Grenzwelten (Ursula K. Le Guin)

Fischer TOR (Januar 2022)
Übersetzerin: Karen Nölle
Paperback, 400 Seiten, 16,99 EUR

ISBN: 978-3-596-70578-8

Genre: Science Fiction


Klappentext

Zwei große SF-Romane von Ursula K. Le Guin in vollständiger Neuübersetzung.

Ursula K. Le Guins visionäre Hainish-Romane, die davon erzählen, wie die Menschheit ferne Planeten besiedelt, haben die Landkarte der modernen Science Fiction neu entworfen. In "Das Wort für Welt ist Wald" versklaven Kolonisten einen ganzen Planeten, um sich seiner Ressourcen zu bemächtigen – doch die Waldbewohner wissen sich zu wehren. "Die Überlieferung" ist die erschütternde Geschichte einer Gesellschaft, die ihr kulturelles Erbe unterdrückt hat.


Rezension

Der Hainish-Zyklus von Ursula K. Le Guin besteht aus diversen Romanen, Novellen und Kurzgeschichten, die in einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten entstanden und lose miteinander verbunden sind. Sie teilen sich ein gemeinsames Alternativ-Universum, in dem alle Menschen ursprünglich vom Planeten Hain stammen und nach einer langen Zeit der getrennten Evolution wieder Kontakt miteinander aufnehmen und die Liga der Welten formen, aus der schließlich das Ekumen hervorgeht.

In „Grenzwelten“ finden sich die Neuübersetzungen zweier ganz unterschiedlicher und doch ähnlicher Hainish-Geschichten, anhand derer man die Entwicklung der Autorin wunderbar nachvollziehen kann. „Das Wort für Welt ist Wald“ ist das Werk einer noch jungen, wütenden Autorin, die von menschlicher Grausamkeit und insbesondere dem Vietnam-Krieg erschüttert war. „Die Überlieferung“ hingegen ist das Werk einer älteren, reflektierten Ursula K. Le Guin, die zwar immer noch über menschliche Fehler und Grausamkeiten schreibt, aber viel mehr über Verbundenheit:

„Das Wort für Welt ist Wald“ ("The Word for World is Forest", 1974)

Die Kontinente des Planeten Athsche, von den Terranern „New Tahiti“ genannt, sind von riesigen Wäldern bedeckt und die Kolonisten sehen darin vor allem eine Quelle für Holz, das auf der ausgebeuteten und nahezu waldlosen Erde teuer verkauft werden kann. Die Männer haben bereits große Flächen gerodet, eine Insel gar in eine Wüste verwandelt, und die Maschinen fressen sich unaufhörlich weiter in den Wald. Die Athscheaner (Athsheaner), von den Männern verächtlich „Krietschis“  (Creechies) genannt, werden versklavt, auch wenn niemand das so nennen will. Sie sind sanftmütige, kleine Menschen mit Fell in verschiedenen Grünschattierungen, die von den Terranern wie Vieh behandelt werden. Vor allem Captain Davidson hasst die aus seiner Sicht schwachen und faulen „Krietschis“, die er mit brutalster Gewalt gefügig macht.

Der Athscheaner Selver wird zum Anführer einer Rebellion gegen die terranischen Kolonisten und bringt ihnen Feuer und Tod. Seine Frau wurde von Davidson vergewaltigt und starb und Selver selbst wurde fast zu Tode geprügelt. Der Wissenschaftler Raj Ljubow hat ihn gerettet und eine Beziehung zu ihm aufgebaut, sie haben sich gegenseitig ihre Sprachen gelehrt und Verständnis füreinander entwickelt. Doch Ljubow, der es unerträglich findet, was die Terraner dem Planeten und seiner Bevölkerung antun, kann den Athscheanern nicht helfen. Seine Forschung wird von den Militärs und Arbeitern nur belächelt, während sich Selver enttäuscht vom Weg der Verständigung abwendet und seinem Volk Zorn und Hass bringt.

Ursula K. Le Guin hat mit Captain Davidson eine zutiefst verabscheuungswürdige Figur geschaffen, die mit ihrem Rassismus, Sexismus und purer Menschenfeindlichkeit starke negative Emotionen in den Leser*innen weckt. Von der ersten Seite an hasst man Davidson, der Männer wie sich für überlegen hält, in Frauen nur Menschenmaterial für (einseitiges) sexuelles Vergnügen und Fortpflanzung sieht und die Athscheaner als primitive niedere Kreaturen betrachtet, die man nach Belieben ausbeuten kann. Das Unerträgliche daran ist, dass Davidson durch und durch davon überzeugt ist und dass er zwar eine fiktive Figur ist, aber beispielhaft für eine menschenverachtende Ideologie steht. Auch wenn seine Kapitel dadurch schwer zu lesen sind, sind sie doch überaus gelungen, denn Le Guin entlarvt das menschenfeindliche Weltbild, dessen Egoismus die krudesten Rechtfertigungen für Unrecht und Gewalt findet.

Das Leben der Athscheaner war vor der Ankunft der Kolonisten friedlich und von gegenseitigem Respekt und Empathie geprägt. Träume sind für sie von immenser Bedeutung und die Traumzeit genauso real wie die sogenannte Weltzeit. Sie können Trance und Träume bewusst herbeiführen und diese steuern, wobei insbesondere die Männer als Träumer ausgebildet werden. Ursula K. Le Guin zeichnet auf wenigen Seite eine komplexe Kultur, die sich so sehr vom zerstörerischen Profitstreben der Kolonisten unterscheidet, dass die Athscheaner wie das Klischee „unschuldiger und edler Wilder“ wirken, es bei genauerer Betrachtung aber nicht sind.

Die athscheanische Bevölkerung ist im Vergleich zur Vielfalt der natürlichen Ressourcen klein, sie leiden keinen Mangel und waren nie gezwungen, ihr auf den ersten Blick einfaches, auf den zweiten Blick sehr komplexes Leben in der Natur aufzugeben. Sie sind keine rückständigen „Wilden“ mit edlem Gemüt, sondern im Gegenteil in ihren kognitiven Fähigkeiten höherentwickelt als die Terraner. Das Konzept der Traumzeit und Weltzeit ist ungemein spannend und man wäre gerne tiefer in diese Kultur eingetaucht. Auch macht die Autorin deutlich, dass die Athscheaner die Kolonisten zwar als Menschen betrachten, jedoch Schwierigkeiten haben, sie zu verstehen. Für sie sind die Terraner krank und wahnsinnig, da sie ihre Träume nicht kontrollieren können und ihnen kaum Beachtung schenken.

Ursula K. Le Guin war letztlich auch ein Kind ihrer Zeit und so gibt es in „Das Wort für Welt ist Wald“ keine nennenswerten Frauenfiguren. Zu dem rein männlichen Cast gesellt sich ein katastrophales Frauenbild auf Seite der Terraner, die erst nur Männer (Militär und Arbeiter) zur Kolonisierung ausschicken und ihnen dann Frauen als Freizeitvergnügen und Heiratsmaterial hinterherschicken. Gleichzeitig erfährt man über die Frauen der Athscheaner nur wenig, denn das Träumen und der Intellekt scheinen Männersache zu sein. Immerhin sprechen die Athscheaner von ihren Frauen nicht so abwertend wie die Kolonisten, dafür versinken sie in Bedeutungslosigkeit.

„Das Wort für Welt ist Wald“ ist dennoch auch heute noch absolut lesenswert. Ursula K. Le Guin schreibt im Vorwort, dass der Roman als Reaktion auf den Vietnamkrieg entstanden ist, was man durchaus herausliest, doch genauso könnte er eine SF-Variante der Kolonisierung Amerikas ein. Vor allem zeigt der Roman, wie Menschen Aggression und Unrecht rechtfertigen, indem sie ihrem Gegenüber die Menschlichkeit einfach absprechen. Und er zeigt, wie naiv Politik und Wissenschaft auf solche Missstände reagieren, denn hier greift die Liga der Welten zwar ein und verbietet weitere Aggression gegen die Athscheaner, doch keiner scheint in Betracht zu ziehen, dass die Befehle missachtet werden. Sie glauben, mit ihrer neuen Technologie, dem sogenannten Ansible, der eine Echtzeitkommunikation über Lichtjahre hinweg ermöglicht, hätten sie die Lage im Griff, dabei dreht sich die Gewaltspirale weiter.

„Die Überlieferung“ (Die Erzähler" / "The Telling", 2000)

In „Das Wort für Welt ist Wald“ mündet die Ankunft der Terraner auf Athsche in eine gewaltvolle Kolonisierung und Krieg. In „Die Überlieferung“ ist es ein schlichter Besuch, der auf dem Planeten Aka eine Kulturrevolution auslöst, die in einen totalitären Konzernstaat mündet, in dem alle Erzeuger-Verbraucher sind und nach maximalem Profit streben. Der Roman ist zeitlich später angesiedelt, aus der Liga der Welten ist längst das Ekumen geworden und Terranerin Sati (Sutty) lebt als Observatin auf Aka. Sie hat auf der Erde die Herrschaft der religiös-fanatischen Unisten erlebt und gehofft, auf Aka eine offenere Gesellschaft vorzufinden. Doch durch die Zeitdilatation ist während der für sie kurzen Reise auf Aka so viel Zeit vergangen, dass sie eine veränderte, totalitäre Gesellschaft vorfindet, die ihr misstrauisch begegnet und ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkt.

Die Bewohner Akas streben nun nach den Sternen und haben ihre eigene Vergangenheit und Kultur vernichtet. Bücher wurden verbrannt, Menschen verfolgt und ein totalitärer Konzernstaat errichtet, der seine Bürger*innen kontrolliert. Sati weiß nicht, wie sie in so einem Umfeld überhaupt ihrer Arbeit als Observatin nachkommen soll. Sie ist auf Aka, um Literatur und Kultur zu erforschen und beides haben die Akaner quasi auf den Müll geworfen. Unerwartet erhält sie jedoch die Möglichkeit, die Kleinstadt Okzat-Ozkat zu besuchen, um dort die wahre Kultur Akas wiederzufinden. Auch dort übt der Konzernstaat Kontrolle aus, doch sie ist nicht so umfassend wie in den großen Städten und die Menschen sind Meister darin, ihre verbotene Kultur im Verborgenen zu leben.

Sati gelingt es, eine Beziehung zu den Menschen in Okzat-Ozkat aufzubauen und Teil ihrer Geheimgesellschaft zu werden. Sie lernt die Maz kennen, quasi die alten spirituellen Führer, die Geschichten erzählen und damit die Überlieferung weitertragen. Was diese Überlieferung genau ist, erkennt Sati nur Stück für Stück. Sie lernt, indem sie zuhört, und entdeckt die Vielfalt und die unterschiedlichen Bedeutungsebenen der Überlieferung – und sie bewundert den Einfallsreichtum der Menschen, die ihre Vergangenheit bewahren wollen und ihre Kulturschätze vor dem Konzernstaat verbergen. Später erkennt Sati in einer Konfrontation mit einem Monitor, einem staatlichen Überwacher, die Gründe für die Kulturrevolution auf Aka.

„Die Überlieferung“ ist eine sehr komplexe, ruhige Geschichte über kulturelle Unterschiede und den Einfluss Fremder. Anfangs kann man nicht verstehen, wie die auf Erzählungen beruhende Kultur der Akaner so plötzlich in einen totalitären Konzernstaat kippen konnte, doch nach und nach kristallisieren sich die kulturellen Differenzen der Vergangenheit heraus. Die Konfrontation mit einer raumfahrenden Kultur hat in den Akanern ein Streben nach der Zukunft zwischen den Sternen entfacht, in dem die eigene Vergangenheit keinen Platz mehr hat. Doch nicht alle wollen sich dieser Vision unterordnen.

Sati ist aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrungen besonders geeignet für die Mission, die Vergangenheit Akas zu ergründen und die alte Kultur wiederzuentdecken. Le Guin streut ihre Erinnerungen beiläufig in die Handlung ein und Sati verknüpft ihre eigene Vergangenheit mit den neuen Erfahrungen auf Aka, erkennt Parallelen und Unterschiede und bringt letztlich die richtige Balance auf neutraler Beobachterin und Betroffener mit, um wirklich etwas für den Erhalt der alten akanischen Kultur tun zu können.

“Die Überlieferung“ ist anspruchsvoll und man muss wie Sati sehr gut zuhören, was die Akaner zu sagen haben – und was sie nicht sagen. Während in „Das Wort für Welt ist Wald“ ein offenen, blutiger Kampf ausgetragen wird, balanciert man in „Die Überlieferung“ über einen Abgrund. Alles wirkt auf den ersten Blick friedlich und unverfänglich, doch unter der Oberfläche verlaufen Verwerfungslinien, die kaum mehr zu überbrücken sind. Dennoch ist es nicht die allgegenwärtige Bedrohung, die „Die Überlieferung“ spannend macht, es sind die unendlich vielen Details, die es zu entdecken gilt, und die Menschen und ihre Geschichten, die man kennenlernt.

Zwischen „Die Überlieferung“ und „Das Wort für Welt ist Wald“ liegen beinahe vier Jahrzehnte, in denen sich Ursula K. Le Guin spürbar weiterentwickelt hat. Mit Sati hat „Die Überlieferung“ eine queere, weibliche Person of Color als Protagonistin, welche auf eine Vielzahl anderer interessanter Frauenfiguren trifft. Auch die männlichen Figuren sind weniger Typen, sondern einfach Menschen mit verschiedenen Facetten. Mit dem Monitor gibt es quasi einen Antagonisten, doch das Gegeneinander geht in ein Miteinander über, in Gespräche und den Versuch, Verständnis aufzubauen, wobei Le Guin eindrucksvoll zeigt, wie schwer es ist, eine Ideologie, die sich tief ins Denken gefressen hat, zu überwinden.

Ursula K. Le Guin macht den Leser*innen in beiden Romanen – in „Das Wort für Welt ist Wald“ noch mit dem Holzhammer, in „Die Überlieferung“ subtiler – bewusst, wie stark eigene Lebenserfahrungen die Sichtweise prägen, wie leicht Missverständnisse entstehen bzw. dass Menschen manchmal so grundverschiedene Erfahrungen gemacht haben, dass sie einander gar nicht verstehen können. Und es oftmals auch nicht wollen, weil sie es sich in ihrem Weltbild so bequem gemacht haben oder sich in ihrer Selbstüberhöhung zu sehr gefallen. Wie Davidson, der sich für die Krone der Schöpfung hält und die Athscheaner als wertloses Ungeziefer betrachtet, der sie auch genau so sehen will, weil er so seinen Egoismus und seine Menschenfeindlichkeit rechtfertigt. Oder wie der Monitor in „Die Überlieferung“, der aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen verzweifelt an dem engen Weltbild des Konzernstaates festhält und letztlich überfordert damit ist, dass er im Unrecht lag.


Fazit

„Das Wort für Welt ist Wald“ und „Die Überlieferung“ in „Grenzwelten“ zusammen zu veröffentlichen, war eine sehr gute Entscheidung, da die Romane sich perfekt ergänzen und sich wie zwei Seiten derselben Medaille lesen. In beiden Geschichten bringt die Ankunft raumfahrender Menschen eine ganze Zivilisation durcheinander, doch während in „Das Wort für Welt ist Wald“ die Terraner als Kolonisten Gewalt und Zerstörung bringen, vernichten die Akaner in „Die Überlieferung“ ihre Kultur selbst.


Pro und Contra

+ anspruchsvolle Science Fiction
+ zwei ganz unterschiedliche und doch ähnliche Romane in einem Band
+ die athscheanische Kultur mit Traum- und Weltzeit
+ „Das Wort für Welt ist Wald“ ist aufwühlend und schmerzhaft
+ Sati als queere, weibliche Person of Color
+ ruhige, vielschichtige Erzählweise in „Die Überlieferung“
+ die alte akanische Kultur basiert auf Verbundenheit und Empathie
+ Reflektion kultureller Unterschiede und Gemeinsamkeiten
+ beide Texte wirken lange nach

- keine nennenswerten Frauenfiguren in „Das Wort für Welt ist Wald“

Wertungsterne5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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