Schildmaid - Das Lied der Skaldin (Judith und Christian Vogt)

Piper (Februar 2022)
Klappenbroschur, 448 Seiten, 16,00 EUR
ISBN: 978-3-492-70598-1

Genre: historische Fantasy / Viking-Age-Fantasy


Klappentext

Eine göttliche Stimme aus der tiefgrünen See.
Ein blaues Segel in einem Traum.
Und der Aufbruch zu einer Reise, von der es kein Zurück mehr gibt ...

Seit sieben Jahren baut die Einzelgängerin Eyvor ein Drachenboot in einem Fjord. Als sich immer mehr Außenseiterinnen um sie scharen, wird sie unerwartet zur Kapitänin eines Schiffes, das eigentlich niemals in See stechen sollte.

Die Letzte, die sich ihr anschließt, ist Herdis, das Krähenkind: Verfolgt von Berserkern zwingt sie die Gruppe zum Aufbruch. Es beginnt ein tödliches Wettrennen vom skandinavischen Festland bis ins Land der Eisriesen hinein, an dessen Ende nichts Geringeres droht als Ragnarök, das Weltenende selbst.


Rezension

Eyvor trauert nicht um ihren toten Mann, es kommt ihr gar vor, als sei sie nie verheiratet gewesen. Stattdessen träumt sie von einem Drachenboot und beginnt zunächst allein, dieses in einem abgelegenen Fjord zu bauen. Sie glaubt nicht, dass sie damit jemals zur See fahren wird, doch sie will den Traum, den ihr die Meeresgöttin Rán gezeigt hat, verwirklichen und ihr das Boot schenken. Bald erhält Eyvor Gesellschaft von Skaldin Tinna, die in der Kampfkunst ausgebildet ist, doch viel besser mit Worten kämpfen kann. Widerstrebend lässt sich Eyvor helfen und es folgen weitere Außenseiterinnen, die keinen Platz in der patriarchalen und von Gewalt geprägten Gesellschaft haben. So wie Skade, deren Mann ein Beserker ist, ein brutaler Krieger, der in rasender Eifersucht seine eigene Tochter töten will. Um sich und ihre Kinder zu schützen, flüchtet Skade vor ihm zu Eyvor, die sie zuerst wegschickt, dann aber schweigend akzeptiert, dass sie da ist. Als das Krähenkind Herdis, eine Erwählte Odins, samt Verfolgern im Nacken zu den schiffbauenden Frauen stößt, sind sie gezwungen, das Drachenboot zu Wasser zu lassen. Es beginnt eine phantastische Reise, die in den göttlichen Auftrag mündet, ins Land der Eisriesen zu fahren, um Ragnarök, das Ende der Welt, zu verhindern …

“Andere würden das Schiff einen unträumbaren Traum nennen. Aber Träume reichen tief, und niemand weiß genau, welche davon wahrhaft unträumbar sind und welche Teil unseres Urðr, des Schicksals.“ (Seite 9)

Eyvor nennt ihr Drachenboot „Skjaldmaer“ – „Schildmaid“. So manche der Frauen träumt davon, eine Kriegerin wie in den Sagas zu sein, doch in ihrer Wirklichkeit sind die keine amazonenhaften, schwertschwingenden Kriegerinnen, sondern ausgestoßene, unangepasste und gebrochene Frauen, die versuchen, sich ein eigenes, freieres Leben aufzubauen. Sie alle leiden auf andere Weise unter dem gewaltvollen Patriarchat, das Männer und Frauen in festgelegte Rollen drängt und jede Form von Abweichung bestraft. Statt täglich zu erfahren, was sie alles nicht können, sollen und dürfen, wollen sie ihr Schicksal selbst bestimmen, und die „Schildmaid“ bietet ihnen eine Gemeinschaft, in der das möglich ist. Dabei bleiben sie jedoch zunächst in patriarchalen Denkmustern verhaftet und wollen den Männern zeigen, dass sie das Gleiche wie sie können. Die Frauen gehen sogar auf Viking und werden zu einfallsreichen, aber auch brutalen Räuberinnen.

Zu ihren Verfolgern gehört Skades Mann, der sie zurück an seine Seite zwingen will – nicht, weil er sie liebt, sondern weil er um jeden Preis die Kontrolle über sie zurückerlangen will. Er gehört zu den Kriegern des siebten Langboots, die ebenfalls den göttlichen Auftrag erhalten, Ragnarök zu verhindern. Es beginnt ein Wettstreit, in dem die Frauen sich mehr schlecht als recht behaupten, viele Niederlagen verkraften und Spott und Häme ertragen müssen. Die Männer sind ihnen physisch überlegen, zudem haben sie jahrelange Erfahrung im Kampf und der Seefahrt, während von den Frauen nur wenige wirklich mit Waffen umgehen können. Doch sie nehmen die Herausforderung an, sehen in der Erfüllung ihres göttlichen Auftrages die einzige Chance, jemals ihre Fesseln abzustreifen. Doch im Verlauf der Handlung erkennen sie, dass es auch andere Wege gibt, und Judith und Christian Vogt überraschen mit einer gelungenen, nachdenklich stimmenden Wendung kurz vor dem nervenaufreibenden Finale.

Der größte Vorteil der Frauen ist, dass die Männer sie immer wieder unterschätzen, sie nicht ernst nehmen und ihnen ihre Fähigkeiten absprechen. Auch wenn keine mit der Kraft eines Berserkers mithalten kann, so bringt jede besondere Talente mit, die sie in den Dienst ihrer kleinen Gemeinschaft stellt. So ist Tinnas Zunge scharf wie ihr Schwert, Skade so störrisch und unnachgiebig, dass sie die „Schildmaid“ immer wieder auf Kurs bringt und das Krähenkind Herdis verfügt über Magie, die zwar Grenzen unterliegt, aber im entscheidenden Moment Leben rettet. Eyvor ist eine schweigsame Anführerin, die sich in dieser Rolle nicht wirklich wohlfühlt, aber von den anderen respektiert wird und ihnen Halt gibt. Als sie von Odin auserwählt wird, nimmt sie dies mit grimmiger Ruhe an. Später stößt die dänische Navigatorin Dineke zur Gruppe, die sich in ihre Rolle an königliche Sklavin bereits eingefügt hatte und Zeit braucht, um sich mit den Frauen der „Schildmaid“ zu identifizieren. Auch die Leser*innen brauchen dieses Mal etwas Zeit, um mit den Protagonist*innen warm zu werden, da die Frauen sehr schnell aufbrechen müssen und man sie erst nach und nach durch tiefergehende Gespräche und wichtige gemeinsame Momente besser kennenlernt.

„Schildmaid“ ist queerfeministische Fantasy und so sind an Bord des Drachenbootes nicht ausschließlich cis Frauen, sondern auch trans und genderfluide Figuren. Es gibt zwar diverse Streitigkeiten untereinander und der Ton ist oftmals rau, aber niemand stellt die Identität der anderen in Frage und der Respekt untereinander ist groß. Denn sie sitzen sprichwörtlich alle im gleichen Boot und sind aufeinander angewiesen. Konflikte beruhen oft auf Missverständnissen oder auch ihrer schwierigen und lebensbedrohlichen Lage, teils auch auf unterschiedlichen Meinungen und Weltanschauungen, doch meist gelingt es den Frauen, sich zusammenzuraufen. Im Verlauf der Handlung nähern sich manche einander an und so kommt man auch im Viking Age in den Genuss intimer Kontakte, die von Vertrauen und Konsens, aber auch von zärtlicher Unsicherheit geprägt sind - und von berührender Kreativität, wenn eine von beiden gehörlos ist. Manche muss auch mit Zurückweisung zurechtkommen und so manche verfällt gar dem Charme eines verführerischen Naturgeistes mit Kuhschwanz. Gelungen ist zudem die Einbindung von Skades Kindern, die Beziehungen zu verschiedenen Frauen aufbauen und so bald mehrere Mütter haben. 

Die Handlung schreitet zügig voran und lässt den Frauen und Leser*innen keine Zeit, durchzuatmen. Kaum sind sie dem skandinavischen Festland entkommen, treffen sie in Dänemark auf ihre Verfolger. Und auch die Götter meinen es nicht ausnahmslos gut mit ihnen. Während Rán die Frauen unterstützt, hilft ihr Bruder und Gatte Aegir den Männern. Auch sind Odins Absichten zweifelhaft und das Erwähltsein bekommt einen schalen Beigeschmack. Die nordische Sagen- und Götterwelt ist Grundlage der Fantasyelemente, die unter anderem ein nordisches Atlantis, magische Rituale, Krähen sowie Feuer- und Eisriesen beinhalten. Judith und Christian Vogt haben mit der Ausgestaltung des Settings wieder einmal viel Liebe fürs Detail bewiesen und so erblüht das Viking Age in all seiner phantastischen und blutigen Pracht. 

Im Anhang findet sich ein Glossar mit den wichtigsten altnordischen Begriffen und Göttern sowie Hinweise zu korrekten Aussprache. Im Nachwort gehen die Autor*innen etwas näher auf ihre Recherche zum Vikingzeitalter ein, das ein gewaltvolles Patriarchat inklusive brutalen Raubzügen und Sklaverei war, was im Roman sehr treffend umgesetzt wurde.

“Die größte, schrecklichste Macht, die es gibt, ist die Illusion, dass es nur eine mögliche Art und Weise gibt, wie wir leben können. Dass sie uns angeboren ist. Sie ist eine Lüge …“ (Seite 335)


Fazit

„Schildmaid – Das Lied der Skaldin“ ist queerfeministische Viking-Age-Fantasy, in der sich ein Drachenboot voller Frauen gegen das Patriarchat zur Wehr setzt. Hier gibt es keine strahlenden Held*innen und der Kampf um Selbstbestimmung und Freiheit ist brutal und blutig. Umso berührender ist das Zusammenwachsen der Schicksalsgemeinschaft, die in einem spektakulären Finale neue Wege entdeckt.


Pro und Contra

+ stimmungsvoll ausgearbeitetes Viking-Age-Setting
+ queerfeministische Fantasy, die dem Patriarchat den Kampf ansagt
+ facettenreiche Figuren
+ zahlreiche Konflikte inklusive guter Lösungen
+ rasant und actionreich erzählt
+ gewohnt gute Recherche und spannende Details
+ liebe- und respektvolle Intimität
+ gelungene, nachdenklich stimmende Wendung im Finale

o die Ungerechtigkeiten sind manchmal kaum zu ertragen

- Eyvor kommt als eine der wichtigsten Figuren zu kurz

Wertungsterne4.5

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Judith C. Vogt, Christian Vogt, Götter, Wikinger, nordische Mythologie, queere Figuren, nicht-binäre Autor*innen, progressive Phantastik, feministische Fantasy, Viking Age, trans Figuren