Das Buch der Augen (Swantje Niemann)

Edition Roter Drache (Oktober 2021)
Taschenbuch, 336 Seiten, 15,00 EUR
ISBN 978-3-96815-025-3

Genre: Urban Fantasy / Horror


Klappentext

Renia kehrt nach einem Studienabbruch nach Berlin zurück. Dort erwarten sie Einsamkeit, eine Handvoll Familiengeheimnisse und immer wieder die Bilder düsterer Parallelwelten, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleiten. Langsam beginnt Renia daran zu zweifeln, dass es sich nur um Einbildung handelt.

Was, wenn die vermeintlich imaginären Monster real sind? Was, wenn wirklich eines davon Jagd auf sie macht? Und kann Renia um ihr Überleben kämpfen, wenn ein Teil von ihr nicht überleben will?


Rezension

Mehr oder weniger unfreiwillig musste Renia ihr Studium abbrechen und kehrt nun nach Berlin zurück. Hinter ihr liegen eine gescheiterte Beziehung und Zukunftspläne, die sich nicht mehr richtig anfühlen. Doch es sind nicht nur Unsicherheit und Einsamkeit, die Renia belasten, es ist vor allem die bedrohliche Rote Welt, die sie manchmal wie eine zweite Realität sieht – und flüstern hört. Auf der Suche nach einer Unterkunft trifft sie überraschend auf ihre Tante, die eine Wohnung für sie hat. Als Gegenleistung wünscht sie, dass Renia ihre Biografie schreibt. Eigentlich ein einfacher Job, doch was die Tante erzählt, bestätigt Renias schlimmste Alpträume. Die Rote Welt und ihre Dämonen scheinen real zu sein und es gibt noch mehr Menschen, die sie sehen können. Als sich ein Dämon an Renias Fersen heftet, findet sie Hilfe bei Dämonenjägern. Doch damit ist der Alptraum keineswegs zu Ende – er fängt gerade erst an …

„Das Buch der Augen“ ist der sehr persönliche Horror der Protagonistin, die oberflächlich allen Schrecken mit einem Schulterzucken und mildem Sarkasmus begegnet und dabei innerlich zerbricht. Auch Renias Vater und ihre Schwester konnten die Rote Welt sehen, doch sie haben sich entschieden, ihre Existenz abzustreiten und die Dämonen als Familienhalluzination zu betrachten. Renia dagegen zweifelt zunehmend daran, dass das, was sie sieht und hört, nur Einbildung ist. Einerseits will sie unbedingt mehr über die Rote Welt erfahren und saugt jede Information, die ihre Tante ihr offenbart, gierig auf. Andererseits scheut sie davor zurück, die Dämonen als real zu akzeptieren, denn wie soll sie im Angesicht dieses Horrors ihr Leben fortführen? Oder gar eine neue Beziehung anfangen? Es gibt da zwar eine Frau, die Renia sehr gefällt und die auch Interesse an ihr hat, doch die dramatischen Entwicklungen lassen keine unbeschwerte Verliebtheit zu.

Neben dem phantastischen Grauen, das seine Klauen nach Renia ausstreckt, ist sie selbst ihr größter Feind. Während ihr Leben zunehmend ihrer Kontrolle entgleitet, holt sie sich diese zurück, indem sie viel Sport treibt und ihr Essen abwiegt. Was anfangs noch aussieht, als würde sie es mit einem vermeintlich gesunden Lifestyle übertreiben, ist bald als Anorexie zu erkennen. Renia überlegt, mit wie wenig Essen sie auskommen kann und findet Gefallen daran, hungrig und knochig zu sein. Dennoch schämt sie sich, vor anderen zu essen, weil ihr ihr Problem durchaus bewusst ist. Gleichzeitig leugnet sie es. Je dünner sie wird, umso attraktiver wird sie für ihren Dämon, der von ihrem inneren Schmerz angezogen wird und dessen Flüstern oft wie das gemeine Flüstern ihrer Krankheit klingt. Swantje Niemann beschreibt Renias Krankheit glaubhaft und intensiv und greift dabei, wie sie im Nachwort schreibt, auf eigene Erfahrungen zurück.

Die Dämonenjäger in „Das Buch der Augen“ sind ein bunter Haufen normaler Menschen, die alle mehr oder weniger die Rote Welt oder auch die Grauzone, eine Art Zwischenreich zwischen der Menschen- und Dämonenwelt, sehen können. Die meisten von ihnen kämpfen nicht, weil sie es wollen, sondern weil sie es müssen, um zu überleben. Zwischen Renia und den Jägern entstehen Freundschaften, doch es fällt ihr schwer, sich auf andere Menschen einzulassen. Allerdings geben ihr die Jäger auch Halt, weil sie nicht mehr allein mit ihrem Alptraum ist und weil sie den Dämonen nicht schutzlos ausgeliefert ist. Die sogenannten „Elstern“ horten Waffen und militärische Ausrüstung, um sich gegen die Bedrohung zur Wehr setzen zu können, was ihnen teils erstaunlich gut gelingt. Doch letztlich sind die meisten keine Soldaten oder magischen Kämpfer, sondern einfache Leute, die dem Horror voller Angst entgegentreten.

Die Dämonen aus der Roten Welt erinnern mit ihrem grotesken Aussehen an Lovecraft-Monster. Es gibt vielfältige Varianten von ihnen, die von den Elstern wissenschaftlich erforscht werden. Doch alle sind grauenerregende Kreaturen, denen man meist nur mit schwerem Kriegsgerät beikommt. Swantje Niemann findet dabei das richtige Maß zwischen schaurigen Beschreibungen und vagen Eindrücken, die umso bedrohlicher wirken – insbesondere wenn Renias Dämon ihr zuflüstert. Während die meisten Menschen nichts von den Dämonen und ihrer grotesken Welt wissen, heften sich die schrecklichen Kreaturen vor allem an Personen mit psychischen Krankheiten und negativen Emotionen. Die, die ohnehin genug leiden, schweben damit in größter Gefahr.

„Das Buch der Augen“ liest sich trotz phantastischer Alptraumwesen recht realistisch. Hier gibt es keine strahlenden Held*innen, die Dämonen niedermetzeln und dabei auch noch gut aussehen – und ein Happy End mit ihrem Love Interest bekommen. Swantje Niemanns Figuren sind abgekämpft, sie hadern mit ihrem Schicksal und nehmen es dennoch als unausweichlich hin. Denn das Wissen um die Schrecken der Roten Welt lässt sich nicht mehr verdrängen, wenn man erst einmal weiß, dass sie real ist. Dennoch gibt es auch schöne und lustige Momente, ohne die die meisten wohl keine Kraft mehr hätten, weiterzumachen. Auch Renia kann noch lachen, wobei ihr Humor bitterschwarz ist. Ihre Erzählstimme macht „Das Buch der Augen“ zu einem besonderen Leseerlebnis, das oft schmerzhaft, erschreckend, aber trotzdem auch hoffnungsvoll ist. Denn letztlich ist der Kampf gegen die Dämonen auch ein Kampf für eine bessere Zukunft.


Fazit

„Das Buch der Augen“ ist ein reizvoller Mix aus Urban Fantasy und Horror, der unter die Haut geht. Renias Kampf gegen Dämonen ist vor allem auch ein Kampf gegen ihre ganz persönlichen Schrecken – und so finden sich in der finsteren Story immer wieder leise Momente der Hoffnung und zwischenmenschlichen Wärme.


Pro und Contra

+ Renias kluge und ironische Erzählstimme
+ grauenerregende Dämonen
+ die schaurig-schöne Grauzone und die Rote Welt
+ Urban Fantasy mit deutschem Setting in Berlin
+ spannende Nebenfiguren mit Makeln
+ eindrückliche und sensible Darstellung der Anorexie
+ sanfte, von Problemen beschattete (queere) Lovestory

- zu wenig tiefergehende Informationen über die Dämonenwelt und die Grauzone

Wertungsterne4.5

Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 5/5
Preis/Leistung: 4/5


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Tags: Swantje Niemann, Urban Fantasy, Dämonen, queere Figuren, progressive Phantastik, Berlin