches, wenn auch selten mit Bezug auf das Wesentliche. Ein nicht unerheblicher Teil dessen, was ich sah, hörte und erlebte, war audiovisuelle Dekoration, generische Flicken und Lückenfüller des Gehirns. Die Kunst bestand darin, das Essenzielle davon zu trennen.

Jenen metaphysischen Ort, an dem ich die Echos erlebte, bezeichnete ich als Visionarium, und das ihn umgebende Kontinuum als Echo-Dimension. Beides war ebenso schwer zu definieren wie der Kausalnexus. Im Grunde war das Visionarium mein eigenes, ganz persönliches Taschenuniversum, zu dem einzig ich Zugang hatte. Eine Mischung aus metaphysischer Zeitkapsel und Delikt-Retrospektive, angereichert mit einer Prise Spiegelkabinett, Freakshow, Altweibermühle und freudschem Psychocouch-Kaleidoskop. Die Namensverwandtschaft zu Aquarium und Terrarium war bewusst gewählt – mit dem Unterschied, dass es im Visionarium statt niedlicher, pflegeleichter Kleintiere bizarre, oft äußerst erschreckende und grausame Unwirklichkeiten zu beobachten gab und ich nicht von außen hineinblickte, um sie zu analysieren, sondern in das Echo integriert und zeit seiner Dauer darin gefangen war. Mit etwas Glück vermochte ich hinauszublicken, in der Hoffnung, jenseits der Grenzen Zusammenhänge zu erkennen und die kausalen Lücken zu schließen. Im Visionarium war ich jedoch mehr unbeteiligter Statist als Akteur. Ein Ein-Mann-Publikum, das sich von der Darbietung überraschen lassen musste. Zwar konnte ich agieren und reagieren, aber keinen Einfluss auf das Echo-Geschehen selbst nehmen oder es gar steuern wie einen luziden Traum. Es war eine unabänderliche Retrospektive. Im Grunde fühlte ich mich bei jedem Flashback, der mich in die Echo-Dimension katapultierte, wie in einer Arena, in der ich gegen äußerst destruktive Geister und irrational anmutende Begebenheiten der Vergangenheit antreten musste.

Seit ich den Splitter mit mir herumtrug, ließen sich die von mir als Echos bezeichneten Flashbacks jedoch kaum noch kontrollieren. Sie geschahen mit der Wucht und Unberechenbarkeit von Tourette-und Epilepsieanfällen und brachen sich durch alle mentalen Barrikaden Bahn. Es war, als würde ich versuchen, auf alle Äste eines Baumes gleichzeitig zu klettern. Just verlor ich den Halt und den roten Faden, woraufhin sämtliche Gedankenalternativen in meinem Kopf verglühten wie die Leuchtspuren einer Feuerwerksrakete. Das Resultat war meist ein kompletter Filmriss, in dessen Folge ich gelegentlich nicht einmal mehr wusste, was eigentlich das Thema, der Grundgedanke oder die Ursache gewesen war.“

garten des uroborusLiteratopia: Der Klappentext deutet „eine Entität, die sich in ahnungslosen menschlichen Hüllen versteckt und darin agiert“ an – klingt nach Lovecraft-Horror? Wie gruselig und verstörend ist „Lex Talionis“?

Michael Marrak: Das liegt im Auge des Betrachters (oder besser gesagt Lesers) und hängt von dessen Vorlieben ab. Festa-Fans werden wahrscheinlich nur milde lächeln. Die TestleserInnen fanden ihn spannend, atmosphärisch und so blutig wie schon lange nicht mehr. Der Verleger bestand darauf, dass potenzielle Leser schon anhand des Klappentextes erkennen, dass stellenweise eine sehr düstere Stimmung herrscht und es einige sehr explizite und drastische Szenen gibt. Und eine Testleserin, die zuvor bei den KANON-Romanen und DER GARTEN DES UROBOROS dabei war, wollte diesmal nicht mitlesen, weil sie sich für zu zart besaitet hält und Horror und Blut nicht ihr Ding sind. LEX TALIONIS ist definitiv ein sehr geerdeter und düsterer Kontrast zu den KANON-Romanen.

Mit dem Prädikat Lovecraft-Horror tue ich persönlich mich in diesem Fall allerdings ein wenig schwer. Der hat in meinen Augen die Schauplätze betreffend meist etwas Antiquiertes, Historisches, menschlich Dekadentes und behandelt gerne ein abgelegenes, isoliertes Grauen. LEX TALIONIS ist jedoch sehr modern, spielt in einer (namenlosen) Großstadt und beginnt recht ruhig, wie ein gewöhnlicher Krimi mit einem bizarren Mordfall. Das Phantastische entwickelt sich sehr langsam. Und doch weiß man lange nicht: Ist das, was passiert, zwar abartig, aber menschlich – oder steckt doch etwas dahinter, das nicht von dieser Welt ist?

Literatopia: In einem Interview auf TOR online nennst Du Dein selbst verfasstes Werk „Der Kanon mechanischer Seelen“ als Dein persönliches Lieblingsbuch. Was macht den „Kanon“ für Dich so besonders?

Michael Marrak: Da reißt du jetzt leider meine für TOR Online gegebene Antwort aus dem Zusammenhang, denn bevor ich am Ende den KANON nenne, schreibe ich, dass ich so viele Lieblingsbücher anderer Autoren habe, dass ich kein einzelnes Werk nennen kann. Der KANON ist hingegen nur das Buch, das mir von meinen eigenen das liebste ist.

kanon mechanischer seelenSeine besondere Bedeutung liegt für mich in seiner Entstehungsgeschichte und dem Wunsch, etwas zu schreiben, das keinen abgesteckten Pfaden folgt, sondern in dem alles möglich ist. Ein Buch, mit dem ich nach fast zehnjähriger Pause in der Computerspiel-Parallelwelt versucht habe, mich neu zu erfinden. In dem ich mich selbst verwirkliche und all die Jahrzehnte der Schreiberei samt Lesevorlieben zu einem großen Konglomerat verschmelzen lasse. Ein Buch, dessen Verwirklichung keinen Zwang dargestellt hat, sondern pure Freude und Spaß am Fabulieren und an der Groteske. Ein Buch voller Humor und Poesie, aber auch mit viel Tiefe und liebenswerten, schrulligen Figuren, wie es sie vielleicht in dieser Konstellation noch nicht gegeben hat. Ich glaube, das ist mir – schon allein im Hinblick auf Stefan Kaminskis unglaubliche Hörbuch-Performance des ersten KANON-Romans – recht gut gelungen.

Und weil es ein Buch ist, dass endlich LORD GAMMA abgelöst hat, wenn es um mein Werk ging, denn es war mit der Zeit schon nervig, ständig auf diesen über zwanzig Jahre alten Roman reduziert zu werden. Dass die KANON-Welt beständig weiterwachsen würde, war Ende 2017, als der erste Roman erschienen war, aber noch nicht absehbar.

Die Geschichten sind eine Hommage an Stanislaw Lems „Kyberiade“ und seine Robotermärchen, an Miyazaki-Trickfilme wie „Chihiros Reise ins Zauberland“ und „Das wandelnde Schloss“, an Michael Moorcocks Epos „Am Ende der Zeit“, garniert mit einem Schuss „Alice hinter den Spiegeln“. Es finden sich aber auch viele Easter Eggs und versteckte Zitate und Bilder aus Literatur und Film darin. In CUTTER ANTE PORTAS trifft der Leser beispielsweise auf ein Koboltikum, einen kleinen, sehr alten Mecha, dem im dritten Buchteil ein eigener Handlungsstrang gewidmet ist – mit freundlicher Genehmigung von Christian von Aster und Holger Much. Die freuen sich schon auf die Lektüre.

Literatopia: Ursprünglich war „Cutter ante portas“ als Novelle geplant, erscheint nun aber nach der Absage der Leipziger Buchmesse etwas später bei Amrûn als Roman. Was hast Du daran noch geändert?

Michael Marrak: Die korrekte Frage müsste lauten: Was wirst du daran noch ändern? Die ursprünglich geplante Novelle ist fertig und hätte eigentlich dort enden sollen, wo der Epilog von ANIMA EX MACHINA beginnt. Nun werde ich den Cutter-Epilog in den Roman integrieren und erzähle die Geschichte noch ein bisschen weiter, so dass vor dem nächsten Buch, das die in ANIMA EX MACHINA begonnene Geschichte zu Ende bringt, alle Protagonisten auf gleicher Höhe der Timeline und Ereignisse sind.

cutter ante portasLiteratopia: Würde sich die Geschichte von Anax Thanatos auch als Einstieg in die „Kanon“-Welt eignen?

Michael Marrak: Nicht wirklich, denn er ist eine Figur, die bereits zu Beginn von DER KANON MECHANISCHER SEELEN eingeführt wird und sich langsam entwickelt. CUTTER ANTE PORTAS ist ein Roman, für den man Thanatos bereits gut kennen (und lieben) sollte. Die Handlung spielt einige Monate nach dem KANON, aber vor der Handlung von ANIMA EX MACHINA. Und es ist der erste Roman, in dem die bisherigen Hauptakteure Ninive und Aris nicht dabei sind, ja nicht einmal erwähnt werden. Es ist ein reines Cutter-Abenteuer, mit ein klein wenig KANON-Nostalgieextrakt. Aber es ist dieselbe Welt, und sie leidet unter demselben Problem, das auch Ninive und Aris in ANIMA EX MACHINA zu schaffen macht.

Literatopia: Wie findest Du für Dich heraus, ob aus einer Idee eine Kurzgeschichte, eine Novelle oder ein ganzer Roman werden soll?

Michael Marrak: Das ist unterschiedlich, aber meistens ein relativ langer Prozess. Es gibt einige Romane, die sich aus einer einzelnen Kurzgeschichte oder Novelle entwickelt haben. IMAGON beispielsweise basiert auf meiner allerersten veröffentlichten Geschichte, DIE AUGEN VON AASAC (1990). Da mir ihre Idee gefiel, ich die Geschichte selbst aber stilistisch furchtbar fand, habe ich sie für meine Novellensammlung DIE STILLE NACH DEM TON (1998) unter dem Namen DER EISTEMPEL komplett neu geschrieben und erheblich erweitert. Zwei Jahre später hatte mich Frank Festa gebeten, diese Novelle für die erste Staffel seiner damaligen Buchreihe „Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“ zu einem Roman auszubauen. So ist schließlich IMAGON entstanden.

Die Geschichte von DER KANON MECHANISCHER SEELEN ist ja bekannt. Eigentlich hätte nach der ersten Novelle für Nova 20 bereits Ende 2012 Schluss sein sollen. Doch nachdem sie erschienen war, gab es viel positives Leserfeedback und den vielfachen Wunsch nach mehr von Ninive und der KANON-Welt. Also schrieb ich für Nova 21 eine zweite Geschichte, die dann prompt mit dem Kurd Laßwitz Preis prämiert wurde. Die dritte Novelle in Nova 22 hatte bereits ein offenes Ende, doch dann gab es das Problem, dass Nova 23 eine Themenausgabe war. Also schrieb ich zwar eine vierte KANON-Novelle, die jedoch zwischen Geschichte 1 und 2 spielte. Spätestens nach diesem chronologischen Mäandern war sowohl mir als auch den Lesern klar, dass nun der vollständige Roman kommen musste.

Illustration aus "Der Kanon mechanischer Seelen"Doch auch aktuell entstehen zwei Romane, denen Novellen zugrunde liegen. Dieser Prozess gehört einfach zu meiner Schreibphilosophie. Ralf Steinberg hat für ZWIELICHT 16 einen schönen Artikel darüber geschrieben, betitelt mit „Der Herr des Wandels“, wobei er damit auf meine Art, aus anfangs kleinen Geschichten letztlich Romane zu basteln, aber wohl auch auf die Wandler bzw. Äonenkinder im KANON anspielt. 

Literatopia: In der Anthologie „Wie künstlich ist Intelligenz?“ präsentierst Du in „Die Sapiens-Integrale“ gleich einen ganzen Schwarm KIs. Die Geschichte könnte auch ein Ausschnitt aus einer Romanwelt sein – könntest Du Dir vorstellen, weitere Geschichten mit dem KI-Schwarm zu erzählen?

Michael Marrak: Bis jetzt nicht. Kurzgeschichten stehen derzeit überhaupt nicht auf meiner Agenda. In den kommenden Jahren müssen erst einmal drei, vier noch unvollendete Romanprojekte, die teilweise auch schon seit zehn oder fünfzehn Jahren wachsen und – wie in zwei Fällen – bereits zu drei Vierteln vollendet sind, fertig werden. Und falls es in den nächsten zwölf Monaten doch mal um Kurzgeschichten gehen wird, dann ausschließlich um die für meinen dritten Memoranda-Sammelband.

Literatopia: Können Maschinen ein Bewusstsein entwickeln oder wird das niemals passieren?

Michael Marrak: Da fragst du was ... Ich bin Autor. Ich erfinde Geschichten und Figuren, und in meiner Fantasie ist alles möglich. Ein Großteil davon wäre nicht gut für die Menschheit. Der Rest wahrscheinlich auch nicht, aber intelligente Maschinen – mit oder ohne Bewusstsein – könnten ihren Spaß daran haben. Doch wie könnten wir überhaupt messen, wahrnehmen und erkennen, dass da in einer Maschine ein Bewusstsein agiert, und nicht nur eine hochentwickelte KI? Selbstwahrnehmung? Selbstreflektion? Genügt ein „Ich denke, also bin ich“-Zündfunke des Künstlichen? Können wir eine Maschine mit Bewusstsein überhaupt noch Maschine nennen, oder müssten wir einen neuen Begriff etablieren? Ein Konstrukt mit Bewusstsein, das von sich aus in eigenem Sinne agiert, erfüllt kaum mehr den Zweck eines Werkzeugs oder Hilfsmittels, dem der Begriff Maschine zugrunde liegt.

Im KANON hat Ninive wie fast alle sogenannten Wandler die Gabe, tote Materie allein durch ihren Wunsch und eine Berührung zu beseelen, also auch Maschinen. Diese haben daraufhin zwar ein Bewusstsein, aber der Entstehungsprozess ist im Grunde mehr eine übersinnliche Sache als eine technisch-kybernetische. Ich kann deine Frage nicht zufriedenstellend beantworten, denn mir fehlt schlicht das technische Know-how, und ich will auch nicht neuklug daherreden, indem ich mal schnell zwei, drei Artikel lese, um schlau zu tun. Aber ich kann für mich persönlich sagen: Ich hoffe nicht!

Literatopia: Du hast 1980 Deine erste Geschichte geschrieben – wovon handelte sie? Und hat sie jemals – eventuell überarbeitet – das Licht der Öffentlichkeit erblickt?

Charterflug zur HoelleMichael Marrak: Nein, und ich hoffe, das wird auch nie passieren. In diesem Fall hilft auch Überarbeiten nichts mehr. Das wäre, als ob man ein tiefgekühltes halbes Hähnchen zum Tierarzt bringt. Die Story trägt den Namen CHARTERFLUG ZUR HÖLLE (siehe Foto links). Ich hatte im Jahr 2004 einen längeren Beitrag mit einigen wenigen eingescannten Ausschnitten im PANORAMA meiner (momentan im Dornröschenschlaf liegenden) Autorenhomepage gepostet. Dort schrieb ich damals: „Vor einigen Jahren erwähnte ich in einem Interview, meine erste Story zwei Wochen, nachdem ich als Fahrradfahrer von einem Citroën über den Haufen gefahren wurde, geschrieben zu haben. Ferner bezeichnete ich dieses Machwerk als literarischen Unfall, was manche Leute glauben ließ, ich hätte darin meine traumatischen Crash-Erinnerungen niedergeschrieben. Dem ist nicht so. Es ist eine „Horror-Story“ (genauer gesagt: eine PROFESSOR ZAMORRA-Story) über eine Gorgone, und sie lässt einem wahrlich die (Schlangen)Haare zu Berge stehen. Unglückliche Formulierungen, Sinn- und Logikfehler, grenzenlose Naivität und zahllose Tippfehler bilden einen bunten Reigen. Die Erzählung ist einfach nur schlecht. So schlecht, dass ich heute, 24 Jahre später, eigentlich über sie lachen sollte – wäre es nicht ausgerechnet meine Geschichte, und hätte nicht ich sie verbrochen. So musste ich vorgestern zwar lachen, litt dabei aber physische und psychische Schmerzen.“

Literatopia: Übersetzungen Deiner Werke sind bereits in Frankreich, Griechenland, Russland, China und den USA erschienen. Wie fühlt sich das für Dich an, international gelesen zu werden?

Michael Marrak: Ich muss gestehen, ich nehme das gar nicht groß wahr, denn es gibt so gut wie keine Resonanz oder Lesefeedback. Und selbst wenn, kreist das größtenteils in literarischen Paralleluniversen, außerhalb meiner Sensoren. Gelegentlich stoße ich im Netz auf englische und französische Besprechungen, Artikel oder Diskussionen und schaue mir das natürlich an. Aber die anderen Länder ... Kyrillisch, chinesische Han-Schrift oder Neugriechisch ist für mich einfach nur Zeichensalat. Selbst meinen Namen oder die Titel der Romane und Geschichten kann ich nicht lesen. Ich weiß, dass es die Übersetzungen gibt und sie veröffentlicht wurden, aber das ist es dann auch schon.

Literatopia: Bekommst Du Belegexemplare von den Verlagen aus dem Ausland geschickt?

Michael Marrak: In der Regel direkt von den Verlagen, den Herausgebern oder über den Literaturagenten. Bei den Veröffentlichungen in Russland oder Griechenland war letzteres beispielsweise von Vorteil, denn es dauerte Wochen, bis da mal etwas im Briefkasten lag, weil hier kaum jemand mitbekommen hatte, dass das Buch in Russland bereits übersetzt und veröffentlicht worden war. Aber es gab auch schon Fälle, da habe ich erst Jahre später mehr durch Zufall erfahren, dass Erzählungen von mir im Ausland übersetzt und veröffentlicht wurden. Manche Herausgeber kümmert Urheberrecht nicht sonderlich. Das ist dann natürlich nur bedingt lustig.

Galaktika210Das ungarische Magazin Galaktika war da einst so ein Fall. Die haben jahrelang Kurzgeschichten und Novellen aller möglichen Autoren aus dem Netz kopiert, die frei zugänglich waren, und ohne deren Wissen, Einverständnis und Honorar für ihr Magazin übersetzt. In meinem Fall war es meine Novelle „Quo vadis, Armageddon?“, die im Jahr 2000 auf Epilog.de wie alle für den Kurd Laßwitz Preis nominierten Geschichten dem Leserpublikum vorgestellt worden waren. Sie sind auch heute noch im Epilog-Archiv zu finden. Von dort haben die Galaktika-Macher meine Novelle wohl kopiert, frei nach dem Motto: Was online zu lesen ist, ist frei und gehört allen. 2007 ist sie in ungarischer Übersetzung und eigentlich auch schön vierfarbig illustriert in Galaktika Nr. 210 erschienen. Erfahren habe ich davon allerdings erst zehn Jahre später durch Zufall beim Stöbern im Netz, als ich für ein Interview nach älteren Magazincovern suchte, in denen Storys und Illus von mir veröffentlicht worden waren. Immerhin konnte ich 2017 mit Hilfe einer Bekannten, die einen Freund in Ungarn hat, über ein dortiges Antiquariat noch zwei Exemplare des Magazins ergattern. Honorar oder Tantiemen habe ich jedoch nie dafür gesehen, ebenso wenig wie Dutzende weiterer Autoren, vornehmlich angloamerikanische, die ohne ihr Wissen übersetzt und veröffentlich worden sind. Im Netz findet man diverse Artikel und offene Briefe zu dieser jahrelang laufenden „Plünderung“ durch Galaktika.

Literatopia: Pandemiebedingt sind diverse Messen und Cons ausgefallen. Vermisst Du die persönlichen Treffen mit Büchermenschen? Oder bleibst Du lieber in Deiner Badewanne (falls Du aktuell eine hast)?

Michael Marrak: Habe ich leider nicht, daher vermisse ich das direkte lebendige Miteinander und den menschlichen Austausch sehr. Dieses ganze Online-Konferieren und digitale Präsentieren hängt mir inzwischen zum Hals raus.

Ich könnte natürlich auch mal mit Badewanne auf die Buchmesse kommen und auf der Leseinselbühne baden, während ich aus einem neuen Roman lese. Wäre sicher lustig. H.R. Giger hatte seine Badewanne damals mitten im Zimmer stehen, mit ein paar Metern Platz zu allen Seiten, weil er einen Horror vor Badezimmern und engen Räumen mit nur einer Tür hatte. Ich bedaure ein wenig, dass ich das damals bei meinen Besuchen nicht fotografiert habe.

Literatopia: Würdest Du uns abschließend einen kleinen Ausblick auf die Zukunft geben? Woran arbeitest Du gerade? Sind über das Frühjahr hinaus schon Veröffentlichungen geplant?

Michael Marrak: In erster Linie natürlich der zweite Teil von LEX TALIONIS, welcher im März 2023 erscheinen wird (das Herbstprogramm 2022 ist leider schon voll) und die Geschichte abschließt. Zudem ebenfalls im Memoranda-Verlag der bereits erwähnte dritte Band meiner Kurzgeschichtensammlung, aber wahrscheinlich nicht vor Herbst 2023. In zwei Monaten wird neben CUTTER ANTE PORTAS und LEX TALIONIS noch ein drittes Buch erscheinen, eine Kollaboration, für die ich recht viele Tuscheillustrationen angefertigt habe (und es derzeit noch immer tue). Ein sehr umfangreicher, zu ¾ fertiggestellter SF-Roman liegt seit einiger Zeit bei einem Großverlag. Mal sehen, was daraus wird. Für 2024 oder später geplant ist ein bereits ebenso weit fortgeschrittener Horror-Roman, eine Art Hommage an Lovecrafts DER FLÜSTERER IM DUNKELN. Ferner die Gesamtausgabe von DAS AION und eine Neuauflage von LORD GAMMA. Mir wird in nächster Zeit also kaum langweilig werden.

Literatopia: Herzlichen Dank für das Interview!

Michael Marrak: Vielen Dank für das Interesse!

 

michael marrak sereph Andre Piotrowski

(Michael Marrak erhält den Seraph für "Der Kanon mechanischer Seelen")


Autorenfotos und Illustrationen: Copyright by Michael Marrak

Foto Michael Marrak mit Seraph: Copyright by André Piotrowski

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Rezension zu "Der Garten des Uroboros" in PHANTAST #23

Rezension zu "Wie künstlich ist Intelligenz?"


Dieses Interview wurde von Judith Madera für Literatopia geführt. Alle Rechte vorbehalten.